AKUT
SCHACHSÜCHTIG
Seit 20. Dezember werden im Wiener Café Museum Fotos von Erich Reismann ausgestellt, die Abbilder der legendären Schachspieler in den 1980er Jahren zeigen. Entstanden sind die Bilder im Zuge jener legendären Reportage namens „SCHACHSÜCHTIG“ des Dream-Reporterteams Sax/Reismann in der WIENER-Ausgabe 1/1988, die wir hiermit aus dem Archiv holen.
Bei der Weltmeisterschaft in Sevilla sind wir nur Kiebitze. in Wien’s Schachmekka, dem Café Museum, erreicht das königlichke Spiel jedoch Weltniveau. Manfred Sax und Erich Reismann berichten über eine kleinkarierte Welt.
Der Schachraum des Wiener Cafes ,,Museum“ ist wie eine Opiumhöhle. Über allem liegt Rauch. An sechs Tischen sitzen je zwei regungslose Gestalten einander gegenüber, getrennt durch ein schwarz-weiß kariertes Brett, auf das beide starren. Gelegentlich umringt sie eine Traube nicht ganz so bewegungsarmer Zuseher. Entschließt sich einer darunter zu einer Meldung, heißt es sofort ganz scharf: ,,Kusch, Kiebitz!“
Bei schärferem Hinsehen sind auf den Brettern schlichte Figuren erkennbar. Ab und zu erwachen die Hauptakteure aus der scheinbaren Trance, ergreifen manisch eine Figur, stellen sie auf ein neues Feld und erstarren erneut. Oft begleiten sie dieses Tun mit einer gezischten Ansage: ,,Schach is‘ ! „, zum Beispiel, oder: ,,Kontra!“ Manchmal auch sind zwei Kontrahenten auf Speed. Dann stellen sie eine Uhr mit zwei Ziffernblättern neben das Brett, nehmen lauernde Haltung ein, beginnen wie wild Figuren zu ziehen und klopfen dazwischen auf die Uhr. ,,Blitzen“ nennen sie das.
Für Herrn Löffler ist das nicht mehr das Wahre. Er ist ein Typ zwischen 60 und zeitlos. Winters spaziert er manchmal in der kurzen Hose ins Lokal. Und immer klemmt ein Plastiksack unter seinem Arm. Wenn er das Zimmer betritt, mustert er kurz die schachspielende Infrastruktur und gibt sich herausfordernd: ,,Wo is a Spüler mit vü Geld und is schwächer als i?“ -Niemand fühlt sich angesprochen. Nur der sogenannte „Kärntner“ spielt gern einen Zehner mit dem Löffler aus.
Die beiden kennen einander eine Ewigkeit. Zwischen ihnen ist alles gesagt. Was sie eint, ist ihre Passion für die Droge Schach, und wenn sie drauf sind, reden sie fürwahr seltsam daher:
Kärntner (warnend): ,,Dominus vobiscum!“
Löffler (kühl): ,,Da is‘ glei, wo bist, kumm.“
Kärntner (triumphierend): ,,Du Proletowsk-Chiang-KaiShek-und-Tschernobyl, du!“
Löffler (beim Anblick eines weiblichen Kiebitzes): ,,I brauch ka Pupp’n, i brauch Kartoffelsupp’n.“
Meistens gewinnt der Kärntner. Er spricht dann von einer schönen Partie. Der Löffler will aber nur im Verschwinden des Kärntners Schönheit sehen, in aller aggressiven Freundlichkeit.
So ist das im Cafe „Museum“. Und wer vor 20 Jahren hier war, hat auch damals den Löffler gegen den Kärntner spielen gesehen. Sie sind echte Museumsstücke. Aber erzählen wollen sie nicht darüber. Nicht mal Anekdoten. Denn die Wirklichkeit sei grausamer als jede Anekdote, meint der Löffler.
Für Nichtwiener: Das Cafe ,,Museum“ liegt am nordwestlichen Zipfel des Karlsplatzes, dort, wo sich der Zustrom von der Westautobahn ins Stadtzentrum ergießt. Die Innenausstattung des Kaffeehauses wurde 1897 von Adolf Loos erdacht, jenem Architekten des Aufbruchs, der Wien aus seiner Traditionshaft befreien und in Richtung internationale Metropole bewegen wollte. Die ersten zehn Jahr hieß das Cafe denn auch „Capri“.
In der Besatzungszeit genoß das ,,Museum“ den Ruf des besten Umschlagplatzes für Nylonstrümpfe und ,,Lucky strike“. Es war Stammcafe der englischsprechenden Soldaten, und der „lange Hans“ bediente sie. Heute noch fragen amerikanische Veteranen nach dem „long John“. Und heute noch werden Gäste mit „Hello fräänz, shake your häänds“ begrüßt. Seit etwa zwei Jahrzehnten wird hier Schach geduldet. Da das ,,Laudon“ nicht mehr spielen läßt, ist das „Museum“ Wiens wesentliches Schachcafe.
