AKUT

Modefarbe Netflix Noir: Liebst du Französisch?

Die Netflix-Serie „Marseille“ mit Bürgermeister Gérard Depardieu geht in die zweite Runde. Als Speerspitze eines massiven TV-Booms: Die abgründige Seele des französischen Film Noir feiert Renaissance. Im maßgeschneiderten Kostüm für BingeTV-Junkies.

Text: Manfred Sax

Was bisher geschah (Spoiler-Alarm!): In der ersten Szene der ersten Staffel gab sich Marseilles Bürgermeister Robert Taro (Depardieu) eine kräftige Line Kokain. In der letzten Szene der letzten Episode kollabierte er mit Herzinfarkt. Dazwischen tobte ein Machtkampf vom Abgründigsten: der Ziehsohn als heimtückischer Rivale; Mafiosi als Drahtzieher; Drogendealer, politischer Abschaum – und natürlich Affären. Jede Menge Affären, die rüberkommen, als gehörten sie zum guten gesellschaftlichen Ton. Mit den Kolleginnen Politikerinnen wird erst ernsthaft verhandelt, nachdem man sie gebumst hat. Keineswegs nötigend, sondern vielmehr in harmonischem Einverständnis. Als wäre Frau Kollegin erst dann zu gemeinsamen korrupten Machenschaften bereit, wenn Herr Kollege bewiesen hat, dass er bei ihr auch einen hochkriegt. Zumeist a tergo, damit man einandern nicht anblicken muss. Gutes altes Frankreich.

Je suis Marseille: Gerard Depardieu mit Benoit Magimel and Nadia Fares. Foto: Dominique Charriau/Getty Images.

Und böser alter Gérard. Der darstellerisch an seine Blütezeit in den 70-er Jahren erinnert. An den Dreier mit Robert De Niro und Dominique Sanda im Opus „1900“. An die nihilistische Orgie mit Ornella Muti in „Die letzte Frau“, als er sich kastrierte, weil sie nicht mehr wollte (interessiert? Klick HIER). Eine Blütezeit, die er in jüngerer Vergangenheit vorwiegend privat verfeinerte (das Urinieren im Flugzeug, die besoffene Fahrt im Scooter, das Love-in mit Putin etc). In Marseille ist Bürgermeister Depardieu wieder Gérard Depardieu. Einer der letzten alten Machthaberer, die bei #MeToo noch ungeniert „ja, mich auch“ sagen, wie in „mich kannst du auch am Arsch lecken“. Aber Marseille ist nur das neueste Vehikel einer massiven TV-Invasion. Im aktuellen, für BingeTV-Junkies maßgeschneiderten Miniserien-Kostüm erlebt die abgrundtiefe Seele der französischen Film Noir-Macherei seit einiger Zeit einen erstaunlichen Aufwind.

Bestseller: Sex & Drogen & Serienmorde
Die Macher hinter den TV-Bollwerken Canal Plus, TF1 und France Télévision referieren die Zahlen mit Hingabe: etwa €67.5 Millionen. Soviel brachten französische TV-Exporte im Jahr 2014 ein. Das Rezept: Inspiration von TV-Formaten wie Die Brücke oder House of Cards, dazu heimische Schauspieler mit erwiesener Zugkraft; plus gute, vom Geist alter Filmgrößen wie Truffaut und Godard beseelte Drehbücher. Macht in Summe unwiderstehlich spannende Serienthriller, gespickt mit Morden und Dramen und Sex, wie ihn nur die Franzosen inszenieren können. Nihilistische Spektakel, die nicht von ungefähr an die hohen Zeiten des Filmfrankreichs der 70-er Jahre erinnern – was sexuell gesehen keine schlechte Idee ist, wenn auch mit Obacht zu genießen. Die Filmwelt der 70-er (Der letzte Tango & Co) strotzte vor sexualisierter Gewalt. Aber eigentlich kamen die aktuellen Erfolgsprodukte erst nach 2014 so richtig auf Touren. Jede Menge neuer Serien, wenn auch mit stets gleichem Kern: Die wirklich Bösen sind immer in der Kleinfamilie zu finden, die Guten sind zumeist grantige zernudelte Cops jenseits des Ablaufdatums, und die schönen Töchter treiben es am liebsten mit den unmöglichsten Halunken.

