AKUT

Der Super-GAU der Menschheitsgeschichte

Willkommen in der Todeszone

Tschernobyl steht für den Super-GAU der Menschheitsgeschichte. Heute tummeln sich dort Thrill-Touristen aus aller Welt – und das obwohl die Gefahren längst nicht gebannt sind.

Text: Thomas Bruckner

Prolog

Als nach einem Sicherheitsexperiment am 26. April 1986 um 1:24 Uhr eine Explosion im Inneren von Block 4 die 1.200 Tonnen schwere Betonplatte des Reaktors in die Höhe stieß und dabei das Reaktordach des AKW Tschernobyl zerfetzte, hatte die Welt ihren ersten Super-GAU. Radioaktive Substanzen wurden in eine Höhe von bis zu 1,5 km geschleudert, kontaminierte Wolken zogen in alle Himmelsrichtungen, vorwiegend aber Richtung Europa. Heute weiß man, dass es weltweit keinen Ort gibt, den die radioaktiven Wolken aus Tschernobyl nicht erreicht haben. In der lediglich 3 km vom Kraftwerk entfernten 50.000 Einwohner zählenden Stadt Prypjat lag der Strahlenwert um ein Tausendfaches über dem Normalwert. In den folgenden Tagen musste die gesamte Bevölkerung im Umkreis von 30 km um den Reaktor evakuiert werden. Den Einwohnern war es lediglich erlaubt, das Notwendigste mitzunehmen. „In drei Tagen könnt ihr wieder zurück“, hieß es. Natürlich war das eine Lüge. Seit damals durfte niemand ohne spezielle Genehmigung das Gebiet betreten. Das gesamte Areal ist streng bewacht und in Zonen unterteilt. An Checkpoints kontrollieren bewaffnete Soldaten die Papiere der Besucher. Die Gefahren, die von Tschernobyl ausgehen, sind auch heute noch nicht aus der Welt. Der notdürftig kreierte Sarkophag zerbröselt, regelmäßig wird durch Waldbrände Radioaktivität freigesetzt, keine 5oo km entfernt vom Unglücksort tobt ein Krieg und auch als Terrorziel hat Tschernobyl seinen Reiz. So wie neuerdings auch für Touristen. Mittlerweile bieten findige Agenturen Touren zum Unglücksreaktor an. 280 Euro kostet ein Zweitagesausflug, die Miete des Geigerzählers inbegriffen.

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Tschernobyl war wohl auch schon vor dem Super-GAU ein Kaff. Wenn ich so durch die verlassenen Straßen laufe, die damals begehrtesten Regionen hinauf und hinunter, und die ringsum in den Wäldern verfallenden Häuser betrachte, kommt mir genau das in den Sinn. Selbst wenn meine Fantasie den leeren, aufgerissenen Straßen außergewöhnliche Fahrzeuge und all den verwitterten Gemäuern die prachtvollsten Fassaden schenkt; ja, auch dann noch, wenn die vorherrschende entsetzliche Stille einer angenehm menschlichen Geräuschkulisse weichen würde, wenn ich also, schlicht gesagt, Tschernobyl das bestmögliche Leben einhauchen könnte, es würde nichts än­dern: Tschernobyl war, ist und wird wohl bis in alle Ewigkeit ein Kaff bleiben. Da bin ich mir sicher. Aber ein geschichtsträch­ tiges und weltberühmtes, das schon. Und ein bedrohliches. Ich fühle mich jedenfalls seltsam hier in Tschernobyl, 30 Jahre nach dem GAU. Ständig meine ich, einen metal­lenen Geschmack im Mund zu schmecken. Aber das ist wohl Einbildung. Tschernobyl liegt zwar innerhalb des Sperrgebiets, aber außerhalb der Todeszone und gilt offiziellen Angaben zufolge als relativ unbedenklich. Trotzdem ziehe ich wieder und wieder den Geigerzähler aus meiner Jackentasche, halte ihn Richtung Norden, wo ich den Reaktor vermute. 15 Mikro­sieverts blinken vom Display. Das ist in Ordnung. Unbedenklich. Über die Jahr­zehnte hat sich ein Großteil der Radio­ aktivität in den Boden gefressen. Jährlich sinkt sie rund einen Zentimeter tiefer in den Untergrund. Neben unzähligen Bara­cken gibt es im Zentrum der Stadt auch ein halbes Dutzend bewohnter Gebäude. Postamt, Regierungsgebäude, ein Shop, ein Hotel. Zudem wurden einige Gebäude renoviert. Vorwiegend handelt es sich um Unterkünfte für Arbeiter, Soldaten, Polizisten und Feuerwehrleute. Rund 5.000 Menschen leben wieder im Stadt­gebiet und Umland von Tschernobyl. Die meisten kamen in den letzten Jahren zurück, einige wenige haben die Region ohnehin nie verlassen. „In Tschernobyl kann man heute durchaus wieder leben“, sagt Vladimir, ein rundbauchiger Mitfünf­ziger, der als Feuerwehrmann hier Dienst tut. Nach der Explosion des Reaktors wur­ den er und alle anderen Bewohner seines Heimatdorfes evakuiert und über ganz Russland verstreut. Auch aufgrund dieser Maßnahme blieben die genauen Auswir­kungen des Super­GAUs bis heute äußerst unkonkret. Konkret sind irritierende Zah­len. Laut Internationaler Atomenergie­behörde stehen weniger als 50 Tote direkt in Verbindung mit dem Unfall. Nur rund 4.000 Menschen sollen in weiterer Folge an Krebs gestorben sein. Mehr nicht. Für unabhängige Experten sind diese Zahlen eine Provokation. Sie reden von 1,5 Millio­nen Toten weltweit. Was sagt Vladimir? „Meine Tochter findet keinen Partner. Niemand will Kinder mit jemandem, der ursprünglich aus dieser Gegend stammt. Wir sind stigmatisiert. Warum wohl?“

