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Terror in Brüssel: Die richtige Antwort finden

Sarah Wetzlmayr

Terror in Brüssel

DIE RICHTIGE ANTWORT FINDEN

Gerade im Angesicht von grausamen Terrorattacken wie jener in Brüssel steigt der Drang zur Radikalisierung. Umso mehr sollte man sich vor Augen halten, wie wichtig Internationale Organisationen sind. Und wie brutal die Welt vor UNO, OSZE oder auch, der EU war.

Text: Harald Havas

Die Welt im Jahr 2016: Terror in Brüssel, Paris, Istanbul. Syrien zerrissen in einem erbarmungslosen Kampf der Fraktionen mit allen Mitteln! Irak hilflos dem Terrorregime des IS aus- geliefert! Grausame Attacken anderer Islamisten im Zentrum Afrikas! Ein fragiler Waffenstillstand im Bürgerkrieg in der Ukraine! Der Jemen …! Einfach schrecklich! Leben wir nicht in einer kriegerischen, brutalen,mörderischen Zeit! Ehrliche Antwort? Eigentlich nicht. In Echt jetzt. Ohne es hier an Mitgefühl allen Kriegstoten, Angehörigen, Vertriebenen und Flüchtenden gegenüber mangeln zu lassen, die aktuelle Bedrohungslage der Welt ist ein Lercherlschas, Pipifax, Peanuts gegenüber dem, wie es früher zugegangen ist. Denn die relativ kurze Liste am Anfang – ist auch schon die gesamte Liste. Abgesehen vielleicht von dem einen oder anderen Rebellenaufstand und Grenzkonflikt, aber im Großen und Ganzen ist es das. Und das ist wirklich nichts im Vergleich zu den kriegerischen Auseinandersetzungen der vergangenen Jahrzehnte und Jahrhunderte. Immer neuen Horror-Schlagzeilen der Boulevardpresse ausgesetzt, bombardiert mit grausamen Bildern im Fernsehen und verstörenden Memes im Internet entsteht natürlich leicht der Eindruck von Tod und Verwüstung allenthalben. Tatsächlich handelt es sich hier um teilweise bewusste, teilweise unbewusste Manipulation. Die Zeitungen wollen verkauft werden, die Sender wollen eingeschaltet werden und im Internet buhlen sowieso Hinz und Kunz und deren Schwester um Aufmerksamkeit. Daneben gibt es auch noch die bedenklich ernsthafteren Interessen diverser radikaler Kräfte, die Stimmung im Volk zu destabilisieren und es mit Schreckensmeldungen gefügig zu machen. Und es klappt. Denn ehrlich, Leute: Wo Schrecken und Horror gezeigt werden, sehen wir hin. Wie beim sprichwörtlichen Verkehrsunfall, bei dem man nicht wegschauen kann. Das ist auch ganz klar, evolutionsbiologisch sind wir stupide darauf programmiert, Gefahren zu erken- nen und darauf zu reagieren. Kampf oder Flucht. Immer dasselbe. Dabei ist es relativ egal, ob uns tatsächlich ein Gegner mit einem Messer gegen- übersteht oder wir eine Schlagzeile über Grau- samkeiten am anderen Ende der Welt lesen. Unbewusst reagieren wir immer gleich. Gleich empathisch, gleich panisch. Und geben uns mit mehr oder weniger Angstlust dem Schauder und Ekel des Tages hin.

