AKUT
Der Dieb der Zeit
Was du heute kannst besorgen das verschiebe nicht auf morgen. Warum eigentlich nicht?
TEXT: MANFRED SAX / FOTOS: MAXIMILIAN LOTTMANN
Am Freitag also. Freitag ist Deadline, da müssen alle Geschichten geschrieben sein, weil danach geht nichts mehr. Theoretisch. Dummerweise ist Freitag auch der dehnbarste Tag der Woche. Nach dem Freitag folgen Samstag und Sonntag, da ist niemand in der Redaktion. Die Freitag-Deadline ist daher tatsächlich eine „Montag- früh“-Deadline, die Story kann also am Wochenende geschrieben werden, in aller Ruhe, ganz ohne Stress. Gehirn an Nerven: Entwarnung; kein Grund für Unbehagen, wir haben Zeit. Am Wochenende also. Am Wochenende wird die Story geschrieben, die dann Montagfrüh pünktlich zur Deadline in der Mailbox der Redaktion steckt. Theoretisch. Denn eins ist mal klar – die Story wird sicher nicht am Samstag geschrieben, aus einem unwiderstehlich stichhaltigen Grund: Weil Sonntag auch noch ein Tag ist. Nur ist das mit dem Sonntag so eine Sache. Erstens ist das der Tag des Herrn, nicht wahr, da sollst du nicht arbeiten. Außerdem ist ausgerechnet am Sonntag nach Deadline-Freitag immer schönes Wetter, nichts wie raus in die Natur. Und zuge geben, es gibt Sonntage, da heuchelst du eine Ar beit vor, um dir das Rausgehen zu ersparen. Aber nicht am Sonntag nach der FreitagDeadline, da musst du ganz einfach raus, es ist ein zwingen des Bedürfnis. Also checkst du die Lage in der Redaktion, sitzt dort jemand am Rechner, brennt bereits der Hut? Und „oha“, dort sitzt in der Tat kein Geringerer als der Boss. Am Sonntag! Allerdings hängt er offenbar auch etwas durch. Er fotografiert per Handy aus dem Zimmer, weil sich dort draußen gerade eine Gewitterwolke entlädt – und postet den Schnappschuss mit launigem Text auf Facebook. Typische Deadline-Aktion. Mittlerweile ist es später Nachmittag, also musst du kochen, ich meine, es könnte auch wer anderer kochen, aber am Sonntag nach Deadline-Freitag lässt du dir das Kochen nicht nehmen, da fährt die Eisenbahn drüber. Kurz: Die Story wird nicht am Sonntag geschrieben. Ist auch okay, der Montag offeriert noch eine Nische. Wenn du montags um 6 Uhr früh aufstehst, könnte die Sache – großartiger Lauf vorausgesetzt – um 10 Uhr, wenn die Redaktion am Rechner sitzt, gelaufen sein und alles ist cool.
Schlafen wie eine Kobra im Winter
Also, der Schlaf von Sonntag auf Montag nach Deadline-Freitag ist der beste Schlaf des Monats. Das kann jeder bestätigen, der das Problem kennt. Du magst ein habitueller Insomniac sein, aber wenn Deadline ist, schläfst du wie eine Kobra im Winter. Du stehst montags nicht um sechs auf, sondern um acht, da muss der Boy in die Schule, und du chauffierst ihn eben hin, nicht dass es nötig wäre, aber heute willst du. Außer dem willst du heute für ein gutes morgendliches Workout ins Fitnesscenter, muss auch mal sein, und weil du eh schon draußen bist, gehst du dann auch gleich einkaufen. Mit etwas Glück bist du zu Mittag wieder daheim und endlich zu allem bereit, nur fällt dir in der Küche die Abwasch auf, mitsamt dem ungewaschenen Geschirr vom Sonntag, das muss auch noch in den Spülautomat. Und so weiter. Nachricht an die Redaktion: Die Story kommt morgen. Für den (unwahrscheinlichen) Fall, dass eine Erklärung notwendig ist: Hier wird prokrastiniert. Obwohl – vielleicht auch weil – die Lage pressiert. Prokrastination ist eine komplexe Sache, der Begriff wird vom lateinischen „procrastinare“ abgeleitet, das ein „Verschieben“ meint, zum Beispiel auf den nächsten Tag. An sich etwas, das jeder Mensch mal macht. Allerdings kann Prokrastination problematisch werden, wenn sie habituell, also Teil deines Lifestyles wird. Und jedenfalls ist sie äußerst vielschichtig. Zum Beispiel hat Prokrastination eine bizarre Attraktivität: Wir prokrastinieren nicht, indem wir Dinge tun, die Spaß machen, sondern indem wir Sachen machen, deren einzige Attraktivität darin besteht, dass sie nicht die Sachen sind, die wir tun sollten. Was wir tun sollten, erzeugt ein gewisses Unbehagen im Gemüt, das unter Umständen geradezu lähmend auf den Schultern lastet, also verschieben wir es und machen statt dessen andere, nicht so dringende Sachen. Das heißt, Prokrastination ist auch eine perplexe Angelegenheit: Obwohl dadurch unangenehme Aufgaben verschoben werden, macht uns Prokrastination nicht glücklich. Sie macht lediglich die aufgeschobenen Dinge, die pressieren, umso pressanter. Aber je dringlicher die Dinge wer den, umso unwiderstehlicher wird der Hang zur Prokrastination. Warum?
