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Stermann: Wort zum Sonntag

„Carpe that fucking diem.“ Sie war wütend eingeschlafen, aggressiv aufgewacht und nahm sich deshalb diese Tasse.

Heute im Radio sagten sie, es gebe Zehennebel. Ich schuate auf meine Füße und wartete, aber nichts geschah. Sie klärte mich auf. „Die meinten zähen Nebel, nicht Zehennebel. Was sollte das denn bitteschön sein, Zehennebel?“ Ich zuckte mit den Schultern und aß ein Stück von der Pizza Caloria. Eigentlich sollte jede Pizza so heißen, selbst die mit Spinat oder ohne alles. Pro Pizza rechne ich mit einer Kleidergröße mehr. Schon ein paar Mi­nuten nach dem Verzehr. Diabetiker tun sich schwer damit, die Broteinheiten von Pizzenpizzas zu bestimmen. Irgendwas geschieht im Ofen mit dem Teig, das alle Koh­ lenhydrattabellen sprengt. Man weiß es nicht. Niemand weiß es. Ich rechne deshalb vorsichtig pro Pizza mit 5.000 bis 10.000 Kalorien.

„Hab ich dir erzählt, dass ich gestern an einem Schulhof vorbeigegangen bin?“ Sie schüttelte den Kopf, wie sie es nur an Sonntagen tat. Langsamer als normal. In der Hand hielt sie ihre Kaf­ feetasse mit der Aufschrift „Carpe this fucking diem“. Sie war wütend eingeschla­fen, aggressiv aufgewacht und nahm sich deshalb diese Tasse. Sie hätte auch die Tasse mit dem Reh nehmen können, oder die mit dem schielenden Eichhörnchen, die mir von einem Schwerst­ behinderten aus Nieder­ österreich gebastelt worden war. Das Eichhörnchen schielt so stark, dass es seinen eigenen Schwanz sehen kann. Den Oachkatzl­ Schwoaf, den ich hervor­ragend aussprechen kann, sehr zum Ärger vieler Öster­reicher. Die sind dann ent­täuscht, dass der gschissene Deitsche sich da überhaupt nicht schwertut.

Aber nein, sie nahm sich ohne hinzusehen die „Carpe this fucking diem“­ Tasse, die mir zur Matura mein depressiver Lateinlehrer Guminski ge­schenkt hatte. Er fuhr Fiat und wusste, was das in den späten Siebzigern bedeutete. „Fiat ist Latein und heißt: es möge etwas geschehen. Das denke ich mir jedesmal, wenn die Scheißkarre nicht an­ springt. Also jedesmal, wenn ich die Scheißkarre starte.“ Ich hatte die Tasse jetzt schon über 30 Jahre. Von Düsseldorf mit nach Wien genommen, mehrmals umge­zogen war ich mit ihr. Schon mehrere Frauen hatten in der Früh aus ihr getrunken.

„Und was war auf dem Schulhof?“, fragte sie gelang­ weilt und trank von dem viel zu heißen Kaffee, ohne eine Miene zu verziehen. Kom­plett hitzeunempfindlich ist sie. Schält dampfende Kar­toffeln mit der bloßen Hand, greift ohne Handschuh in Öfen, holt gekochte Eier ohne Löffel aus dem spru­delnden Wasser. Mit den Fingern!

Würde es bei uns brennen, sie würde das Feuer mit der flachen Hand ausdämpfen. „Da war ein kleines Mäd­chen. Vielleicht elf oder zwölf. Und sie schrie die anderen am Pausenhof an: ,Wenn ich erst die Pille nehm, fick ich euch alle vom Platz.‘“ „Wow. Tolle Geschichte. Weißt du, du bist ein wun­derbarer Mensch, aber ich mag dich nicht“, sagte sie und warf meine „Carpe that fucking diem“­Tasse auf den Boden vor meine Füße. Der Kaffee dampfte zwischen meinen Zehen.

„Also doch Zehennebel“, rief ich ihr nach. „Das Radio hatte doch recht.“ Aber ich glaube, sie hörte mich nicht mehr.

kolumniert seit Jahren im WIENER, heißt wöchentlich Österreich willkommen und ist erfolgreicher Autor.