AKUT

Im Wartezimmer des Sex

Das Vorspiel war von Anfang an eine seltsame Sache – wie das Handicap beim Golf.

TEXT: MANFRED SAX

Es war einmal, da fehlte beim Sex jeder Plan. Die Pille war bereits auf dem Markt, nur kamst du als Teenager nicht ran. Es gab weder Aufklärung noch Sexualkunde, zwischen Pubertät und dem „ersten Mal“ klaffte die schiere Unendlichkeit. Du hattest deine tägliche Morgenlatte und keinen Tau wohin damit, aber immerhin, wenn du mit Morgenlatte erwachtest, hattest du wenigstens was zu spielen.

Es war nicht so, dass es nichts gab. Es gab Bravo und Dr. Sommer. Dem konnte man Fragen stellen (Wird man vom Küssen schwanger? Kann man mit Gewichten den Penis verlängern? Ist Oralsex pervers?). Und gelegentlich schaffte es so manche Neuigkeit nach Nirgendwo an der Donau. Etwa der Begriff Petting. Nicht nur ein nettes Wort, sondern auch ein praktischer Ansatz, mit dem der Teenager was anfangen konnte. Man konnte Sex haben, ohne Sex zu haben. Es gab keine Konzerte, keine Shops, kein Internet, kein soziales Netzwerken, aber es gab viel Zeit und endlich einen definierten Raum, in den sich Girls und Boys begeben konnten, um sich die Informationen, die es nirgendwo sonst gab, direkt von der Quelle zu holen. Petting war das gemeinsame Schaffen einer sexuellen Kommunikationsbasis mit dem Partner und irgendwann, nach Monaten des Finetunings, kam es sogar zu Sex. Aber mit der Popularisierung des Vorspiels in den 70er-Jahren war Petting passé. Das Vorspiel war von Anfang an eine seltsame Sache. Der erste Fall von Framing, wie die Verhaltensforschung sagt. Ein Einrahmen, damit etwas eher machbar ist. Von seiner Widmung her war das Vorspiel eine Krücke, so was wie das Handicap beim Golf, damit zwei un- gleich begabte Spieler dennoch mitein- ander Spaß haben. Es geriet mit der ers- ten Welle der Frauenbewegung in den Sprachgebrauch, als politisches Mittel zum sexualdemokratischen Zweck. Damit es beim Sex „gerechter“ zuging. Gerecht war, wenn die Anzahl seiner und ihrer Höhepunkte einander die Waage hielten.

Warum sollte der Mann ebenso oft kommen wie die Frau?

Ich hatte für diesen Ansatz von Gerechtigkeit lange nicht das richtige Verständnis. Warum sollte der Mann ebenso oft kommen wie die Frau? Ist das nicht stressig? Wo ist das Problem, wenn die Frau in deinem Bett multiple Orgasmen auf die Matte zaubert? So einem famosen Schauspiel beizuschlafen macht doch Spaß, oder? Aber gut, die amerikanische Feministin Shere Hite machte dann klar, dass die Lage im umgekehrten Fall eine ganz andere war: „Zuzusehen, wenn der Mann einen Orgasmus hat und sie nicht, kann eine Frau rasend machen“, meinte sie in ihrem Report. Das war das eine Problem. Das andere Problem ließ sich nicht verhindern. Mit der wachsenden Popularität des Themas Sex im massenmedialen Zirkus florierte auch der Berufszweig des entsprechenden Lifestyle-Beraters, des Sexperten. Der überließ das Vorspiel nicht seinen Betreibern, sondern offerierte Tipps, kurioserweise zumeist für den Mann, der ja eigentlich kein Problem mit dem Orgasmus hatte. Der amerikanische Sexologe Ian Kerner etwa verschrieb dem Mann in seinem Buch „She Comes First“ einen genau 21-minütigen Cunnilingus, wodurch sich seinen Berechnungen nach die „Orgasmusquote“ der solcherart Beglückten auf 93 % erhöhte. Allerhand.