Zwei Herzen wohnen in der Brust des Prokrastinators
Natürlich ist Prokrastination unter Psychologen schon lange ein Thema. Für die einen steckt die Krux des Problems im mangelnden Selbstvertrauen des aktiven Prokrastinators. Er schiebt das Wichtige auf, sagen sie, um sich ein Handicap zu bescheren. Anstatt ein Versagen zu riskieren, erzeugt er lieber eine Situation, die den Erfolg unmöglich macht. Andere Psychologen wiederum unterstellen dem Prokrastinator einen Planungsfehler, ein Unterschätzen der Zeit, die es braucht, um eine Aufgabe zu erledigen. Der Plan wäre, dass die Erledigung der aufgeschobenen Sache letztlich reibungslos funktioniert, dass alles fließt und kein unvorhergesehenes Problem auftaucht. Typischer Planungsfehler, man denke an Murphys Gesetz – was schiefgehen kann, das geht schief, nämlich dann, wenn du es nicht brauchst. Zum Beispiel kann Muhammad Ali sterben und du musst dann auf Youtube, um dir seine besten Clips reinzuziehen, das verlangt der Respekt, Deadline hin oder her. Die Diskrepanz zwischen Plan und Ausführung wurde übrigens vom Spieltheoretiker Thomas Schelling thematisiert, der dem Prokrastinator ein „gespaltenes Selbst“ diagnostiziert: Die Person, die Pläne macht, und die Person, die sie ausführt, sagt er, seien nicht dieselbe Person, sondern unterschiedliche Teile des Selbst. Womit er die Stimmen anspricht, die da in einem Gehirn um Entscheidungen ringen. Und in der Tat passiert Prokrastination nicht einfach so, sie ist immer Konsequenz einer zerebralen Debatte, das wusste schon der bekennende Prokrastinator Otto von Bismarck, der entsprechend litt: „Faust beschwerte sich über zwei Seelen in seiner Brust“, sagte der Preuße einst, „aber in der meinen tummeln sich eine Unzahl von Seelen, und sie streiten miteinander! Es ist, als wäre mein Gehirn eine Republik.“ Da geht natürlich eine ganze Menge Zeit verloren, bis es zu einer Entscheidung kommt. So gesehen genügt es bei einem etwaigen Befassen mit deiner Prokrastination nicht mehr, nur zu gestehen, dass du ein Problem hast. Es sind alle deine „Ichs“, die ein Problem haben. Dieses Problem ist an sich ein altes. Das Wort „procrastination“ rutschte bereits im 16. Jahrhundert in den englischen Sprachgebrauch, im 18. Jahrhundert outete es der Dichter Samuel Johnson als seine „große Schwäche“. Große Geister wie Leonardo da Vinci bekannten sich dazu, ein Oscar Wilde gab sich sogar hardcore: „Ich verschiebe nie etwas auf morgen, wenn ich es auch auf übermorgen verschieben kann.“
„Sagte ich doch, jetzt sagen Sie mir endlich, was Sie wollen, Mann, Sie stehlen meine Zeit!“
Richtig ernsthaft beschäftigte sich die Wissenschaft erst damit, nachdem der Nobelpreisträger und Ökonom George Akerlof 1991 die Abhandlung „Procrastination and Obedience“ veröffentlichte. Akerlof wurde einmal von einem Freund mit der Aufgabe betraut, dessen in Indien zurückgelassene Kleidung per Post in die USA zu schicken – was ihm letztlich auch gelang, nämlich nach acht Monaten des täglichen Aufschiebens: „Jeden Tag schwor ich mir, dass ich es morgen mache.