• SEX & DER WIENER

Jede Zeit hat den Sex, den sie verdient. Der Wiener berichtete, zuerst als Beobachter aus der Ferne, später dann auch „first source“.

Text: Manfred Sax. Titelfoto: Flora P.

Das Inserat war sachlich gehalten, es zeigte eine geköpfte schlanke Frau und offerierte „bei gegenseitigem Gefallen mehr“. Also riefen wir an, und es meldete sich ein Mann namens Sigi, der sich hocherfreut gab, aber sofort anmerkte, dass Dienstag ein schlechter Tag für ein Date sei. Da hätte Gattin Traudl zwar ihren Kopf, dafür aber auch die Regel. Hm.

Es kommt nicht alle Tage vor, dass du mit einem wildfremden Mann telefonierst, der dich binnen Sekunden über die Menstruation seiner Gattin ins Bild setzt. Das war in jenen Tagen nicht anders, selbst bei Telefonaten mit Christine (damalige) Lugner brauchte es mitunter fünf Minuten, bis wir über Tampons fachsimpelten. Es lag wohl an der Natur des Biests: Der WIENER hatte gerade zu einer kleinen Serie hautnaher Sexreports angesetzt. Undercover, wenn auch nicht bis unter die Tuchent. In diesem Fall war ich mit der blutjungen Kollegin Karen Müller in Österreichs Swingerland unterwegs, einer anonymen, von Fräulein Geilbolds und Direktor Gliedigs bevölkerten Welt, wo „einsame Paare Einsame zum Einsamen“ suchten. Via Kontaktmagazine, die in Trafiken „unter der Budel“ verkauft wurden.

Hier ist wohl ein Einschub fällig: Vergessen Sie Handys und Webwelt und Gendering und Gaga. Denken Sie stattdessen Print und G-Punkt und Prince. Und denken Sie WIENER, die „Zeitschrift für Zeitgeist“, die bunt und konsumfreudig aus einer weitgehend grauen österreichischen Medienlandschaft hervorstach. Chefredakteur Michael Hopp hatte begonnen, die ursprüngliche Stadtzeitung zur Österreich-Illustrierten umzubauen. Mit der Story über die Entdeckung des G-Punkts der Frau (September 1983) war der WIENER laut damaligem Herausgeber Alexander Lonyay am „G-Punkt der Zeit“ angelangt. Die Ausgabe musste nachgedruckt werden.

Das Thema Sex war beim WIENER fortan ein Fixpunkt. Verständlich – es gab sonst kaum Quellen. Und es gab Nachholbedarf. Die einschlägigen Experten hießen Doktor Sommer (Zeitschrift BRAVO), der Fragen wie „werde ich vom Küssen schwanger?“ abklärte. Die heimischen medial präsenten Sexperten – Ernst Bornemann, Gerti Senger, Rotraud Perner – waren thematisch bereits recht detailverliebt bei der Sache (Senger: „Klitoris nicht mit kalten Händen anfassen!“, Perner: „Brustwarzen nicht gegen den Uhrzeigersinn streicheln!“). Was fehlte, war ein gesellschaftlicher Kontext. Um den sich der WIENER bemühte (Zeitgeist!). Weil nun mal jede Zeit den Sex hat, den sie verdient. Bald wusste die Zeitschrift für Zeitgeist auch, wie weit sie gehen konnte: bis zum Ding von Pornostar Long Dong Silver (Videos, die alles zeigen, März 1985), dessen 52cm eine Doppelseite erforderten.

Allerdings informierte die Redaktion lange Zeit nur via coole Quellen (Interview USA, The Face GB, Actuel, Paris), die in Österreich schwer erhältlich waren. Was vermutlich mit der relativ jungen Redaktion zu tun hatte. Mit 25 Jahren warst du im WIENER der 80er Jahre bereits ziemlich alt. Zum Großteil aus wohlhabenden Häusern kommend, hatten die jungen Journos zwei Dinge gemeinsam: Sie sahen, erstens, David Bowie weniger ähnlich als Hopp (redaktionsintern bekannte Bedingung). Und sie kannten, weil einzige Zeitschrift für Zeitgeist, thematisch keine Grenzen. Das konnte auch dazu führen, dass in Redaktionssitzungen „fünfzehn Leute sechs Stunden lang total ernsthaft über multiple männliche Orgasmen diskutierten“ (Peter Praschl). Aber irgendwann (1987) hatte es sich mit dem Reden. Es sollte auch gemacht werden. Der WIENER ging „first source“.

Nachdem der WIENER bereits 1983 als erste heimische Zeitung fotografisch bezüglich Aids informiert hatte, wurde ein Reporter als vermeintlicher HIV-Positiver auf Aufriss geschickt. Mit voraussehbaren Konsequenzen: Es ist gar nicht so leicht. Aber immerhin bot der Pater Principal vom Wiener Franziskanerkloster Herberge plus die Chance einer Karriere als Mönch („Wir berühren einander ja nicht, zumindest sollten wir es nicht tun“).