Die nackten Zahlen

Die nackten Zahlen sprechen aber eine ganz andere Sprache. Tatsächlich leben wir in einer der friedlichsten Epochen der Weltgeschichte, wenn nicht sogar der friedlichsten überhaupt. Gewaltverbrechen, sowohl in kriegerischen Außenhandelssetzungen als auch in banaler Straßenkriminalität oder persönlichen Auseinandersetzungen, gehen im Vergleich zu früheren Zeiten ständig zurück. Zwar ist das kein linearer Prozess – man erinnere sich nur an solch geschmackvolle Kleinigkeiten wie den Zweiten Weltkrieg, die chinesische Kulturrevolution, die Roten Khmer in Kambodscha, 9/11 oder die zwei Irak-Kriege –, verfolgt man aber die generelle Linie abseits dieser Ausreißer, leben wir geradezu in der besten aller möglichen Welten. Und auch wenn wir uns beim Gassigehen von islamistischen Terroristen bedroht fühlen, die Gefahr, in Europa einem Terroranschlag zum Opfer zu fallen, war noch in den 1970er-Jahren wesentlich größer als heute! Die baskische ETA, die irische IRA, Palästinenser, die deutsche RAF oder die Bomber aus und in Südtirol, an allen Ecken und Enden rummste und wummste es. Und sogar wenn man den relativ großen Anschlag vor Kurzem in Paris mit einrechnet, ist die Anzahl der Toten durch Terror in Europa in den letzten Jahren deutlich geringer, als dies noch vor ein paar Jahrzehnten der Fall war. Und Kriege? Vor dem Ersten Weltkrieg gab es überhaupt keine Zeit, in der nicht irgendeine der europäischen oder internationalen Großmächte mit irgendeiner anderen im Krieg war. Weltweit wurde außerdem erobert, unterdrückt und gemordet. Sklavenhandel, Niederschlagung von lokalen Bevölkerungen, regionale Kriege zwischen Stämmen und Staaten … eine friedliche gute alte Zeit gab es einfach nicht. Ja, klar, auch nach dem Zweiten Weltkrieg kam es noch zu einigen alles andere als vernachlässig- baren kriegerischen Konflikten. Vietnam, Korea. Stellvertreterkriege unter Diktaturen in Südamerika. Aber seitdem und vor allem seit dem Fall des Eisernen Vorhangs, immerhin auch schon über 20 Jahre her, herrscht in Europa der totale Friede. Also zumindest in der EU, denn da war doch noch was in Jugoslawien, wir erinnern uns. Und das ist der eigentliche Punkt: Wo früher isolierte Nationalstaaten mehr oder weniger planlosaufeinander losschlugen, meist in der Hoffnung, Land oder andere Schätze zu ergattern, hätte heute aufgrund der internationalen und wirtschaftlichen Verpflichtungen niemand etwas in einem großen Krieg zu gewinnen. (Sogar die Waffenproduzenten verdienen mehr am Gleichgewicht des Schreckens als durch den Einsatz ihrer Produkte.) Diesem Umstand ist unsere – und noch einmal, trotz Flüchtlingskrise und IS-Terror – heutige friedliche und sichere Welt zu verdanken. Dem und der unermüdlichen Tätigkeit eines Heeres von unscheinbaren kleinen grauen Männlein. Nein, keine Heinzelmännchen. Sondern Diplomaten. Und EU-Beamte. OSZE-Beauftragte. Und UNO- Mitarbeiter.

