AKUT

Pokémon in Syrien

Sarah Wetzlmayr

Wenn es plötzlich nur noch darum geht, ob ein Pokémon wieder aus seinem Pokéball ausbricht und flieht, während sich in Syrien immer noch Menschen auf die Flucht vorbereiten, läuft irgendetwas falsch.

von Sarah Wetzlmayr

Etwas seltsames ist in den vergangenen Wochen passiert – an Straßenecken stehen träubchenweise Menschen herum, deren Augäpfel wie mit einem unsichtbaren Gummizug mit ihrem Smartphone verbunden sind. Sie sehen einander nicht an – aber sie sehen kleine bunte Fabeltiere, die sie eigentlich gar nicht sehen können. Was viele dabei plötzlich aber nicht mehr sehen, ist was in der Welt um sie herum sonst noch so passiert, weil ihnen Pikachu und Co einen bunten Pokémon-Vorhang vor die Augen gezogen und mittels „Psystrahl“ und „Konfusion“ dafür gesorgt haben, dass sich die Wahrnehmung der Wirklichkeit plötzlich der eines fiktiven Pokétrainers angeglichen hat. Die plötzliche und unerwartete Flucht eines Pokémon beim Versuch es in einen kleinen, rot-weißen Pokéball zu sperren, beschäftigt gerade die Gehirne von deutlich mehr Menschen, als beispielsweise die Umstände in Syrien, die nach wie vor viele Syrer zur Flucht zwingen.

Um auf diese beängstigende Gewichtung innerhalb des medialen Wahrnehmungsspektrums hinzuweisen, begann der selbst aus Aleppo stammende Fotograf Khaled Akil, Pokémon in Fotos, die das verwüstete Syrien zeigen zu montieren. Die montierten Bilder sollen dabei als Symbol dafür fungieren, wie viel „Pokémon“ notwendig ist, um die Aufmerksamkeit der Menschen wieder auf die Welt zu lenken, in der sie wirklich leben und auch darauf wie sehr die Lebensrealität in Syrien durch die bunten Fabeltiere schon aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt wurde. „Pokémon Go in Syria“, wie Akil seine Aktion betitelte, soll die Aufmerksamkeit der Menschen vor allem auf die Kinder, die in syrischen Kriegsgebieten leben, lenken. Die Aktion fand auch schon einige Nachahmer, die unter dem Hashtag #PokemonInSyria ihre eigenen Bearbeitungen hochladen und damit vermitteln möchten, dass wenn man sich schon nicht für die Lebensumstände der Menschen in Syrien interessiert, man sich wenigstens um die dort „lebenden“ Pokémon Gedanken machen sollte. Klingt nicht nur ein wenig absurd, sondern ist auch so – mit dem hoffentlich ebenfalls eintretenden Nebeneffekt die Aufmerksamkeit der Menschen wieder etwas zu verschieben, so dass wieder vermehrt wahrgenommen wird, dass sich die Lebensumstände der Menschen in Syrien vermutlich noch lange nicht der der heilen Pokéwelt annähern werden.