Mit dem Re-Branding von Petting zum Vorspiel blieben gewisse Dinge beim Alten – beides führt allmählich in den Süden des horizontalen Partners, und einmal dort gelandet, wird die Sache gern oral. Aber während Petting Gnade der frühen Unbefangenheit eine solide Kommunikationsbasis hatte – der Stimulus des oder der einen wurde mit einem Respons der oder des anderen reflektiert –, flossen anstelle von sexuellen Akten „vernünftige“ Gebrauchsanleitungen (Frameworks) in das Vorspiel, das als Serie von Gefälligkeiten und Dienstleistungen Gestalt annahm. Deswegen hat das Vorspiel heute auch als „Wartezimmer des Sex“ einen herben Ruf. An sich stehen beim Oralverkehr die genitalen Küsse „Cunnilingus“ und „Fellatio“ quasi als Geschwister da und  erfreuen sich ebenbürtiger Wertschätzung beim Empfänger der Gunst. Zwei von drei Frauen stehen auf Lecken, vier von fünf Männern auf Blasen. Aber es gibt Unterschiede. Seltsamerweise sieht nur eine von zehn Frauen mit Vorfreude der Verabreichung einer Fellatio ent- gegen. Seltsam, weil die Fellatio in ihrer Reinkarnation als Blowjob so omnipräsent ist. Der BJ ist heute wie ein Accessoire, das sie verwendet, ohne wirklich drauf zu stehen. Sie tut es aus purer Gefälligkeit, ohne den Penis übermäßig interessant zu finden. Da läuft wenig Sex mit.

Das läuft beim Mann genau umgekehrt. Du brauchst keine Sexperten, um den Süden der Frau interessant zu finden, der ist vom Nabel bis zum Pubococcy- geus-Muskel eine faszinierende Sache, und eine Vagina ist eben eine Vagina. Beschreibung zwecklos, es gibt keine Erfahrungswerte. Jede Vagina ist anders, sogar ein- und dieselbe Vagina ist jeden Tag anders drauf. Keine Ahnung, wie Frauen ihre Vagina aushalten, aber Männer waren immer in ihrem Bann. Vor vier Jahren fanden Archäologen in der eingestürzten südfranzösischen Höhle Abri Castanet auf einem tonnen-schweren Steinblock Gravuren, darunter eine runde Form, die 37.000 Jahre alt war und von den Forschern als Vagina identifiziert wurde. Sie war Gegenstand des ältesten je gefundenen Kunstwerks, und Künstler blieben ihr immer treu. Vor 150 Jahren malte sie Gustave Courbet und nannte das Werk „Ursprung der Welt“. Und ja, so ist es nun mal. Allerdings dürfte in der jüngeren Vergangenheit mit dem männlichen Gemüt einiges schiefgelaufen sein.

Einmal geleckt geht alles wie von selbst.

Als Courbets Werk 2012 auf Facebook gepostet wurde, sahen die FB-Macher in diesem „Ursprung“ nur Pornografie und löschten den Account des Posters. Manche Menschen haben mit der Pforte, durch die sie ins Leben gerieten, gewaltige Probleme. Klar, dass diese Probleme mit Sex zu tun haben. Dabei musst du nicht mal an Sex denken, um mit diesem feinen Ding einschlägig kommunikativ zu werden. Einmal geleckt geht alles wie von selbst. Es führt zu einem netten hormonellen Dialog, der ihr nach Passieren einer Art Zollstelle ein paar Kopuline abringen mag (oder auch nicht), die seine Erektion provozieren (oder auch nicht). Das erwähne ich nur als Einladung zur Entspannung. Die meisten Entscheidungen im Sex passieren, ohne dass es uns auffällt. Der Mann kann sich ganz darauf konzentrieren, sich an der Schönen mit Genuss zu laben.

Illustration: Stefanie Sargnagel