Die Frau muß das schwache Geschlecht bleiben. Man möchte sie lieben. Darunter auch wegen ihrer Schwäche.“
Garri Kasparow, Schachweltmeister
Schach in Österreich ist eine traurige Sache. Man weiß hier nicht einmal, ob es ein Sport ist. Am ehesten wird es noch der Politik zugerechnet und dementsprechend eingesetzt. Vor den Präsidentschaftswahlen organisierte Kurt Steyrer ein Turnier mit elf Großmeistern im Wiener Hilton. Gegen ExWeltmeister Karpow spielte er eindrucksvoll remis. Nichtschachspieler Kurt Waldheim stand unter den Kiebitzen. Dabeisein war wieder einmal alles. Leider täuscht Steyrers Remispartie. Österreichs Schach ist Dritte Welt. Unsere Nummer eins, Josef Klinger, ist etwa die internationale Nummer 160. Und die Schach-WM ’87 in Sevilla fand praktisch in massenmedialer Abwesenheit Österreichs statt.
Nur in Plätzen wie dem ,,Museum“ ist zu solchen Zeiten spürbar mehr los, wenn auch nur quantitativ. Da verirrt sich mitunter sogar eine WM-Partie auf ein Brett und wird in einer Geheimsprache analysiert. Was primitiver ist, als man denkt. Man muß nur mit dem ersten Drittel des Alphabets vertraut sein und bis acht zählen können. Der Rest ist Sache von Kombinationsfähigkeit.
Das Schachzimmer des Museum“ ist ein Würfel von einem Raum, der durch einen riesigen Spiegel an der Front in die Länge gezogen wird. Tagsüber nisten dort Pensionisten und magere Studenten mit Brillen, Leute, die jenseits von Gut und Böse weilen oder sich auf dem Weg dorthin befinden. Sie rekrutieren sich aus allen Schichten der Gesellschaft, denn Schach, so heißt es, kennt kein Milieu.
Er warf den Tschick in die Melange, trank den Kaffee und stellte die Tasse auf den Aschenbecher
Manfred Sax
Im Zentrum des Raumes steht der „Einsertisch“. Nur die Besten sollten dort spielen. Die drei Besten sind der „Schöngeist“ Khaled, der „Killer“ Lendwai und der „dreitonnenschwere Gerold“. Sie gehören zur jungen Garde. Der 21- jährige Lendwai ist die Nummer zwei. Er ist seit 14 Jahren süchtig und mittlerweile die Nummer 48 in Österreich. Er ist hager, und weder Kleidung noch Aussehen kümmern ihn.
Lendwai gilt als jener Typ von Spieler, der seinen Gegner vernichten will, der sich freut, wenn sein Kontrahent zerbricht. Er sieht sich als Schachprofi, also geht es ihm finanziell nicht gut. Turniere in Österreich sind meist nur mit I0.000 Schilling für den Sieger dotiert. Lendwai ist noch kein Sieger.
Die Nummer eins, Khaled, kommt aus Ägypten. Die Kiebitze lieben den 29jährigen, weil er Schach spielt, wie Stenmark mal Slalom fuhr. Schön eben. Als er vor drei Jahren nach Österreich kam, spielten die Leute gern einen „Blitzer“ gegen ihn, weil sie nicht glaubten, daß ein Ägypter Schach spielen könne. Heute muß er Figuren vorgeben, damit noch wer gegen ihn antritt. Heute muß er vor der Fremdenpolizei die Hände aus den Hosentaschen ziehen, damit sein Visum verlängert wird. Der „dreitonnenschwere Gerold“ ist die Nummer drei des ,,Museum“. Gerold ist Computermann. Er hat alle Infos in Sachen Schach gespeichert. Er kennt die Kommentare zur 0:6-Niederlage Petrossjans gegen Bobby Fisher 1971 auswendig. Er hat ein Schachbrett im Kopf, und wenn er sagt: ,,F5 auf 07″, dann sieht er das bildlich.
Wann wird Schach zur Sucht? Es beginnt wie bei jeder Droge: Man will der Realität entfliehen, in eine andere Welt mit anderen Gesetzen gleiten und alles Drumherum vergessen. Diese andere Welt besteht aus 64 Quadraten, auf denen 32 Figuren bewegt werden. Der Zufall hat darin keinen Platz. Es gibt nicht gute und schlechte, nur richtige und falsche Züge. Die Magie dieser logischen Welt gibt der Realität wenig Chance. Einen fortgeschrittenen Fall der Spezies Schachsüchtiger beschreibt der Ober Stefan so: Ein Gast war so vertieft in sein Spiel, daß er einen Tschick in seiner Melange ausdämpfte, den Kaffee dann trank und die Tasse auf den Aschenbecher stellte. Kein Schmäh.
