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Muskeltrotz

Sarah Wetzlmayr

Fit sein ist wieder geil. Und neuerdings nicht nur was für junge Hüpfer. Auch WIENER-Autor Rainer Pototschnig, 42, findet Turnen ziemlich anturnend. Zwischen ein paar Sätzen Liegestütz und Klimmzügen hat er die späte Lust am optimierten Körper in Worte gefasst.

Text: Rainer Pototschnig/Fotos: Maximilian Lottmann

„Das erste Mal gekotzt habe ich bei Barbara“, erzählt mir Zlatko ganz ungeniert. Halb so wild, Barbara war zu dieser Zeit eh nur ein feuchter, unerreichbarer Traum von Zlatko. Damals, mit 40, war er eben noch unerfahren bei den „Girls“. Außerdem hat er da noch täglich seine zwei bis drei Tafeln Schokolade gegessen. Zarteste Versuchung mit bitterem Beigeschmack: Pünktlich zum vierzigsten Geburtstag zeigte die Waage 110 Kilo. Eine ordentliche Wampe, in diesem Alter normalerweise gekommen, um zu bleiben – gäbe es da nicht die „Crossfit-Girls“: Viele Workouts des Trendsports sind nach Frauen benannt. Und Barbara ist eines der Mädels, die selbst hartgesottenen Männern alles abverlangen: fünf qualvolle Runden Liegestütze, Klimmzüge, Sit-ups und Kniebeugen – oder halt bis einer speibt, wie Zlatko beim ersten Mal. Zwei Runden hat er immerhin geschafft. „Anfangs habe ich gedacht, ich überlebe nicht einmal das Aufwärmen.“ Achtzehn Jahre lang hat er geraucht, zwischen dreißig und vierzig war er sportlich so aktiv wie ein Schokoladen-Ei. Und dann steht „der semiblade Typ mit der pinkfarbenen 8-Kilogramm-Kettlebell“ plötzlich in der Wiener Crossfitszene. Fitness wird dort zum gruppendynamischen Kräftemessen, oft kommt ein Zeitlimit als Strafverschärfung dazu. „Du fauler Sack schaffst das auch, wenn die anderen es können“, schwört sich Zlatko und schwitzt sich mit eisernem Willen von der rosa Kugelhantel in neue Gewichtsklassen. Nicht umsonst bezeichnet sich Crossfit als das härteste Training der Welt, trotz süßer Workout-Namen wie Angie, Chelsea oder Cindy. Für Zlatko jedoch ist Schluss mit süß. Er stellt seine Ernährung komplett um, verbannt Zucker aus seinem Leben. Das darf einer, der hauptberuflich Schokolade-Großhändler ist, kaum laut sagen. Gekotzt hat er danach übrigens nur noch zwei Mal. Bei welchem „Girl“, weiß er nicht mehr. Heute, mit 44 Jahren, hat er sie alle lieb, denn sie haben ihm knapp 15 Kilo abgenommen. Drei bis fünf Mal die Woche trifft man sich jetzt in der Crossfit-Box. „Die einen haben Sex, die anderen machen Crossfit“, sagt er augenzwinkernd.

 

