AKUT

Der WIENER fährt Wiener Linien

Sandra Keplinger

Wenn der Wiener nur granteln und sudern kann, dann ist er glücklich und zufrieden. So gesehen ist der folgende Erlebnisaufsatz eigentlich eine liebevolle Hommage ans Öffi-Netz der Bundeshauptstadt.

Text: Hannes Kropik / Illustration: Oliver Weiss

Mir reicht der Blick aus dem Bürofenster: Stau auf der Tangente. Eh klar. Also binde ich meinen Ranzen, weiß sicher darin verstaut meine Jahreskarte der Wiener Linien und lasse mich auf dem Weg nach Hause vom Schicksal leiten: Nehme ich den 6er rechts hinauf zum Reumannplatz und von dort die U1 zum Praterstern? Oder die Bim in die Gegenrichtung zum Enkplatz und dann die U3 zur Landstraße? Oder kommt zuerst der 69A zum Hauptbahnhof, wo ich in Richtung City umsteige? So viele Möglichkeiten. Ein Traum!

Wobei: Man soll den Tag ja nicht vor der abendlichen Heimreise loben. Während der Autofahrer im Stau im Normalfall nur seinen eigenen Grant ertragen muss, bekommst du in den öffentlichen Verkehrsmitteln das volle Menü ab. Rempeln beim Ein- und Aussteigen, dreckige Bock am Sitz (habe ich mich jetzt echt gerade über ein Verhalten aufgeregt, das ich als Jugendlicher mit großer Begeisterung für eine Revolte gegen das System der Erwachsenen gehalten habe?). Am schlimmsten ist der Typ, der sich draußen vor der Tür noch einmal schnell die Lunge mit Nikotin anfüllt und den Rauch drinnen im anfahrenden Wagon genüsslich ausatmet.

Im Hochsommer stellen die älteren, nicht klimatisierten Verkehrsmittel eine Kampfansage an den guten Geschmack dar, wenn einzig der Schweißfilm auf nackten Armen, Schultern und Beinen ein reibungsloses Schlichten in der -rollenden Sauna ermöglicht. Warum, denke ich mir in solchen Momenten, warum genau bin ich eigentlich so stolz darauf, keinen Führerschein zu besitzen? Warum behaupte ich in Diskussionen mit Autofahrern immer wieder, wie viel einfacher mein Leben ohne die tägliche Parkplatzsuche ist, ohne depperte andere Autofahrer und ohne Nebenkosten wie Tank, Versicherung und -Reparaturen? Antwort: Weil’s wahr ist! Mein Stehnachbar niest. Vielen Dank, der nasale Sprühregen ist fast schon eine willkommene Erfrischung.

Aufregen über die Chauffeure, die lächelnd genau in dem Moment abfahren, wenn man als potenzieller Fahrgast den Finger schon so nah am Türöffnerknopf hat wie Adam an Gott in Michelangelos sixtinischem Deckenfresko.

Wo sich viele Menschen auf engem Raum zusammenfinden, da bekommt man als Beobachter sehr viel mit vom Leben der anderen. Mehr, als man manchmal möchte, über Krankheiten, Todesfälle und die abendlichen Erdäpfel mit Dillfisolen. Und man erfährt, dass die junge Mama in der vorderen Sitzreihe ihr rosa T-Shirt am Freitag gekauft hat („um 6 Euro“), nachdem sich ihr kleiner Liebling beim Sommerfest im Kindergarten so gelangweilt hat und sie deswegen miteinander ins Shoppingcenter gegangen sind. Man wird aber in seltenen Glücksfällen auch mit kleinen, unfreiwilligen Stand-up-Auftritten bestens unterhalten. Etwa nach einem Fußballspiel:

Er (am Telefon): „Ja.“

Er: „Ja, Schatzi.“

Er: „Ja, Schatzi, ich bin am Weg.“

Er: „Ja, in 15 Minuten. Tschüss.“

Er (verwundert an den vollen Wagon gerichtet): „Kann ich etwas dafür, dass sie ausgerechnet heute Geburtstag hat?“

