Interview

Eine Runde Riesenrad mit Alex Beer

Der historische Krimi boomt. Die Schriftstellerin Alex Beer legte 2016 mit „Der zweite Reiter“ den ersten Band ihrer Reihe um den Polizei­agenten August Emmerich vor. Ein Gespräch über das gleichermaßen hoffnungslose wie feierwütige Wien des Jahres 1919.

Interview: Manfred Rebhandl / Fotos: Sandra Keplinger

Frau Beer, wie kamen Sie darauf, Ihr Buch im Wien nach dem Ersten Weltkrieg anzusiedeln?
Ich versuchte ursprünglich, einen zeitgenössischen Thriller zu schreiben, und legte meinem Agenten ein 100-Seiten-Konzept vor. Aber der fand meine Sprache zu „altertümlich“, womit er auch recht hatte. Also suchte ich im Fischer Almanach nach einer Epoche, für die meine Sprache angemessener war, und kam auf diese Zeit. Ich wusste darüber selbst nichts und war sofort fasziniert.

Sie haben sich ein halbes Jahr lang in der Nationalbibliothek eingegraben und recherchiert.
Der Mord in meinem Buch passiert am 22. November 1919, ich habe alle Tageszeitungen um dieses Datum herum gelesen, Reichspost, Kronen-Zeitung, Wiener Journal, Neue Freie Presse, Das Interessante Blatt, die Arbeiterzeitung. Außerdem die Sozialreportagen von Max Winter, Bücher von Emil Kläger, Tatsachenberichte von Leuten, die im Knast saßen, Polizei­berichte, Statistiken …

Verraten Sie uns ein paar Ergebnisse: An einem heißen Sommertag wie heute im Jahr 1919 – wie waren die Leute drauf?
Sie waren vollkommen deprimiert und demotiviert. Nach vier Jahren Krieg, in dem ein Großreich zum Kleinstaat zerfiel, musste man sich eingestehen: Es hat sich nicht ausgezahlt! Nicht nur waren es immens viele Opfer, sie waren auch vollkommen umsonst gestorben. Österreich hat die Kohlereviere in Böhmen verloren, landwirtschaftliche Flächen im Osten, hatte keinen Hafen mehr. Jede Familie beklagte Tote und Verkrüppelte, Traumatisierte und Verrückte, das Geld war nichts wert. Es gab eine latente Gewaltbereitschaft und Aggression, ständige Schlägereien, Raufereien, Kriminalität, es herrschte keine angenehme Stimmung.

Wie muss man sich das alltägliche Leben vorstellen?
Die Leute haben fürchterlich gestunken, die Unterschicht sowieso, aber auch die verbliebenen bürgerlichen Schichten, es gab ja z.B. keine Seife. Der Geruch, oder der Gestank, hat aber niemanden gestört, denn es kannte ja keiner anders. Es gab Klo und Bassena am Gang, Katzenwäsche alle paar Tage, Bettgeher in Küche-Kabinett-Wohnungen. Die Betten wurden dabei nie kalt, da durch die Arbeit im Schichtbetrieb immer irgendjemand im Bett lag, mit dem ganzen Ungeziefer. „Kriegszitterer“ liefen herum, Männer, die so traumatisiert waren, dass sie nicht mehr aufhörten zu zittern. Man sah furchtbarste Verstümmelungen, oft fehlte die Hälfte des Gesichts, Augen, Arme und Beine sowieso, in der Kanalisation haben die Obdachlosen gewohnt.

Gab’s Stelze im Schweizerhaus?
Im November 1918 war der Krieg zu Ende, darauf folgte ein furchtbarer Hungerwinter, es gab praktisch nichts zu essen. Kasernen wurden für Kleingartenanbau freigegeben, in jedem Hinterhof versuchte man, Kleintier zu halten. Hier im Prater wurde eine Messe veranstaltet zum Thema: Wie ernähre ich mich von nichts? Mehl wurde mit Sägespänen gestreckt, aus Eicheln wurde „Kaffee“ gemacht. Die Leute fuhren mit Perser­teppichen oder Schmuck hinaus aufs Land und tauschten alles ein für ein Stück Speck. Es gab Bauern, da war der Schweinestall mit Teppichen ausgelegt, andere hatten einen Klavierflügel im Stall stehen. Die Menschen in Wien wussten, was das bedeutet, dass man Gold nicht essen kann.

Wo und wie fand man Trost?
Im Branntwein bei den Branntweinern, die damals überall eröffneten. Oder in der Grundsteingasse in Ottakring, wo es eine Amüsiermeile mit acht Tanzgasthäusern neben­ei­nander gab, Schwarzer Schwan, Blauer Krug, ­Goldenes Fassl. Man wusste nie, ob man morgen noch lebt, also hat man auf Teufel komm raus gelebt, getanzt, gesoffen, gehurt. Am Graben gab es die „Grabennymphen“, prostituiert haben sich ehemalige Ärztinnen genauso wie junge Vorstadtmädchen. Mit dem Resultat, dass es weit verbreitet ganz schlimme Geschlechtskrankheiten gab, zusätzlich zur Spanischen Grippe zum Beispiel. Operetten erlebten einen Boom, einfache Texte mit positiven Botschaften.

Waren Drogen ein Thema?
Zuvor gab es das ­Problem einer richtigen Morphiumepidemie. Diese wurde mit einer interessanten Neuerung bekämpft, nämlich mit Kokain. Kokain wiederum wurde bekämpft mit einer Erfindung der Farbenwerke Bayer, Vorgänger des heutigen Chemiekonzerns: Heroin. Man konnte es in der Apotheke kaufen, es wurde oral eingenommen, Heroin war ein Markenname und leitete sich von „Heroen“ ab.

 

Daniela Larcher (aka Alex Beer)
wuchs in Lustenau auf. 1996 maturierte sie an der dortigen Handelsakademie, anschließend studierte sie Prozess- und Projektmanagement an einer Fachhochschule. Nach zwei Jahren in der Werbebranche begann sie 2002 an der Uni Wien ein Studium der Archäologie, 2006 arbeitete sie ein Jahr lang in New York im Verlagswesen. Seit 2007 lebt sie in Wien-Margareten und schreibt Krimis. „Der zweite Reiter“ ist angesiedelt im Jahre 1919, knapp nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Ein „Kriegs­zitterer“ soll Selbstmord begangen haben, dem Ermittler aber kommen Zweifel. Er sucht den Täter unter Schwarzhändlern. Im Frühling 2018 wird der zweite Band der Reihe erscheinen, mit dem Titel „Die rote Frau“.