AKUT

Der Wahlbeauftragte

Sandra Keplinger

Text: Manfred Rebhandl

Zwei Tage vor unserem Gespräch dachte er sich frühmorgens: Na was soll´s! Zieh ich heute das fliederfarbene Hemd an, das schon so lange bei mir herum liegt, was kann denn passieren?

Passiert ist, dass er an diesem Tag gleich zweimal dem ORF-Rede und Antwort stehen musste, und am Abend danach schwor er sich: Nie wieder ziehe ich unüberlegt meine Kleidung an!

Als wir uns im Café Hummel treffen, mitten in der noblen Josefstadt, trägt Christoph Hofinger ein legeres Hemd zum grauen Hoodie. Gleich um die Ecke, am Bennoplatz, liegen die Büros seines Meinungsforschungsinstitut SORA, mit dem er und sein Partner Günter Ogris seit über 20 Jahren die heimische Wahlberichterstattung begleiten und – worauf er stolz ist – in den letzten Jahren auch prägten.

Hofinger bestellt Menü, das Smartphone liegt neben der Gabel und leuchtet ständig. Er geht aber nie ran, denn er ist ausgesprochen höflich. Trotz seiner häufigen Präsenz im Fernsehen, egal in welchem Hemd, scheint er sich nicht übermäßig wichtig zu nehmen, auch seinen sympathischen Tiroler Speckknödelakzent hat er nie abgelegt.

Irgendwann im Jahre 1967 gab es einen Tiroler mehr, und die Hofinger Eltern nannten ihn Christoph, das Mag., das aus dem ORF-Insert nicht mehr wegzudenken ist, kam erst 1991 dazu. Er wuchs in einem politischen, aber nicht parteipolitischen Haushalt auf. Zündhölzer von Innsbrucks Bürgermeister Luggers Präsidentschafts-Kampagne aus dem Jahre 1974 hat er aber wie jeder ordentliche Tiroler noch immer zuhause.

Wichtiger als schwarze Tiroler Landeshauptleute und Bürgermeister war für ihn die Volksabstimmung über Zwentendorf. Die damit einhergehende ORF-Berichterstattung samt Professor Gerhart Bruckmann mit seinen dicken Brillen und den Magnetbändern im Hintergrund war vielleicht sogar entscheidend für seinen beruflichen Werdegang. Das Ergebnis der Zwentendorf-Abstimmung war für einen angehenden Meinungsforscher nämlich „ein Traum“, schwärmt Hofinger noch heute davon. Es ging praktisch Unentschieden aus, und die knappe, aber bittere Niederlage für Bruno Kreisky hatte damals niemand vorhergesehen.

In diesen Tagen hatte Hofinger bereits einen Comodore 64 Computer zu Hause stehen und programmierte darauf Spiele. Er liebte Zahlenmodelle, und der Berufsberatungstest empfahl für ihn richtigerweise: „Mach was mit Mathe!“

Mit Retro-Technik arbeitet er noch heute – die SORA-Hochrechnung läuft in MS-DOS- , und seine Faszination für Demokratie blieb ihm auch. Im Gespräch sagt er darüber Sätze wie: „Wahlen sind geil. Sie sind schön und wertvoll.“

Bis er zu dem werden konnte, der er heute ist, dauerte es allerdings noch ein paar Jahre, denn sein Hirn war „im Auf- und Umbau begriffen war“, wie er das nennt. Hofinger spielte lieber Gitarre – eine türkisblaue Strat-Kopie von Cimar (später Ibanez) gehört zu seiner Sammlung   und inskribierte Germanistik, als er 1985 nach Wien kam, er nennt das „die zweite Seite“ in ihm. Den legendären Professor Wendelin Schmidt-Dengler hat er noch in lebhafter Erinnerung, mit ihm teilte er die Leidenschaft für Fußball.