Mann, du musst eben was tun, damit das Körperliche passt. Und ab einem gewissen Alter ist umso mehr Disziplin nötig, um keine schlechte Figur zu machen. In den sozialen Medien sind schließlich weit mehr als zwei kritische Augen auf das Erscheinungsbild gerichtet, viele davon sind noch dazu jünger als die eigenen. Und nur wer auf seinen Selfies es knackig aussieht, wird auch geliebt. Sichtbare Defizite sind beim Buhlen um Likes hingegen ein klarer Wettbewerbsnachteil. Dann muss nachgebessert werden. Und die eigene Optik zu optimieren, gilt heute quer durch alle Altersschichten als attraktiv, konsequent, ja sogar smart. Das war nicht immer so. In den Achtzigern wurden Fitnessstudios oft noch als Sammelstelle für geistig unbedarfte Muskelprotze abgetan, die in lächerlich bunten Schlabberhosen Gewichte an schweren Geräten stemmten. Moderne Trainingsprogramme hingegen sind ausgeklügelter, die Bewegungsmuster athletischer und koordinativ anspruchsvoller. Maschinen sind kaum noch nötig, meist genügen schon das eigene Körpergewicht und ein paar handliche Requisiten. Und mittlerweile hat man bei der Figurkorrektur die Wahl der Qual, denn fast ständig kommt ein neuer Trend dazu, eine neue, revolutionäre Fusion meist altbewährter Zutaten. Der eine versucht sich wie Zlatko in der Crossfit-Box bei Gewichtheben und Seilklettern oder wuchtet LKW-Reifen durch die Gegend. Der andere übt sich beim Calisthenics­-Programm als Amateur­turner an Reck und Barren. Freigeister absolvieren ein paar Runden Liegestütze, Kniebeugen und Klimmzüge bei einem der Freeletics-­Workouts, die – nur keine falsche Demut – nach Göttern benannt sind. Einige entdecken gar das Tier im Manne und imitieren beim „Animal Flow“ die Bewegungen von Affen, Frö­schen oder Skorpionen. Hauptsache, das Resultat kann sich sehen lassen – idealerweise per „Welfies“: Workout­ Selfies. Damit zeigen wir Freunden, dass wir aktiv um Attraktivität bemüht sind. Und damit auch wirklich jeder sieht, dass wir allzeit bereit zum Fitness­ Quickie sind, tragen wir auf der Straße sogenannte Athleisure­-Wear – eine Mischung aus „Athletic“ und „Leisure“, also Freizeitbekleidung mit sportlichem Charakter. „Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren“, sagte Karl Lagerfeld einst.

Wer heute eine trägt, hat sie zurück­ gewonnen. Oder er hat sie bereits an sein Smart­phone abgegeben und lässt durch Apps wie My Fitness Pal seine Trainingserfolge permanent überwachen. Das American College of Sports Medicine hat mobile Technologien zum größten Fitness­ trend 2016 erklärt. Die Geräte kontrol­lieren nicht nur unsere Leistung und errechnen genau, wann und wie wir trainieren sollen, sondern geben meist auch noch vor, was wir essen sollen. Mit zwei, drei Tafeln Schokolade am Tag ist schließlich noch keiner zum Riegel geworden. Nein, für den Luxuskörper braucht es schon die richtige Sport­nahrung. Gedanken an das optimale Verhältnis von Makro­ und Mikro­nährstoffen, die erfolgversprechendste Mischung von Nahrungsergänzungs­mitteln und der niedrigste Körper­fettanteil bestimmen dann schnell das ganze Leben. Fitness wird zur Obses­sion, genährt vom schlechten Gewissen, gespeist von der Technik. Ein 46-­jähriger Journalist, nennen wir ihn Heinz, hat das am eigenen Körper erlebt. Monatelang war er seinem Smartphone sklavisch ausgeliefert. Apps haben ihm diktiert, was er wann essen soll, wie und wann er trainieren soll. Und er ist dem virtuellen Trainer bedingungslos gefolgt. Es war ein Leben in permanenter Angst, nicht genug für den Körper zu tun. Immerhin, sagt er rückblickend, hat er damals eine ziem­lich herzeigbare Figur gehabt. Auch der Sportlehrer Christoph Mitsche, der in Wien­ Alsergrund ein kleines Mietstudio namens „Muscle Bakery“ betreibt, kennt das Gefühl, ein Getriebener zu sein. Durch exzessives Trainieren und zu wenige Pausen ist er schon einmal in ein sportliches Burn-out geschlittert. Addisonoides Übertraining nennt das der Fachmann. Vier Monate ging dann gar nichts mehr. „Den Leuten ist sehr oft gar nicht bewusst, dass sie ihren Körper durch das Training eigentlich schwächen. Erst die Regeneration macht einen besser. Da findet auch erst der Muskelzuwachs statt.“ Wer übertreibt, riskiert in jedem Fall seine Gesundheit. Und die meisten Probleme kommen leider schleichend. Dazu zählen auch körperliche Komplikationen wie Haltungsschäden, muskuläre Dysbalancen oder Gelenkverschleiß. „Akute Verletzungen passieren nicht so oft, aber die Wahrscheinlichkeit, dass man sich durch falsches Training einen Schaden zufügt, ist leider sehr hoch.“ Deswegen trichtert er seinen Kunden gebetsmühlenartig vernünftiges Training und Mut zur Pause ein – denn mit steigendem Alter braucht der Körper auch mehr Zeit zum Regenerieren.

