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Stermann: Aus dem Nähkästchen

Mein neuer Roman heißt „Der Junge bekommt das Gute zuletzt“ und handelt von einem 13­jährigen Buben, dem das Leben, vorsichtig formuliert, übel mitspielt. Tatsächlich geschehen ihm so furchtbare Dinge, dass man mit den Tränen kämpfen muss. Mir ging’s beim Schreiben nicht anders als jenen, die den Roman jetzt lesen. Nun werde ich immer wieder einmal gefragt, ob ich selber eine harte Kindheit hatte. Nein, mein Buch ist, Gott sei Dank, nicht autobiografisch. Meine Eltern haben sich nicht getrennt und eine Wand durch die Wohnung gezogen, und ich musste mich nicht alleine durchs Leben schlagen. Mit 13 beschloss ich, Schriftsteller zu werden, oder Komiker. Weil ich von meinem Vater für eine Geschichte, die ich geschrieben hatte, 50 Pfennig bekam, und für einen Witz, der ihm gefiel, die gleiche Summe. Mein erster Verdienst. Geschichten und lustige Sätze erfinden, das schien mir eine gute Berufswahl. Mit 18 habe ich dann im Selbstverlag einen Band mit kurzen Texten herausgegeben. Ich ließ in der Druckerei eines Bekannten meiner Eltern 500 Exemplare drucken, das Geld dafür hatte ich in den Ferien am Bau verdient. Ich bewarb mich bei einem Textwettbewerb und „gewann“ eine Lesung im Foyer der Stadtwerke Düsseldorf. Zwischen Fotos von Heizkraftwerken und Wasseraufbereitungsanlagen las ich vor vier verwirrten Besuchern.

Nach der ersten Lesung meines Lebens kam eine alte Frau zu mir. Sie war 32 und trug eine Nickelbrille. Klein war sie, und schmächtig, ihr Gesicht erinnerte an einen undefinierbaren Vogel. Sie sei Kommunistin, sagte sie, und arbeite in einem Verlag als Grafikerin. Ob ich am nächsten Tag Zeit hätte, mit ihr etwas zu trinken. Nein, antwortete ich. Am nächsten Tag hätte ich eine Operation, da sei ein Treffen wegen der Vollnarkose kaum möglich. Sie nickte verständnisvoll, wollte aber meine Telefonnummer haben. Ich gab sie ihr und verließ das Foyer. Am nächsten Tag wurde ich operiert. In einem urologischen Krankenhaus holte man meinen linken Hoden aus der Leiste und überführte ihn in den für ihn angenehmeren und so ja auch vorgesehenen Hodensack. Ich weiß nicht, ob man das heute auch noch macht, aber damals wurde nach dem Eingriff der Sack an den Oberschenkel genäht, um so dem Hoden Ruhe und Zeit zu geben, sich an seinem neuen Platz einzuleben. Mein Hoden und ich waren sehr erschöpft. Wir zwei lagen im Bett und seufzten. Es tat weh und der Gedanke an die Näharbeiten ließ mich und ihn wahrscheinlich auch schaudern. Nach zwei Tagen klopfte es an der Tür meines Krankenzimmers. Die Kommunistin stand in der Tür, im Arm einen riesigen Geschenkkorb mit Obst und Sekt, mit Besteck und einem rot­weiß karierten Tischtuch. Als wollte sie mich zu einem Picknick einladen. Sie hatte meine Mutter angerufen und von ihr erfahren, in welchem Spital ich lag. Sie schob den Besucherstuhl nah an mein Bett und gab mir einen Kuss auf den Mund.

Dann schob sie ihre Hand unter meine Decke auf meinen frisch operierten Sack. Ich schrie auf vor Schmerz, Schwestern und Pfleger kamen in mein Zimmer gestürmt, die Kommunistin mit dem Vogelgesicht wurde aus dem Spital geworfen und ich lag da mit dem Picknickkorb. Obwohl meine Mutter ihr erzählt hatte, an welcher Stelle ich operiert worden war, hatte sie sich schnellen Sex im Krankenzimmer vorgestellt. Aber wer schon einmal seinen Hodensack aus Versehen an seinem Oberschenkel festgenäht hat, wird wissen: Sex ist auf der Liste der Wünsche bei angenähtem Sack nicht in den Top 100. Meine Mutter wurde vor wenigen Tagen 75. Ich schenkte ihr ein druckfrisches Exemplar meines Romans. Sie las sich den Text auf dem Buchrücken durch. Hattest du eine so schwere Kindheit, fragte sie. Nein, sagte ich. Das Buch ist nicht autobiografisch. Ich hab mir das ausgedacht. Meine Jugend war in Ordnung. Sie nickte zufrieden. Übrigens, sagte sie. Ich hab im Keller noch immer diesen Picknickkorb stehen. Von dieser Irren, die damals bei dir im Krankenhaus war. Was wollte die eigentlich von dir? Nichts, antwortete ich. Picknicken wahrscheinlich. VerrÜckt, sagte meine Mutter und begann, meinen Roman zu lesen_Dirk Stermann.
kolumniert seit Jahren im
WIENER, heißt wöchentlich
Österreich willkommen und
ist erfolgreicher Autor.