Als er 1990 begann, für den Falter zu schreiben, setzte er sein erstes Bein ins „prekäre Umfeld Journalismus“, so seine im Rückblick entspannte Sicht auf die Schreiberei, aber oft wartete er damals ein halbes Jahr auf sein Geld. Schon 1992 wollte der Falter dann ein Interview von ihm mit Jörg Haider nicht drucken, also hörte er wieder auf. Beim FC Falter spielte er aber noch 20 Jahre lang Fußball, seine Mannschaftskollegen hießen Klaus Stimeder (späterer Datum-Gründer) oder Kurt „Bad Fucking“ Palm. Als Mittelfeldmotor rackerte Comedy-King  Dirk Stermann.

Hofinger wechselte vom Journalismus ins „zweite prekäre Fach Sozialwissenschaften“ ans IHS, dem Institut Höhere Studien, wo er von 1992-94 als Scholar tätig war. Dort meuterte er sogleich gegen den Statistik-Lehrer, der in seinen Augen „bemüht, aber pädagogisch nicht tragbar“ war. Man brauchte also einen neuen, und ihm fiel Günther Ogris ein, den er vom IFES her kannte. Zu seinem neuen Statistik-Prof sagte Hofinger: „Wenn du jemals eine Wahl hochrechnen solltest, dann sag es mir!“

Zwei Wochen später standen in Österreich ein paar Landtagswahlen auf dem Programm, und Ogris funkte an Hofinger: Das machen wir! Sie boten dem ORF ihre Dienste an, aber am Anfang lief es nicht nach Plan. Bei der Nationalratswahl 1994 tauchte in den Ergebnissen der Behörde eine steirische Gemeinde auf, die es gar nicht gab. Die Modelle schlugen aus, „es war extrem peinlich.“ Der Vollblut-Journalist Generalintendant Gerd „Tiger“ Bacher kam ins Studio, was zu einiger Panik führte, aber er streckte nur seine Hand aus und sagte: „Total spannend! Gratulation.“

Dennoch musste SORA zunächst in der zweiten Division (1995 für den ORF die steirische Landtagswahl) hochrechnen, den Wiederaufstieg in die Topliga der Wahlberichterstatter schafften Ogris und Hofinger bei der Bundespräsidentenwahl 1998. Seitdem haben sie jeden Landes- und Bundeswahlgang für öffentlich-rechtlich – und genau – hochgerechnet.

Mit Ende 20 war sein Hirn dann endlich fertig, sagt er. Es war alles am richtigen Platz, und die Vorliebe für Zahlen schwamm endlich oben auf, drückte den Sinn für Romantik aber nicht ganz nach unten. Mit Ogris gründete er SORA, und er lernte seine Frau, eine Amerikanerin, kennen, sie haben gemeinsam zwei Töchter.

Im Sommer fliegt Hofinger nun meist zu den Schwiegereltern, die in Pacific Palisades, L.A., wohnen. Wenn er dort joggen geht, läuft er am Thomas Mann Haus vorbei.

Am Präsidentenwahlsonntag wird er durch Ottakring joggen, bevor er zum Küniglberg hinauf fährt. An die 75 Wahlen hat er dort oben schon geschlagen, und wie alles, so änderten sich in den zurückliegenden Jahren auch Wahlverhalten und Wahlberichterstattung rasant.

„Früher, zu Kreiskys Zeiten“, erzählt er, „lagen zwischen zwei Wahlsonntagen vier Jahre, und eine Veränderung des Wählerverhaltens war im Bereich von plus minus 0,5 % zu messen. Heute entscheiden sich bei Wahlen nur noch 40 % gleich wie bei der vorhergehenden.“

Und auch die mediale Aufbereitung von Wahlen war früher deutlich ruhiger: „Noch vor zehn Jahren war es doch so: Am Sonntag wurde gewählt. Am Montag sprach ein verschlafener Wahlforscher im Fernsehen. Und was die Geschichte der Wahl war, wer wen warum schon oder nicht mehr gewählt hatte, das wußte und besprach man dann erst am Dienstag.“

Seither gibt es Twitter, Facebook und Youtube, auf dem sich sogar ältere Herren wie Andreas Khol und Van der Bellen versuchen, mit unterschiedlichem Erfolg. Lustig machen muss man sich darüber aber nicht, findet Hofinger, er hat ausnahmslos vor jedem Poltiiker höchsten Respekt. Dass die alle deppert oder gar korrupt wären, das kann er nach jahrzehntelangem, engem Kontakt mit ihnen jedenfalls nicht bestätigen.

