Im Gespräch: Jared Leto: Sänger, Schauspieler, Schuster

Für seine Rolle in „Dallas Buyers Club“ holte er soeben einen Oscar, auch mit seiner Band „30 Seconds to Mars“ sorgt er für Furore. Multitalent Jared Leto im Interview.

Ein aufgedrehtes Entchen. Mit breitem Grinsen durch den Schnee watschelnd. Es trägt eine Fellhaube, einen Schladminger und irgendetwas Undefinierbares darunter (ja, es könnte eine Decke sein). Es sagt: „Ich friere mir hier den Arsch ab.“ Es ist: Jared Leto. Wir schreiben den 3. Dezember 2011. Jared Leto steht mit seinem Bruder Shannon, heute 43, und Tomo Milicevic, 34, im Schladminger Schnee. Gemeinsam sind sie „30 Seconds to Mars“. In ein paar Stunden werden sie hier das letzte Europa-Konzert einer mehr als zwei Jahre währenden Tour spielen. Über 300 Auftritte liegen hinter ihnen. Eine Zahl, die sie ins Guinness Buch der Rekorde gebracht hat. Jared Leto wird schlussendlich sogar, noch immer mit der Fellmütze auf dem Kopf, ins begeisterte Publikum springen. Doch noch steht er hier, hier im Schnee, und beantwortet Journalistenfragen. Sehr ruhig, sehr höflich. Ja, natürlich würde es sehr emotional werden, Tränen würden fließen, und Tränen würden frieren, sagte er. Und grinst wieder.

Schnitt. Mehr als zwei Jahre später. Der WIENER trifft Jared Leto zum Interview. Schladming hat der mittlerweile 42-Jährige nicht vergessen. Noch immer nicht. Das hat zwei Gründe. Erstens: Er erinnert sich an den Janker, den ihm der Bürgermeister damals überreicht hat: „Ich habe fürchterlich gefroren“, sagt er, „deshalb war diese schwere Jacke ein richtig sinnvolles Geschenk.“ Zweitens: Nach dem umjubelten Konzert ist er sofort ins Hotelzimmer geflüchtet: „Und dort habe ich noch in derselben Nacht ,Up In The Air‘ geschrieben.“ Der Song war die erste Single des aktuellen Albums „Love Lust Faith +Dreams“. Das überlange Video (8 Minuten 31 Sekunden) mit Auftritten eines Löwen, eines Wolfes, eines Zebras, einer Schlange und Dita von Teese ist längst zigmillionenfach geklickt.

Der Erfolgsweg des Jared Leto

Geboren: am 26. Dezember 1971 in Louisiana Aufgewachsen: auf Haiti und in Colorado Größe: 1,75 m Gewicht: in „Dallas Buyers Club“ nur mehr knapp 60 Kilo; für die Rolle des an AIDS erkrankten Rayon nahm er 18 Kilo ab Ausbildung: Abschluss der Emerson Preparatory School in Washington 1989, danach Studien in Philadelphia und New York City Durchbruch: Mitte der 1990er-Jahre in der Fernsehserie „Willkommen im Leben“ Schauspielkarriere: Anfang der Nuller- Jahre spielt Leto auch in ernstzunehmenden Produktionen wie „Requiem for a Dream“ oder „Panic Room“ Musik: Er ist Sänger, Gitarrist und Songwriter der Alternative-Rock-Band „30 Seconds to Mars“, die er mit seinem Bruder gegründet hat. Die Band hat Millionen an Tonträgern verkauft Erfolg: Golden Globe und Oscar 2014 als bester Nebendarsteller für „Dallas Buyers Club“

Aktuell hat er gerade ein launige Fotosession mit Terry Richardson absolviert (Leto in Winterjacke im Freien, Leto mit nassen Haaren und weißem Handtuch um die Hüften). Er ist sichtbar gut in Form, nachdem er für seinen golden-globe-gekrönten Auftritt in „Dallas Buyers Club“ 18 Kilo abgenommen hat. Es ist aber nicht das erste Mal in seiner Karriere, dass Leto mit geradezu dramatischen Gewichtsschwankungen aufhorchen lässt. Für die Rolle des Heroinjunkies Harry Goldfarb in „Requiem for a Dream“ speckte er zwölf Kilo ab. Als John-Lennon-Mörder Mark David Chapman in „Chapter 27“ futtert er dagegen 32 Kilo hinauf. Doch selbst für ihn, für einen Mann extremer Transformationen, war eine Rückkehr zum normalen Leben nicht einfach: „Wenn du so lange gehungert hast, kannst du nicht einmal einen Teelöffel voll essen, weil du sofort satt bist.“

Sein Auftritt als spindeldürrer Rayon hat Jared Leto nicht nur einen Golden Globe beschert, er gilt seither auch als heißer Oscar-Kandidat. Die Academy mag Verwandlungen wie die seine: „Nicht in einer Million Jahren hätte ich diese Resonanz für möglich gehalten“, sagt der immer noch überwältigte Schauspieler.

Sein Comeback in dem Aids-Drama ist auch für Hollywood-Insider ein Wunder, denn es ist Letos erster Film nach einer fünfjährigen filmischen Schaffenspause. Die allerdings nicht ganz freiwillig war. Denn Leto, der sich nebenbei als Frontman von „30 Seconds to Mars“ einen Namen gemacht hat, lag im Clinch mit seiner Plattenfirma. Virgin/EMI verklagte die Alternativrocker wegen Vertragsbruch auf 30 Millionen Dollar. „30 Seconds To Mars“ hatten nur zwei der fünf vereinbarten Alben abgeliefert. Die Dokumentation „Artifact“ gewährt Einblick in diesen Streit. Regie führt ein gewisser Bartholomew Cubbins, und hinter diesem Pseudonym steckt niemand geringerer als Jared Leto selbst. Das Tauziehen endet schließlich mit einer außergerichtlichen Einigung.