Die Strecke Tschernobyl Richtung Reak­tor gleicht dann einer Endlosschleife an Trostlosigkeit. Weites, ebenes Land, verlassenes Land, kontaminiertes Land. Gelbschwarze Strahlenwarnzeichen weisen auf die radioaktive Verseuchung der Wälder hin, Ortstafeln auf ehemalige Städte und Dörfer, die nach dem GAU dem Erdboden gleichgemacht wurden. Und dann kündigt ein Schild den letzten Checkpoint an. Todeszone. Dauerhaftes Leben ist für Menschen ab hier nicht mehr möglich. Zwei bewaffnete Soldaten stehen vor einem verschlossenen Schran­ ken. Passkontrolle. Einzeln wird unsere Reisegruppe gecheckt. Fünf etwa 30­-jäh­rige Slowaken, eine Amerikanerin und ich. Fünf Minuten später geht ein Raunen durch den Bus. In der Ferne baut sich ein kantiges, bedrohlich wirkendes Ungetüm auf. Das Atomkraftwerk Tschernobyl. Es knackt jetzt im Bus, dann rattert es. 15, 20, 30, 50, 70. Der Geigerzähler stoppt bei der Zahl 90. „Zwar weit über dem Normalwert, trotzdem noch ungefährlich“, beruhigt Dominik und streicht sich mit der flachen Hand über seinen kahlen Hinterkopf. Eine Geste der Unsicherheit? Wohl eher nicht. 2008 war der ehemalige slowakische Journalist Dominik Orfanus das erste Mal in der Todeszone. Noch im gleichen Jahr gründete er die Agentur Chernobyl Welcome. Seitdem reist er jährlich zig Mal hierher, zumeist mit Touristen. Mittlerweile gibt es einige Konkurrenzanbieter, rund 8.000 Menschen besuchen jährlich das Sperrgebiet. Ukrainische Fremdenverkehrsexperten rechnen mit bis zu einer Million Touristen jährlich in naher Zukunft. „Das Abenteuer, der Thrill, das Außergewöhnliche reizt viele“, so Dominik, der zweifache Familien­ vater, der in Bratislava lebt. Motive, die auch unsere Reisegruppe treiben, wie der nächste Stopp verrät. Prypjat – die tote Stadt. 3 km vom Reaktor entfernt, maximal vom Super­GAU betroffen. Am Tag nach dem GAU wurden die 47.000 Bewohner innerhalb von 3 Stunden mit Bussen eva­ kuiert. Seitdem lebt hier niemand mehr. Bloß die Natur blüht auf. Zügellos. Tag für Tag holt sie sich Zentimeter für Zenti­meter Fläche zurück. Bäume durchstoßen brüchiges Gemäuer, Sträucher und Geäst umwickeln alles von Hand Geschaffene. In den Resten der noch stehenden Gemäuer verrostet, vermodert und zerfällt alles Zu­ rückgelassene. Rostbraune Betten stehen im halb verfallenen Krankenhaus herum. Kinderkrippen, Schutt, ein halb verwester Hund. Ein morsches Klavier protzt von der Bühne des in sich zusammenfallen­ den Konzertsaals, Taue hängen von der Decke einer brüchigen Sporthalle, im Kindergarten liegen Puppen neben um­ gestürzten Kinderwägen, ein Sprungturm thront vor dem leeren Schwimmbecken. Aus aufgerissenem Asphaltboden ragt ein rostiges Riesenrad in den wolkenverhan­genen Himmel. Grausam schöne Foto­ motive allerorts, viele kennt man ohnehin aus den Medien, einige davon gleichen Inszenierungen. Sind sie ja auch. Auf ei­gene Faust erkunden wir jetzt die Stadt. Ich schließe mich drei Reisekollegen an, die Tarnklamotten tragen. Wie Survival Guides klettern sie überall rauf und hinein. Vor jedem außergewöhnlichen Motiv markieren sie die coolen Macker. Klar hat jeder eine GoPro am Stick. Anders als ich sehen die Jungs in Prypjat den Abenteuer­spielplatz, nicht das Mahnmal. Ein häufiges Phänomen, wie ich erfahre. „Fast monat­lich entdecken wir Jugendliche, die illegal in die Sperrzone schleichen und hier übernachten wollen“, erzählt mir abends ein besoffener Soldat, der hier stationiert ist. „Es ist eine beliebte Mut­probe vieler ukrainischer Jugendlicher“, sagt er. Die Strafe dafür ist überschaubar, liegt angeblich bei 65 Euro.