„Fünfzehn Leute diskutierten sechs Stunden lang total ernsthaft über multiple männliche Orgasmen.“ (Peter Praschl)

Mit dem Anbruch der 90er Jahre wurde das Thema Sex zur vom Zeitgeschehen unabhängigen „Nische“, die es zu füllen galt.

Nach einer Art Selbstfindung – Redakteur Michael Kreissl informierte als erster Journalist in Europa über den Yuppie – gab sich ein als englischer Karrieremann getarnter Reporter die entsprechenden sexuellen Alternativen, soll heißen die Dienste der Wiener Escortfirmen. Folgerichtig ging es vor allem um Fremdsprachenkenntnisse der Damen (französisch, griechisch etc). Das brachte den bestverkauften WIENER bis dato (Mädchen für eine Nacht, November 1987).
Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass die Ideen zu diesen First-Source-Reports (Swingerland, Escort-Service) zumeist vom Fotografen Erich Reismann stammten, der auch in langer, nicht ungefährlicher Recherche die Story Kriemhilds Töchter – die Frauen der Neonazis (September 1987) einfädelte, welche die Eitelkeit des damals nur untergrundaktiven VAPO-Bosses Gottfried Küssel ausreichend bewegte, um eine Fotoreportage nicht zu verhindern. Wodurch die heimische Polizei gezwungen wurde, sich mit der Bande zu befassen und Küssel dorthin zu befördern, wo er hingehört.

Im Frühling 1988 besuchte der WIENER das Berliner Tantra-Zentrum Antinous, dessen selbsternannter Guru Andro alles unternahm, damit „das erleuchtete Herz auch mal in die Genitalien gelangt“. Manchmal verstand ich wirklich nicht, wie ich es verdiente, nach Berlin zu fliegen und eine süße nackte Ostdeutsche auf meinen Schoß zu platzieren – und dafür auch noch Geld bekam.

Mit Anbruch der 90er Jahre hatte es sich auch mit den First-Source-Reportagen. Der Zeitgeist wurde dem WIENER abgeschminkt, an Stelle der „genialen Dilettanten“ der ersten Jahre saßen altgediente Profis in der Chef-Etage (Gerd Leitgeb, Wolfgang Höllrigl). Das Thema Sex war nun eine vom Zeitgeschehen unabhängige „Nische“, die es zu füllen galt. So kam es, dass der WIENER eine Story platzierte, noch ehe das Thema in Zeitgeistverdacht rückte. Die wunderbare Autorin Roxane Legenstein lieferte ein Gesamtkunstwerk zum Thema Blowjob ab, von der geografischen Annäherung bis hin zum Vitamingehalt von Sperma. Mehr als ein Jahr später kam es zur notorischen, heute noch allseits bekannten Aktion am Gemächt des Amerikaners Bill Clinton. In der Popkultur regiert seither der Blowjob pur, er war und ist omnipräsent – ebenso wie der sogenannte „verunsicherte Mann“, der als Begriff so alt ist wie die Postfeministin (also die mit dem BJ als Accessoire). Was der WIENER denn auch thematisierte (Rette sich wer Mann, … 1998).

Mit Beginn des 21. Jahrhunderts gelang dem neubestellten Chefredakteur Peter Mosser ein kleines Wunder. Im Dezember `99 wurde der Verkauf des WIENER-Logos (an ETM-Lifestyle Zeitschriften Verlag) offiziell. Einen Monat später war das neue Männermagazin WIENER, produziert von einer völlig neuen Redaktion, am Markt. Sex war fortan eine monatliche Kolumne („Sex für Fortgeschrittene“), die sich wieder zum Weltgeschehen bezog. Der deutsche Kassenschlager Schuh des Manitu wurde mit dem Thema „Morgenlatte“ gewürdigt (November 2001), die Irak-Invasion brachte unter anderem die zweifelhafte Soldatenmarotte „Fieldfuck“ (Mai 2003), ausgerechnet der Fußball steuerte dank David Beckham den Metrosexuellen als Typ der Nullerjahre bei (September 2003), und natürlich war da wieder der Blowjob, Paris Hilton sei Dank (Februar 2006). Die via Internet einsetzende Pornoflut machte auch die sympathische Grazerin Renée „Ösimösi“ Pornero zum Star. „In einer Branche, in der es leicht auf und ab geht, reißt es Renée ziemlich hin und her, zwischen Graz und Hollywood lässt sie sich von vorn und hinten bedienen und arbeitet sich dabei von unten nach oben“, formulierte es Textchefin Andrea Fehringer, wie nur sie es kann.

Die Zeit fördert ständig neue horizontale Blüten, es gibt heute Twittersexuelle und Sapiosexuelle, es gibt so verdammt viel zu erzählen. Gut, dass es den WIENER gibt. So einer geht nicht unter.