„Wahlen und Hochrrechnungen im Österreichischen Fernsehen sind heute eine Show, ein Hochachmt der Demokratie“, sagt Hofinger, und sein Ehrgeiz besteht darin, den Leuten gleich am Wahltag Futter zu geben für ihre Gespräche.

Zwei Tage vor dem Wahltag legt er sich Anzug und Hemd (nicht fliederfarben!) zurecht, um im Fernsehen gut auszusehen. Die Frage nach der richtigen Hemdfarbe darf ihn in dieser Zeit nicht mehr ablenken, er ist fokussiert wie ein Sportler, befindet sich „im Tunnel.“ Er hat dann nur noch Zahlen im Kopf, Wahlsprengel, Rechenmodelle, und den „Code“, den er zusammen mit Evelyn Hacker und Günter Ogris von SORA erarbeitet hat. Ihr Hochrechnungsmodell.

Am Wahlsonntag, 24. April, wird er sich nach dem frühmorgendlichen Joggen gegen 11.30 Uhr mit den Kollegen im ORF treffen, dann hat er 3 x 100 Gramm Nusschokolade mit dabei, die er sich für später aufhebt. Zunächst geht er in die Kantine essen, das Menü dort liefert die Unterlage für einen anstrengenden, langen Tag. Die Stimmung ist noch entspannt. Peter Filzmaier kommt dazu, er ist seit 2008 Partner an Wahltagen, und dann die Moderatoren. Die Zeit der Primadonnen im ORF („H.F. Mayer!“) „ist Gott sei Dank vorbei. Der ORF will public value schaffen“, sagt Hofinger, und er ist mittlerweile vertrauter Teil davon. „Es geht darum, dass die Ergebnisse stimmen, und nicht um Gschisti Gschasti.“

Schätzgemeinden wurden ausgewählt, was, wie er versichert, schon eine hohe Anforderung ist. Ab spätem Nachmittag trudeln die ersten Ergebnisse ein, die Programme werden gefüttert. Er ist dabei wie in Trance, sein Hirn schaltete nahezu alles aus, bis auf das eigene Rechenzentrum. Er darf sich nicht ablenken lassen, ignoriert Zupfer an seinem Sakko, Zurufer, die „Weißt schon was?“ fragen. „Ein jenseitiger Zustand.“

„Anfangs ist das reine Kakophonie. Es ist wie im Konzertsaal Minuten vor Beginn, wenn alle ihre Instrutmente stimmen. Und dann gibt es plötzlich den Moment, wo alle nochmal das A spielen, und dann fängt es an.“

Umgelegt auf ihn, den Hochrechner, bedeutete das: Das Zusammenspiel mit Ogris und Hacker muss passen, die Kommunikation zwischen den dreien ist extrem wichtig. Gemeinsam müssen sie möglichst bald verstehen, „was bei der Wahl passiert ist. Sieg, Niederlage, Erdrutsch?“ Das ist der Moment, der ihn glücklich macht, für den er arbeitet.

Erklingt der Jingle, schießt das Adrenalin ein. Die erste Hochrechnung ist entspannend,  bei der zweiten – sofern sie die erste bestätigt -, ist er gelöst, die Last fällt von ihm ab.

Vom Naturell her ist Hofinger keine Rampensau. Bevor er zum ersten Mal im Fernsehen auftrat, war sein bis dahin größter Auftritt in einem Bierzelt, er spielte Gitarre in einer Jazzrock-Band. Als Jugendlicher starb er tausend Tode, wenn er ein Referat halten musste, aber nun redet er immer vor 1,5 Mio. Zuschauern.

Am Tag nach der Wahl sagen ein paar davon zu seinen Kindern in der Schule ausnahmslos den gleichen Satz: „Ich habe deinen Papa im Fernsehen gesehen!“ Das ist für ihn mittlerweile so selbstverständlich wie die wohlwollende Kritik seiner Frau. Auch ohne Zahlenmodelle versteht er mittlerweile, was sie meint, wenn sie „Das war nicht dein bester Auftritt“ sagt.

Aber diese Worte hat er schon lange nicht mehr gehört.