Von Schladming nach Dallas und zu deiner Rolle im Drama „Dallas Buyers Club“: Warum hast du nach sechs Jahren Hollywood-Abstinenz ausgerechnet diese Rolle angenommen? Ich habe auch Rayon einige Male abgelehnt, weil ich dachte, das ist eine der typischen Hollywood-Dragqueen-Rollen. Erst während des Tourstopps in Berlin habe ich das Drehbuch schließlich gelesen und festgestellt, Rayon ist eine lebensbejahende, sensible Frau, die ihre Verletzlichkeit kaschiert.

Hast du dich in Vorbereitung auf die Rolle mit transgender Frauen getroffen?

Ja, am meisten hat mich die Geschichte des 14-jährigen Daniel bewegt, der als Mädchen geboren wurde. Seine Erfahrungen und Einblicke waren die wertvollsten. Durch den tieferen Zugang konnte ich die typischen Stereotypen aussparen.

Wie hast du dich in Frauenkleidern gefühlt und welche Erfahrungen hast du gesammelt?

Perücke, Stilettos, falsche Wimpern und Make-up sind ein Klacks. Selbst das Rasieren ist erträglich. Aber die Stützstrümpfe, die sind die Hölle! Man bekommt keine Luft und hat das Gefühl, dass jeden Augenblick die Blutzirkulation abstirbt. An einem Drehtag musste ich sogar zwei Paar übereinander tragen. Ich beneide keine Frau, die diese Dinger tragen muss. Was die Reaktionen auf Rayon betrifft: Im Supermarkt starrten mich vorwiegend Frauen an, wahrscheinlich weil ich so spindeldürr war. Bei Männern hingegen muss mein fragiles Aussehen den Beschützerinstinkt hervorgerufen haben. Es verging kein Tag, an dem mir nicht ein Mann zuvorkommend die Tür öffnete, was ich äußerst charmant fand.

„Dallas Buyers Club“ setzt sich mit Vorurteilen gegenüber Transgender und Aids-Patienten auseinander. Wann bist du mit dieser Problematik erstmals konfrontiert worden?

Kurz nachdem ich nach Los Angeles übersiedelte und ein Zimmer in einer Dreizimmer-Wohnung mietete. Neben der Vermieterin wohnte ein ca. 40-jähriger Mann, der an Aids erkrankt war. Noch nie zuvor bin ich einem Aids-Patienten begegnet, nun verfolgte ich täglich den gesundheitlichen Verfall. Bis zuletzt bewahrte mein Zimmernachbar seinen Humor. Diese Bekanntschaft lehrte mich größeres Verständnis und vorurteilsfreier im Umgang mit Mitmenschen zu sein.

Seit deinem Gewinn bei den Golden Globe Awards wirst du wahrscheinlich mit Rollen überhäuft werden. Hast du konkrete Filmpläne?

Keine konkreten Pläne. Eine Rolle muss außergewöhnlich und lebensverändernd sein, so wie Rayon. Dass ich den Golden Globe gewonnen habe, hat mich überwältigt, weil ich in der Kategorie der besten Nebendarsteller der Außenseiter war, wie Rayon. Ich würde es nicht anders machen als bisher. Geld ist für mich keine Motivation.

Warum hast du eigentlich am Höhepunkt deiner Karriere Hollywood den Rücken gekehrt?

Es war nicht meine Absicht, so lange keinen Film zu drehen. Aber irgendwie sind die fünf Jahre im Handumdrehen vergangen. Ich dachte oft an die Worte von Regisseur Terrence Malick, den ich fragte, warum er 22 Jahre keinen Film gedreht hatte. Terrence antwortete: „Keine Ahnung, die Zeit ist einfach im Flug vergangen.“ – Genauso empfand ich es.

Jetzt, nach diesem fulminanten Comeback, bereust du, nicht früher nach Hollywood zurückgekehrt sein?

Nein, weil die Distanz mir gutgetan hat. Man lernt, viele Dinge mit anderen Augen zu sehen. Ich kann nur jedem eine Auszeit empfehlen, seinem Herzen zu folgen und Träume auszuleben.

Welche Träume hast du ausgelebt?

Ich studierte Meditation in Indien und erlernte wie Daniel Day Lewis in Italien das Handwerk des Schusters. Außerdem tourte ich mit meiner Band „30 Seconds to Mars“ zwei Jahre um die Welt – auf unsere Eintragung im Guinness Buch der Weltrekorde bin ich sehr stolz. Überschattet wurde diese Zeit von der 30-Millionen-Dollar-Klage. Unseren Alptraum mit EMI hielt ich in der Dokumentation „Artifact“ fest. Wir mussten klein beigeben, sonst wären wir bis an unser Lebensende verschuldet.

Siehst du dich als Rockstar oder Schauspieler?

Ich fühle mich als ewiger Student. Mich fasziniert, wie man mit viel Fantasie und Kreativität aus nichts etwas erschaffen kann. Das gilt für alle Bereiche in der Kunst. Die Schauspielerei war für mich anfangs das Sprungbrett zur Regie, dann formierte ich gemeinsam mit meinem Bruder Shannon „30 Seconds to Mars“. Im Unterschied zur Schauspielerei trage ich als Rockmusiker keine Perücken, falsche Wimpern, Stilettos und Stützstrümpfe.

Wo siehst du dich in 20 Jahren?

Keine Ahnung. Ich möchte so viele Dinge ausprobieren und die Welt auskundschaften, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich in 20 Jahren Filme drehe und Konzerte gebe.

Deine Definition von Freiheit?

Ohne Einschränkungen und Vorgaben Träume auszuleben und im Unbewussten ankommen.