 

„Das Hauptproblem sind übertriebener Ehrgeiz und Ungeduld“, bestätigt der anerkannte Wiener Sporttraumatologe Prof. Dr. Reinhard Weinstabl. „Und das geht durch alle Schichten. Je erfolgreicher etwa ein Manager ist, umso kritikloser und umso ehrgeiziger ist er. Da wird nicht gerne akzeptiert, dass gewisse Dinge nicht gehen oder sogar schaden können.“ In seiner Wiener Praxis ist durch den Trend zur exzessiven Körperoptimierung stets für Nachschub an Patienten mit Schulterschmerzen, Meniskusschäden oder lädierter Wirbelsäule gesorgt. Denn Muskeln wachsen zwar schnell, Gelenke und Knochen jedoch recht langsam. Wer noch nie Sport gemacht oder Übergewicht hat, sollte es deshalb nicht zu schnell angehen. Viele Crossfit- oder Freeletics-Programme sind jedoch für Anfänger viel zu intensiv. Dazu kommt die oft fehlende Kompetenz der Trainer – schon nach wenigen Tagen Ausbildung kann jeder, der will, eine Crossfit-Trainerlizenz erwerben und seine eigene Crossfit-Box eröffnen. Auch das starre, unreflektierte Befolgen vorgegebener Trainingsprogramme und schlechte Selbsteinschätzungstellen große Risiken dar. Und einseitige Programme wie „500 Liegestütze jeden Tag“, die man auf you­tube findet, sowieso. „Vor Fehlern kann man sich nur selbst bewahren, wenn man sich spürt. Doch das tun leider die we­nigsten. Erste Schmerzen werden dafür gerne ambitioniert übergangen. Viele sind da einfach unbelehrbar. Irgend­ wann hat man sich dann aber einen irreparablen Schaden antrainiert.“ Zugegeben, ich selbst war auch schon bei ihm in der Praxis, habe eine Schleim­beutel-entzündung am Ellbogen und eine Schulterverletzung behandeln lassen. Erst einseitiges Training, und irgend­wann kam dann auch noch falscher Ehr­geiz dazu. Ein Kräftemessen namens „Wild Rope Battle“ war der Knackpunkt. Dabei galt es, ein dickes Hanfseil in Schwingung zu halten, mit nur einem Arm, im Duell mit einem anderen Teil­ nehmer am anderen Ende des Seils. Ge­wonnen hat keiner, ich verlor dafür zwei Monate lang die Möglichkeit, die Schul­ter zu belasten. Aber muss ich mit mei­nen 42 Jahren die fixe Idee vom Sixpack bis ins hohe Alter womöglich langsam vergessen? „Nein, wer Sport vernünftig betreibt, kann dem Alterungsprozess aktiv entgegenwirken. Schon zwei Mal zwanzig Minuten Ausdauertraining pro Woche können etwa den Testosteron­spiegel, der ab einem Alter von 30 um 1,5 Prozent pro Jahr sinkt, nachweislich wieder erhöhen. Und es gibt tatsächlich durchtrainierte 80­-Jährige, die sexuell und mental aktiver sind als 20-Jährige.“ Na bitte. Das sind doch endlich mal gute Aussichten. Zieht euch also warm an, ihr jungen Modellathleten da draußen. An der Copacabana und am Wörthersee, auch starke reifere Männer sind nie passé. Ich werde weiter meine Klimm­züge und Liegestütze machen. Dann habe ich noch gute 38 Jahre Sex. Solange ich mich nicht mit Barbara treffe.