“ Seither hat die Wissenschaft ein neues Problem. Es heißt Prokrastination und ist ein anderes Wort für „Dieb der Zeit“. An sich ist die Zeit eine gerechte Sache. Jeder Mensch hat täglich 24 Stunden zur Verfügung, kein Reicher kann Zeit dazukaufen, kein Wis- senschaftler zusätzliche Minuten erfinden. Bei der Zeit herrscht Chancengleichheit. Du kannst dir keine Zeit für später horten, aber du kannst sie vertrödeln, und warum auch nicht, morgen ist schließlich auch noch ein Tag. Aber genau das ist das Problem, sagen heute vor allem Wirtschaftsleute. Weil Zeit nun mal auch Geld ist. Insofern ist es vor allem ein modernes Problem. Ein Wirtschaftsprofessor namens Piers Steel (Uni Calgary) hat in einer Studie errechnet, dass sich die Zahl der Menschen, die sich zu einem Problem mit der Prokrastination bekennen, in den vergangenen 20 Jahren vervierfacht hat. Alljährlich, sagt die Wirtschaft, verbrennen wir Unsummen, weil wir die Steuererklärung zu spät abgeben, die letzte Eurokrise wurde drastisch verschlimmert, weil die deutsche Regierung wichtige Entscheidungen hin- auszögerte, der Standardsatz der Wirtschaft heißt: Prokrastination zahlt sich nicht aus. Sie ist wie eine Kreditkarte – sie macht nur solange Spaß, bis du die Rechnung kriegst. Und die Zukunft ist auch nicht rosig, ausgerechnet die sozialen Netzwerke gelten als ultimative Formen der Prokrastination. Aber: was tun dagegen? Nach langer Recherche gelang es mir, den amerikanischen Psychologen Professor Joe Ferrari (Universität Chicago), seines Zeichens weltgrößter Experte zum Thema, ans Telefon zu kriegen. Das erste „tuut-tuut“ war noch nicht verklungen, da war er schon dran: „Hallo?“ – „Professor Ferrari?“ – „Am Apparat; was wollen Sie?“ – „Professor Joe Ferrari?“ – „Sagte ich doch, jetzt sagen Sie mir endlich, was Sie wollen, Mann, Sie stehlen meine Zeit!“ – Dies nur zur Illustration, dass Leute, die sich professionell mit Prokrastination beschäftigen, leicht paranoid werden, wenn es um ihre eigene Zeit geht. Aber es wurde dann doch ein – kurzes – Gespräch daraus. Im Wesentlichen, sagte er, gehe es darum, dass jeder Mensch prokrastiniert, aber nicht jeder ein Prokrastinator ist. Letzteres sei nur jeder fünfte Mensch, diese 20 Prozent machten allerdings Prokrastination zum Lifestyle, und man könne davon ausgehen, dass sie gut 15 Jahre ihrer Lebenszeit ganz einfach nur verscheißern. Wow! Aber was sei dagegen zu machen? Gegenfrage des Psychologen: „Hat Ihr Wecker einen Snooze-Button (= Schlummertaste, Anm.)? Werfen Sie den Wecker gleich mal weg!“
Die Story kommt verlässlich morgen
Das Dumme ist, dass die bislang vorgeschlagenen Gegenmittel generell etwas restriktiv sind. Es gibt Tools, die sich „erweiterter Wille“ nennen, etwa das Software-Programm „Freedom“, das Menschen ermöglicht, ihren Internetanschluss acht Stunden lang zu blockieren und somit das „Cyber-loafing“ zu unterbinden. Freedom hat mittlerweile 75.000 User. Und es gibt Techniken, die starken Willen postulieren, letztlich aber nur Freiheitsentzug bedeuten: Victor Hugo zum Beispiel (19. Jahrhundert!) schrieb in seiner kreativen Zeit immer nackt und befahl seinem Butler, seine Kleider so lange zu verstecken, bis er mit dem Schreiben fertig war. Das hinderte ihn daran, den Hut auf das Schreiben zu werfen und einfach auszugehen. Aber wer hat heutzutage schon einen Butler? Bleibt die Frage, ob all dieser Tamtam um die Prokrastination – philosophisch gesehen – nicht ohnehin nur Schall und Rauch ist. Steckt hinter all diesem mutmaßlich irrationalen Aufschieben des Wichtigen nicht nur die nicht ganz ins Bewusstsein gedrungene Erkenntnis, dass dieses angeblich „Wichtige“ eigentlich gar nicht so wichtig ist? Gibt es überhaupt etwas, das wirklich wichtig ist? Ist es nicht vielmehr so, dass uns das Universum genau null braucht – wozu also der ganze Stress? Das sind Fragen, über die nachzudenken sich tatsächlich lohnt, nämlich genau jetzt. Die Story kommt also erst morgen. Verlässlich.