Übersehenes Heldentum

Es ist einfach, das Heldentum dieser Menschen zu übersehen. Aber tatsächlich haben sie in den letzten Jahrzehnten vielen Millionen Menschen das Leben gerettet. Das ist halt nur schwerer zu beziffern als der finale Bodycount bei tatsächlich stattgefundenen Konflikten. Ja, die EU selbst verdankt ihre Gründung einer friedenserhaltenden Maßnahme: Jahrhundertelang waren sich Deutsch- land und Frankreich regelmäßig gegenseitig an die Gurgel gegangen. Einmal der eine dem anderen, dann wieder umgekehrt. Erbfeinde halt. Blutrache, der ganze Schmus. Erst die sogenannte Montanunion (EGKS) im Jahr 1951, die Urmutter des vereinten Europa, mit ihrer Festlegung von wirtschaftlichen und später auch kulturellen Vernetzungen, konnte diesen Teufelskreis durchbrechen. Denn die EU ist ein Friedensprojekt, auch wenn man gerade jetzt davon nicht allzu viel merkt. Ja, sie hat dafür sogar 2012 den Friedensnobelpreis bekommen. Und bei aller Skepsis und allen Problemen, ehrlich verdient. Denn sogar jetzt, in Zeiten von Konflikten und Krisen innerhalb der Union, ist eine tatsächliche kriegerische Auseinandersetzung unter den Mitgliedstaaten auch dank der OSZE doch völlig undenkbar. Und dann die UNO. Nichts leichter, als sich über diese Institution lustig zu machen. Irgendein ei- genartiger Generalsekretär jettet durch die Welt und ruft „Friede, Friede!“ irgendwelchen Kon- fliktparteien zu, die sich mehr oder weniger einen Dreck drum scheren. Und dann die Missions-Namen: UNOPSIL, MINURSO, UNDOF – haha. Viel mehr hört man nicht, außer wenn irgend- welche Blauhelme sich wieder mal sexuell an der lokalen Jugend vergehen. Tatsächlich ist die UNO aber seit ihrer Gründung das erfolgreichste Projekt zum Erhalt des Friedens ever. 57 abgeschlossene und 19 aktuell laufende Missionen hielten und halten Länder und Regionen weltweit davon ab, sich mit immer moderneren und immer brutaleren Waffen gegenseitig auszulöschen. Aber wie gesagt, Nicht-Kriege sind kaum berichtenswert, Nicht- Kämpfe interessieren keinen und Nicht-Tote machen keine Schlagzeilen. Natürlich sind die Jungs und Mädels von der UNO auch keine Wunder- wuzzis. Erfolg und Misserfolg gehen oft Hand in Hand. Ein Beispiel: Die am längsten laufende, noch aktive UNO-Mission ist die sogenannte UNMOGIP in Kaschmir an der Grenze zwischen Indien und Pakistan. Dort stehen seit sage und schreibe 67(!) Jahren, genauer gesagt seit 1949, UNO-Truppen, um einen Krieg zwischen den beiden großen, vormals vereinten Atommächten zu verhindern. Nicht ganz erfolgreich, da es seitdem durchaus noch mehrere Konflikte, ja, kleinere Kriege in der Grenzregion gegeben hat. Aber es lässt sich kaum sagen, was nicht noch alles passiert wäre, würden die UNO-Truppen dort nicht stehen! Jeder Konflikt um eine Ziege der Bauern links und rechts der Grenze könnte sofort zu neuen Spannungen und einem neuen Aufflammen der Kämpfe führen. Wie viele solche Brandherde wurden dort von den Soldaten über die Jahrzehnte gelöscht? Wir wissen es nicht. Es sind unbesungene Heldentaten, langweilige Nicht-Kriegsgeschichten, bestehend aus viel Gequassel und Geduld – aber tatsächlich die Pfeiler des heutigen Weltfriedens. Ähnlich die UNO-Truppen auf den Golanhöhen. Von einem Frieden zwischen Israel und seinen Nachbarn kann man nun wirklich nicht sprechen. Aber ohne diese Truppen und internationale Beobachter sowie die internationale Diplomatie wären – wie es sich manche Nachbarländer wünschen – schon längst „alle Juden ins Meer getrieben“ worden. Oder Israel hätte seine nicht wirklich geheime Atommacht ausgespielt und Millionen Araber ringsum weggebombt. Tatsächlich kann man sich den Segen, den internationale Organisationen der Welt gebracht haben, nur dadurch vergegen- wärtigen, dass man sich die Alternative vorstellt. Nämlich das weltweit ungehinderte Drauflosdreschen fanatisierter Völker unter demagogischen Führern.

Es geht hier nicht um positives Denken und Naivität. Natürlich kann noch immer durch Unachtsamkeit oder bösen Willen ein Flächenbrand entstehen und die Welt in den Dritten Weltkrieg führen. Nur wird das zunehmend unwahrscheinlich. Auch wenn der russische Bär wieder ein bissi brummt, ist das nichts im Vergleich zu der Angst „vor den Russen“, mit der jeder in Österreich über 40 einen großen Teil seines Lebens verbracht hat. Auch wenn viele islamische Länder wie Saudi-Arabien oder der Iran erhebliches Konfliktpotenzial bieten, eine totale Eskalation ist unwahrscheinlich. Auch die Chinesen sind heutzutage eher, wenn überhaupt, durch ihre ständig wachsende Kaufkraft und ihre Fähigkeit, trotz angeblich noch immer bestehender kommunistischer Ordnung den Kapitalismus besser zu beherrschen als so mancher westliche Staat, eine Gefahr. Sicher, es ist nicht alles super, sicher, die Schere zwischen Reich und Arm ist immer noch gewaltig und wachsend, sicher, wir alle werden durch Konzerninteressen manipuliert und gesteuert. Aber noch nie war – nicht nur in Europa, aber besonders hier – die Chance so groß wie heute, friedlich und bis zuletzt fit in unfassbar hohem Alter zu sterben, ohne zu Lebzeiten je persönlich irgendeine Form von körperlicher Gewalt erlebt zu haben! Es sind halt nicht die Filmhelden, Spione, charismatischen Rebellen oder auch Regierungspolitiker, die das alles zusammenhalten. Es sind die faden Typen und Typinnen in ihren faden Anzügen und faden Bluse-Rock-Kombinationen. Und ein paar Friedenstruppen ohne Schießbefehl. Also, danke, UNO. Danke, OSZE. Danke, EU. Muss auch einmal gesagt werden.

Illustration: Oliver Weiss