Stefan Sterzinger: „Ein eigenes Koordinatensystem behaupten“

Der musikalische Grenzgänger Stefan Sterzinger – ein Portrait

Der musikalische Kosmos Stefan Sterzingers lässt sich schwer definieren, zu unterschiedlich seine Gewichtungen von Projekt zu Projekt, zu universal und unbeschwert der Zugang zur Musik, zu veränderungswütig der Künstler. Irgendwo, wo sich Blues, Wienerlied, Rock’n’Roll, G’stanzln, Weltmusik und Schlager wahlweise guten Tag oder gute Nacht sagen erfindet sich Sterzinger, bewaffnet mit Akkordeon, Singstimme und Geschichtenerzählerei, seinen Weg – und schlägt naturgemäß, um sich selbst nicht zu langweilen oder die gleiche Sache zweimal zu machen – in alle gegebenen, erdachten oder erahnten Richtungen aus. Das alles passiert in verschiedensten Formaten und Formationen: mit seiner Sterzinger Experience, im Soloformat, in der Dreier-Konstellation mit dem Nino aus Wien und Raphael Sas oder in diversen neuen Projekten, die gerade ausgebrütet werden. Schließlich geht es darum, Landkarten neu zu erfinden – oder, um es mit Sterzinger, dem Conferencier, Unterhalter, Quetschisten und Grenzgänger, zu sagen: „Ein eigenes Koordinatensystem behaupten. Darum gangats“.

Kindheit, Akkordeon und Blues

1957 wird Stefan Sterzinger im Wienviertel geboren, genauer gesagt in Kleinschönmein im Rußtal. Er wächst mit seiner Mutter, ihren fünf Schwestern und seiner Großmutter auf – eine frauendominierte Kindheit. Musikalisch ist der Haushalt nur teilweise, in seiner frühen Kindheit erinnert er sich an Blasmusik-Nachmittage, daran, beim Zusammensitzen, Volkslieder zu singen – jene, die man damals in der Schule lernte. Ob es seine Pflicht als Achtjähriger war, oder ob er aus freien Stücken damit begann, Akkordeon zu lernen, daran erinnert er sich nicht mehr so genau, erzählt Sterzinger – jedenfalls nimmt er vier Jahre lang beim örtlichen Musiklehrer Unterricht. Dass das Akkordeon unter Gleichaltrigen nicht den selben Coolness-Status wie beispielsweise Gitarre hat, ist ihm früh durchaus bewusst, dennoch kommt ein Instrumentenwechsel für ihn nicht in Frage.

Dass er allerdings irgendwann Berufsmusiker werden würde, kristallisiert sich erst später heraus. In seinen frühen Zwanzigern beginnt Sterzinger, Bands in seinen Heimatort zu buchen, wo er mit Freunden in den Räumlichkeiten eines Schlosses einen Non-Profit Jazz und Blues Club aufzieht. Im Zuge dieser Bookingtätigkeiten entsteht immer engerer Kontakt zu in Wien ansässigen Blues-Musikern aus den USA und England, Frank French, Kevin Lampert und ein Typ namens Mississippi Slow Jim, letzterer wird für Sterzingers Karriere als aktiver Musiker eine Art frühe Schlüsselfigur werden.

Mississippi Slow Jim

Nach der Matura zieht Sterzinger nach Wien, fährt am Wochenende immer heim. Auch wenn damals gerade Bands wie Drahdiwaberl durch das Land wüten, Sterzinger ist auf seinen anglophonen Blues-Kosmos fokussiert und hört Jazz. Unbestritten ist das die Wurzel seines musikalischen Lebens: der Blues – allerdings die rauen, räudigen Field Recordings, die haben für Sterzinger etwas Magisches.

Er will unbedingt im Metropol spielen, sagt Mississippi Slow Jim zu Sterzinger – die Betreiber aber wollen keinen Blues-Act, meinen, teilen mit, man solle doch einen Country & Western-Abend gestalten. Mississippi Slow Jim sieht ein Akkordeon bei Sterzinger rumstehen, fragt, ob er nicht mitspielen könne: so entstehen „Mississippi Slow Jim & Die Gamblers“ und damit quasi der Startschuss für Sterzingers Karriere. Nebenbei studiert er Soziologie, jobbt im Umfeld des zukünftigen Berufes, bricht das Studium jedoch noch vor der Prüfung ab. Lieber touren, zum Beispiel mit Mississippi Slow Jim durch Bayern, den er immer besser kennenlernt, auch seinen „Schmäh“. „Das kann ich auch“, denkt sich Sterzinger – und irgendwann ist die Wiener Cajun Combo gegründet.

„Wenn du in Lokalen oder auf der Straße spielst, spielst du quasi um deinen Leben“, sagt er und lacht. Genau das tut er dann in den nächsten Jahren intensiv, und vor allem an die Zeit der Straßenmusik erinnert er sich liebend gerne zurück, 1983/84 war das. Ungefähr zu dieser Zeit entsteht auch der Kontakt zu Hans Tschiritsch, einem Blues-Gitarristen, der sich später eher für Marionetten, Trichtergeigen und Stelzen gehen interessiert und später eine Reputation fürs selbstgebaute geräuscherzeugende Instrumente erlangt. Mit ihm tourt er in Südfrankreich und Spanien und beginnt, eine Bühnenfigur zu entwickeln – „mit Versuch und Irrtum“, wie er erzählt.