Tags darauf stehen wir direkt vor dem Symbol des Schreckens. Keine 150 m tren­nen uns vom Reaktorblock 4. 2.000 Tonnen Uran schlummern nach wie vor in seinem Inneren. Unter dem instabilen Beton­mantel toben chemische Vorgänge, die Chemiker nicht deuten können. „Eines von vielen Problemen ist der Dunst“, erzählt Dominik. „Der verflüssigt sich und entfacht ständig neue uns noch unbekannte Re­aktionen. Jederzeit könnten verheerende Kettenreaktionen entstehen, deren Aus­maße der Menschheit noch fremd sind.“ Die langen Stahlarme der Kräne kreisen gemächlich über den unförmigen, kantigen Betonklotz. Arbeiter tragen Rohre und andere Gegenstände über die riesige Bau­stelle. Hunde streichen übers Baugelände. Es herrscht ruhige Stimmung und ge­mächliches Treiben. Hin und wieder wirbelt der Wind Schmutz und Staub durch die Luft. Niemand schert sich drum. Besondere Schutzkleidung sehe ich keine. Manche Arbeiter tragen Staubmasken, die meisten nicht einmal das. Auch wir stehen ohne jeglichen Schutz vor dem Sarkophag. Möglich macht das eine Betonwand, die zwischen Reaktor und Baugelände hochgezogen wurde. Diese reduziert die Strahlenbelastung auf ein akzeptables Maß. Zudem wurde das gesamte Erdreich abgetragen und durch ein Betonfundament ersetzt. All diese Maßnahmen machen ein relativ sicheres Arbeiten auch in der Nähe des Reaktors möglich. Der Strahlenwert hier: 450 Mikrosieverts. Lediglich 300 m entfernt vom Reaktor türmt sich eine 31.000 Tonnen schwere, riesige gewölbte Stahlkonstruktion auf. Die neue Schutzhülle. Sie soll Tornados und Erdbeben aushalten und durch ein computergesteuertes Belüftungssystem dauerhaft rostfrei bleiben. Die Kosten: 2,1 Milliarden Euro. Finanzierung? Noch fraglich. Nach Fertigstellung im Jahr 2017 soll diese auf Schienen über den alten Reaktor geschoben werden und für 100­ jährige Sicherheit sorgen. Etwa 3.000 Menschen arbeiten täglich vor Ort an diesem Vorhaben. Ingenieure, Spezial­, Fach­ und Hilfsarbeiter aus aller Welt. Weshalb arbeitet man hier? „Gutes Geld“, wirft mir ein Franzose über die Absper­rung zu. Was sonst? Spätabends, nach zwei Tagen in der Schutzzone, verlassen wir diese wieder. Beim Checkpoint wer­ den wir auf etwaige mögliche Verstrah­ lungen gecheckt. Angeblich haben wir nicht mehr Radioaktivität abbekommen als bei einem Langstreckenflug. Das Städtchen Tschernobyl verschwindet langsam im Rückspiegel des Busses. Tschernobyl – ein Kaff, ja, aber eines, das die Welt in Atem hält.

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Epilog

Zwei Dinge stechen vor Ort besonders ins Auge. Erstens: Fauna und Flora gedeihen trotz erhöhter Radioaktivität scheinbar prächtig. Das Schlagwort Naturschutz müsste somit umgehend in Menschen­schutz korrigiert werden. Die Natur tangiert die Strahlung wenig. Zweitens: Der Unglücksreaktor ist zugleich tickende Zeitbombe und Tourismusmagnet – und somit Spiegel der heutigen Gesellschaft, für die Katastrophe und Amüsement längst kein Widerspruch mehr sind.

Fotos © Roland Verant, Thomas Bruckner