Man kann sich dem Geschwätz wildfremder Menschen natürlich entziehen, indem man sich Musik überstülpt und die Welt hinter einer beruhigenden Wand aus Death Metal oder Grindcore verschwinden lässt. Andererseits: Was regt es mich nicht jedes Mal auf, wenn ich selbst die Kopfhörer wieder einmal zu Hause vergessen habe und irgendwelchen Hobby-DJs ausgeliefert bin! Nicht falsch verstehen: Ich freue mich über Musik, egal, ob zu Hause oder im öffentlichen Raum, und versuche sogar, bei EDM (von Wikipedia als Elektronische Tanzmusik eingedeutscht) tolerant zu bleiben. Was mich aber gerade in den Öffis immer wieder zur Weißglut treibt, ist diese akustische Luftverschmutzung, hervorgerufen durch scheppernde Billigsdorfer-Headphones, die vor allem mit dem iPhone ausgeliefert werden. Ehrlich, Leute: Schmeißt diesen Schrott bitte mit der Handyverpackung weg und investiert in richtige Kopfhörer. Danke.

So, und wenn wir uns schon so schön beim Beschwerdeschalter angestellt haben: Ja, es mag wie ein billiges Klischee klingen, aber hätte ich für jede Fahrt,
in der kein Mitreisender eine Leberkässemmel oder ein Kebap gefuttert hat, zehn Cent kassiert, hätte ich mir am Ende des Beobachtungszeitraums selber nicht einmal ein mürbes Kipferl kaufen können.

Es ist aber natürlich nicht alles schlecht. Im Gegenteil. Eigentlich funktioniert das System ziemlich klaglos, außerhalb der Stoßzeiten findet man sogar Sitzplätze und tatsächlich sind die Wagons normalerweise sauber. Wer über die Intervalle einzelner Linien und Wartezeiten jammert (ja, der Bus kommt halt ein bisserl später, wenn wieder irgendein Hirnederl sein Auto in einer Einbahnstraße eh nur kurz, aber eben doch in zweiter Spur parkt), soll einmal versuchen, im Waldviertel mit sinnvollem Zeitaufwand -öffentlich von A nach B zu kommen.
Und immerhin, ein-, zweimal pro Woche erwische ich ja sogar einen der neuen, klimatisierten U-Bahn-Züge. Ein unendlicher Segen! Insgesamt besteht die Flotte der Wiener Linien aus rund 150 U-Bahn-Zügen, mehr als 500 Bussen und knapp 500 Straßenbahnen und die Zahl der klimatisierten Neuanschaffungen wächst von Jahr zu Jahr. Zu Spitzenzeiten, habe ich nachgelesen, sind bis zu tausend Fahrzeuge gleichzeitig auf den 179 verschiedenen Linien unterwegs. Dazu stehen dem Wiener noch diverse Schnellbahnen zur Verfügung, die eine Querung der Stadt deutlich erleichtern.

Damit aber auch schon wieder genug des Lobes und des Verständnisses. Ich will den Platz lieber nützen, um mich aufzuregen: Über die breitbeinigen Typen, die offenbar so viel Ballast in der Hose mit sich rumschleppen, dass Minimum zwei Sitze an Territorium zu besetzen sind. Über die Menschen, die als Erste aussteigen, aber sofort vor der Tür einem offenbar weltrettenden Gedanken hinterherbrüten müssen, und vor allem über jene, die während der Stoßzeiten gleich im Eingangsbereich Wurzeln schlagen. Über die Menschen, die am Telefon lautstark
Beziehungsprobleme besprechen müssen, und über jene, die ihre Nasenrammel auf Fensterscheiben kleben. Über die Chauffeure, die lächelnd genau in dem Moment abfahren, wenn man als potenzieller Fahrgast den Finger schon so nah am Türöffnerknopf hat wie Adam an Gott in Michelangelos sixtinischem Deckenfresko. Und über – halt, wie spät ist es eigentlich? Ah, Zeit nach Hause zu fahren. Ein Blick aus dem Fenster: Stau auf der Tangente. Ich nehme die Öffis.

Man kann sich dem Geschwätz wildfremder Menschen natürlich hinter einer beruhigenden Wand aus Death Metal entziehen.

WIENER-Redakteur Hannes Kropik hatte nie das Gefühl, einen Führerschein zu brauchen, und verbringt täglich gut zwei Stunden in Bim, Bus und U-Bahn.