Infoporn – Marseille:
Polit-Thriller mit Gérard Depardieu, Benoit Magimel, Stéphane Caillard
2. Staffel ab 23.2. 2018 auf Netflix

Welche französischen Serien wir außerdem empfehlen:

Patrick Ridremont und Pénélope Lévèque by Mascaret.

– Untergetaucht (En Immersion). Es ist eine neue Droge am Markt, Spitzname: der Teufel, den sie lieben. Einmal wie Crack konsumiert, wirst du die Sucht nicht mehr los. Das Zeug ist makellos getestet, die nordafrikanischen, von der Straße geholten Versuchskaninchen spüren keine Folter, wenn sie mal drauf sind. Das siehst du natürlich; in Schwarzweiß, very Noir. Die Serie startet so hart, dass die erste Zärtlichkeit nach zwanzig Minuten – ein an sich harmloser Dialog zwischen Vater und Tochter – den geneigten Zuschauer richtiggehend aufatmen lässt. Der Vater ist oben erwähnter zernudelter Cop, der dank Hirntumor (filmisch großartige Halluzinationen!) nur noch sechs Monate zu leben hat. Die Tochter, vom Typ her eine andere Charlotte Gainsbourg (die Nase!), ist leider mit einem Gfrast namens Quentin liiert. Die beiden sexen, als ob sie den Sex aus dem Weg haben wollen, aber sein muss er trotzdem, denn statt der Zigarette danach gibt es den Teufel, den sie lieben. Und die Frage, die dich im Lauf der irgendwo zwischen Breaking Bad und Hitchcocks Vertigo angesiedelten Serie beschäftigt, ist: Werden Vater und Tochter am Ende zueinander finden?

Infoporn – Untergetaucht (En Immersion):
Arte-Miniserie von Philippe Haim, mit Patrick Ridremont und Pénélope-Rose Lévèque
Schwarzweiß, auf Netflix
DVD: http://www.amazon.de/dp/B019C9Z6SU

 

– Ein eiskalter Fund (Glacé). Der in den französischen Pyrenäen spielende Sechsteiler beginnt mit einem wie eine Skulptur platzierten, vereisten Pferdekopf, an dem auch DNA eines Serienmörders gefunden wird – der allerdings inhaftiert ist. Es versteht sich von selbst, dass dem Pferd weitere Skulpturleichen folgen, mit entsprechenden Serienmörder-Links. Ein Rätsel, das der vernudelte Cop (Charles Berling) mithilfe der aparten Julia Piaton lösen muss. Weitere Selbstverständlichkeiten: Spuren, die im kleinen Szeneort zu Kleinfamilien führen, die seit Jahren ein peinliches Geheimnis hüten. Warnung: Man muss sich daran gewöhnen, dass in abgelegenen Orten moralische Normen ihren Wert verlieren, wenn die Alternativen fehlen.

Infoporn – Ein eiskalter Fund (Glacé):
Sechsteiler mit Charles Berling, Julia Piaton und anderen Aktricen, die wie Piaton aussehen.
Auf Netflix seit Anfang 2018

 

– La Mante. Die Gottesanbeterin (Mantis religiosa) ist eine besonders nette Fangschrecke. Der Name dieser Lauerjägerin ist nicht gegendert, hier dreht sich eben alles um das Weib. Wenn sie balzt, ist sie unwiderstehlich. Wenn sie sext, ist ihr Lover bald auch hinüber. So beginnt eine Wiener-Story, die sich mit dieser großartigen Serie beschäftigt. Interessiert? Dann klicke HIER.