AKUT

Tod durch Lurch

Angefangen hat es harmlos.
Eine Wohnung wurde neu bezogen und ich half ein wenig, die Sache wohnlich zu machen. Ein Gespräch über Hygiene mündete irgendwann in einen Streit darüber, ob es noch zumutbar sei, die aus der Vorwohnung mitübersiedelten Matratzen zu verwenden. Ich fand nein, er fand ja. Es waren noch andere Freunde zugegen, die wurden dazu befragt. Was zu bereuen war, denn am Ende der Diskussion saßen wir alle unfreiwillig mit folgenden Fakten da:

In einer Matratze kommen bis zu einer Million und mehr Hausstaubmilben vor, welche eine entsprechende Menge Milbenkot produzieren. Auf den ist man dann allergisch. Weiters verliert man bis zu eineinhalb Gramm Hautschuppen pro Nacht, was einen halben Kilo pro Jahr ausmacht. Die bleiben dann zum Teil in der Matratze und werden von Bakterien befallen. Zusätzlich schwitzen wir bis zu einen halben Liter Schweiß in die Matratze, was auch Schimmel begünstigt.Wenn sie nicht liest oder Musik hört, arbeitet die zweifache Mutter selbstständig als Kommunikationsmanagerin und freie Autorin.©2014, Wybouw et al, subject to a CC-BY 4.0 licenseDazu kommen noch 20 Deka Staub, es darf auch ein bisserl mehr sein, bestehend aus einem Gemisch an organischen und anorganischen Partikeln. Gemeinsam mit dem Formaldehyd oder sonstigen Schadstoffen, die bei der Produktion der Matratze verwendet ­wurden, geht es also in einer brandneuen Matratze nach nur einer Nacht schon so zu dass man sich gerne wippend in die Ecke setzen möchte, um zu weinen. Schade, dass man jetzt so gut Bescheid weiß – und zwar für immer. Wenn man obsessionsbegabt und gleichzeitig eine schlechte Hausfrau ist, hat man dann den berühmten Scherben auf. Die besprochenen Matratzen wurden zunächst natürlich hinausgeworfen (Sieg! Sieg!), zufrieden begab man sich in die eigene Wohnung. Aber dann ging es los.

Es wäre günstig gewesen für Stephen King, in diesem Moment in meinem Hirn sitzen zu können, er hätte seine Freude gehabt. Ich betrat mein Schlafzimmer und sah dem Verderben in die Augen. Die Matratzen wurden abgezogen, abgesaugt, eingesprüht ausgeklopft, gelüftet. Neu überzogen. Doppeltes Leintuch. Doppelter Kopfpolsterüberzug. Dreifacher Kopf­polsterüberzug. Decken weggeworfen, neue gekauft. Die Nacht ohne Decken verbracht, weil die neuen erst gewaschen werden mussten, die Schadstoffe! Dreifach überzogen. Kinder Kakao drüberleeren lassen, abgezogen, noch einmal gewaschen. Noch eine Nacht ohne Decke. Wieder dreifach überzogen.

Eigentlich waren die Polster auch grausig. Neue gekauft, Matratzen dann auch weggeworfen. Neue gekauft. Alles neu. Das Grausen nahm überhand. Die Wohnung wurde durchgeschrubbt. Kleine Schmierer in der Türschiene der Duschkabine mit Q-Tips traktiert. Aus allen Ecken lugte der Lurchmob, der einen aufzumampfen vermochte, wenn man nicht aufpasste. Vier erschöpfende Tage und fast 2.000 Euro später wurde dann generalerneuert, triplebezogen und blitzsauber in den neuen Betten in den des infizierten Zimmern geschlafen.

Wir hatten am nächsten Tag interessanterweise alle ­einen leichten Ausschlag, das konnte aber auch an dem neuen, zu 100% bakterienkillenden, dafür kaum säubernden Bio-Waschmittel liegen. Das war man ja noch nicht so gewöhnt. Beim Frühstück, der Appetit war noch mau, läutete das Telefon und der Neue- Wohnung-Einrichter war dran. Er sei sehr glücklich über sein Zuhause und habe sich viel beschäftigt mit dem Hautschuppen-Milben- Schadstoff-Staub-Szenario, in dem wir so lebten. Und er fabulierte über Populationen in Vorhängen, Nahrungsmittel und deren Zubereitungsfehler sowie E’s und U’s und andere Buchstaben in Fertigfutter,
das uns untergejubelt wird. Weiters Fäkalbakterien everywhere, es wäscht sich ja nie wer die Hände, und viele weitere eigentlich unüberlebbare Details aus unserem Alltag, die mich dann zu einem wichtigen Punkt brachten.

Ich stellte mir die Frage:
Schnappe ich gleich über oder warte ich darauf, an welcher Milbe ich dann final abnipple, einfach, weil es spannend ist? Ich entschied mich für Letzteres. Seitdem sitze ich wieder zufrieden in meiner unzulänglich sauberen Wohnung herum, grüße die eine oder andere Lurchschwade und flüstere ihr zu: Bist du es, Gevatter?