Franz Franz & The Melody Boys

Zwei Jahre später, 1986, gründet er dann „Franz Franz & The Melody Boys“ – eigentlich aus der Cajun Combo heraus. Zwei Jahre zuvor spielt er mit dieser in Schweinfurt auf einem Stadtfest, und wird gefragt, ob er nicht wiederkommen will. „Gerne, aber mit einer anderen Partie“, antwortet Sterzinger. Zeitgleich entsteht aus einem Auftrag des Serapiontheaters in Wien anlässlich der Festwochenproduktion „Anima“ eine neue Partie: mit Sterzinger, Tschiritsch sowie Vincenz Wizlsperger und Heinz Ditsch (beide später beim Kollegium Kalksburg). Mit der Partie fährt Sterzinger dann auch nach Deutschland, Generalprobe in München auf der Straße, dann Schweinfurt.

Bis 1994 gibt es Franz Franz & The Melody Boys, danach macht Sterzinger einige Jahre nur noch Theaterproduktionen. Aufträge von den Wiener Festwochen oder dem Donaufestival. Ein Jahr lang ist Sterzinger auch Geschäftsführer vom Shabu, einer Absinthbar in Wien – ein Job, den er gerne macht. Ende 2002 fängt er als musikalischer Leiter im Volkstheater an und macht fünf Produktionen, konzipiert die Musik und spielt auch selbst. So macht er unter anderem eine Wienerlied Revue und widmeteeinen Abend auch Fritz Löhner-Beda (dem Librettisten von Franz Léhar) – und somit kommt auch die intensive Beschäftigung mit Wienerlied und Schlager, die für Sterzinger ein essenzieller Teil seines Schaffens wird.

Sterzinger bastelt sich ein Repertoire, und erarbeitet auf Auftrag ein Stück namens „1000 Jahre Austropop – oder: alles G’stanzl?“. Textmontagen in G’stanzlform, Bruchstücke von Texten von Richard Tauber über Heinz Conrad bis Falco. „Ich hatte Zeit, sagt die Pomeranze / es war in Wien, er war so populär / Griechischer Wein, siehst ned, dass ich tanze?“. Wenn Sterzinger einen Zugang zum Austropop fand, dann darüber: über den Text. Den Terminus findet er höchst fragwürdig, auch mit dem mittlerweile inflationär gebrauchten Begriff „Wienerlied“ kann er nur bedingt was anfangen.

Solo.

Im Oktober 2008 erscheint dann seine erste, selbstbetitelte Solo-CD. Ein unmittelbares, ungekünsteltes Album will er machen – ein Album, das so klingt, als sitzt Sterzinger gerade bei einem im Wohnzimmer und spielt etwas vor. Eine ehrliche, unmittelbare Platte, intim, nichts Aufgeblasenes. Das selbe gilt auch für sein nächstes Projekt, die Sterzinger Experience – diesmal mit größerer Besetzung. „Rock’n’Roll“ heißt das Album der Experience, das 2011 erscheint: drei Akkordeons, Geige, Bass und Schlagzeug. Metropol, Jazzfest Saalfelden, Sargfabrik Wien, Jazz It Salzburg, Akkordeon-Festival Finale zusammen mit der Ernst Molden Band und ein ausverkauftes Porgy & Bess zu Weihnachten: nur ein Auszug dessen, was Sterzinger in letzter Zeit gespielt hat.

Es entwickeln sich einfach super Sachen“, erzählt er. Zum Beispiel jene Lesungen, die er heiß liebt, wie er sagt: das Fräulein Gustl-Projekt, die Artmann Lesung, die Weihnachtsgeschichten mit Katharina Stemberger – und da ist auch noch das Trio mit dem Nino aus Wien und Raphael Sas, das ihm sehr am Herzen liegt: quasi eine Dreier-Conference, wo jeder zuerst solo spielt, ehe es zu einem gemeinsamen Set kommt.

Die Experience bleibt als „hysterische Partie“ auch weiterhin in einer Form bestehen, ein anderes Projekt widmet sich sehr um den Klang (unter anderem spielt Schlagzeuger Jörg Mikula auf einem Schlagzeug aus Pappe, Kristian Musser spielt E-Gitarre, Maria Craffonara singt und spielt Marimba – Premiere feiert das ganze zu Pfingsten im Stadtsaal).

Und da wäre auch noch das Projekt „The Fury Loves You“ mit seiner irrsinnigen Geschichte, die mir Sterzinger beim Kaffee detailliert und wunderbar unterhaltsam erklärt. Nur soviel: es geht um Geheimdienstkompositeure des KGB, die deutschsprachige Schlager schreiben, um Wienerlied-Flüchtlinge, Dampfschiffsjungen, den Kampf gegen Elvis, Coke und Vinodino. Das Ende des Protagonisten des Stücks verrät mir Sterzinger am Ende des Gesprächs noch lachend:

Sterzinger: „Es wird immer ausufernder, und die Frage stellt sich am Ende der Performance: was wurde aus Franz Xaver Günther? Er verdient sein Gnadenbrot als Wienerlied-Sänger im Garten einer Absinthbar in Novosibirsk. Ein Ganzjahresjob, nur ist es so kalt, dass ein Ton bevor er klingt, friert und runterfliegt. Und der Typ spielt und singtden ganzen Winter und legt musikalische Spuren – und in den zwei Monaten wo die Tundra taut, fliegt er auf Urlaub – und alles klingt (lacht)“.