Schach ist wie die Musik jene Kraft, die Menschen aller Nationen vereinigen kann. Alle sprechen die Sprache der Schachsymbolik, ein „Schach-Esperanto“
Prof. Paul Badura-Skoda (1927 – 2019), Pianist und Schachmeister
Die nächste Phase könnte man „Verfolger“ nennen. Gerold etwa kann nicht schlafen gehen, ohne vorher eine verlorene Partie zu analysieren. Das ist der Punkt, wo man nicht mehr das Spiel kontrolliert, sondern umgekehrt. Ein früherer Gast des „Museum“ namens Mario geriet in ein Stadium, das ihn hinter jedem Kiebitz einen Agenten des CIA vermuten ließ. Als er mal überschnappte, drohte er mit einem Revolverschuß. Das war sein letzter Auftritt.
Freudianer vermuten die Wurzel der Sucht natürlich im Sexuellen. Schach gilt als Macho-Spiel. Wenn im „Museum“ einmal in zwei Wochen eine Frau einen „Blitzer“ riskiert, ist das viel. Irgendwie herrscht auch der Konsens, daß das Schachzimmer eigentlich ein Herrenclub ist. Wenn Gerold zum Beispiel keine Frau sieht, fühlt er sich nicht gezwungen, an Sex zu denken. Giftzungen sagen auch, daß es beim Schach um Ersatzpotenz geht: Als unlängst dem Kärntner ein Turm geschlagen wurde, lästerte ein Kiebitz: ,,War das der deine, Kärntner?“ Die Antwort kam vom Nebentisch: ,,Der ist schon lange im Ruhestand!“
Für EI Fatah, den zweiten Ägypter des Hauses, ist die Wahrheit simpel: Frau ist ein bißchen schwach im Kopf. Der Mann ist intelligenter als sie. So steht es im Koran. So hat es Gott gemacht. EI Fatah sollte es eigentlich wissen. Er ist ein Mann der Zukunft. Er sieht sich heute schon als Nummer zwei, obwohl er erst an sechster Stelle rangiert. Außerdem, so meint er, gehe es im Schach um zwei Könige, die einander um des anderen Königin bekriegen. Und warum sollte eine Frau für eine Königin antreten, von Margaret Thatcher einmal abgesehen.
Karpow hat gegen mich nur untentschieden gespielt. Wäre Karpow an meiner Stelle gewesen, hätte er gegen Karpow gewonnen.
Dr. Kurt Steyrer (1920 – 2007), Österreichischer Gesundheitsminister und späterer Präsidentschaftskandidat, unterlag 1986 Dr. Kurt Waldheim im Rennen um die Hofburg
Wie dem auch sei: Großmeisterin Tschiburdanidse, die internationale Nummer eins der Frauen, rangiert weit über der männlichen Nummer eins made in Austria.
Schließlich gibt es einen Zustand, den Stefan Zweig „Schachvergiftung“ nannte. Sie tritt auf, wenn die Gehirnplatte überhitzt. Man beginnt dann Rochaden zu fantasieren, die nie gemacht wurden. Unlängst schrie ein „Museum“-Spieler während einer Partie seinen Gegner an: .,Falscher Zug! Falscher Zug!“ -Der Gegner winkte nicht einmal ab. Er hatte nicht gehört, was der Überhitzte schrie. Er ist Träger eines Hörgeräts. Und das schaltet er bei Schachkämpfen immer ab.
Schach ist Sport. Schach ist Psychodrama. Schach ist Krieg. Nur eines ist Schach selten: Unterhaltung. Denn wie auch der Löffler sagt: ,,Wenn ich mich unterhalten will, geh‘ ich ins Kabarett.“ ■
Schach in rot-weiß-rot anno 1988
In Österreich sind 14.200 Schachspieler im „Österreichischen Schachbund“ organisiert. 5 % davon sind Frauen. Nach den Internationalen Wertungslisten (ELO) ist Josef Klinger der spielstärkste Österreicher mit 2490 Elo-Punkten. Zum Vergleich: G. Kasparow (Weltmeister): 2740 Elo. M. Tschiburdanidse (internat. Nr. 1 der Damen): 2550 Elo. Klingers größter Erfolg war ein Sieg gegen die Welt-Nr. vier, Viktor Kortschnoi,1986.
Dr. K. Robatsch ist Österreichs einziger Großmeister (2410 Elo). Prof. Herbert Huber etablierte im Schuljahr 1972/73 die erste und einzige Schülerschachgruppe Österreichs. Seit 1976 regelt das Schulunterrichtsgesetz Schach als unverbindliche Übung. Österreichs erste Dame ist die Schauspielerin H. Mira (2170 Elo). Die17jährige Vorarlbergerin K. Ladner gilt als weibliche Schachzukunft.
Schach in der Literatur
Schachweltmeisterschaft 1986,
Hecht u. Treppner, Bayer Verlag.
Schachnovelle, Stefan Zweig,
Fischer-TB 1522.