AKUT

Ins Netz gegangen

Sarah Wetzlmayr

Ohne soziale Netzwerke wäre die Prokrastination bestimmt nicht dort, wo sie heute ist – am Höhepunkt ihrer Entwicklung. Und genau deshalb sind wir noch nicht dort, wo wir jetzt gerade sein sollten, zum Beispiel auf dem Finanzamt, beim Arzttermin, in der Vorlesung…

von Sarah Wetzlmayr

Wann, wenn nicht jetzt?“ ist ein einfacher Satz. Einer, der im Netz häufig in der Kurzform YOLO („You only live once“) auftaucht und der viele Nächte zu Tagen und viele Tage zu Nächten werden lässt. In diesen vier simplen Worten verbirgt sich allerdings auch einer der vielen Zwiespälte, mit dem die Digital Natives, oft auch Generation Facebook oder Generation Y genannt, tagtäglich durchs Leben laufen. Denn er schickt auf der einen Hälfte des Spielfeldes das Team YOLO ins Match, auf der anderen Seite bringt er die Prokrastinierer perfekt in Stellung, also all jene, die als Antwort „Dann halt nicht jetzt, sondern morgen“ murmeln und ihren Blick dabei tief in die Displays ihrer Smartphones versenken. „Wann, wenn nicht jetzt?“ beschreibt also mit sehr einfachen Worten die innere Zerrissenheit dieser Generation, die nicht nur einmal geboren wurde, sondern sich immer wieder – auf Facebook, MySpace, studiVZ, Tinder und Co – selbst neu auf die Welt gebracht hat. Der mit YOLO eng verwandte und populäre Hashtag #lebenaufderüberholspur ist schnell mal in die Facebook-Statusmeldung getippt, dabei hat man es sich gerade mit Netflix und einer Packung Chips am Pannenstreifen gemütlich gemacht, anstatt diese eine Seminararbeit fertig zu schreiben, um wenigstens die anderen Prokrastinierer zu überholen. Der Hashtag bleibt, die Seminararbeit auch, liegt aber irgendwo auf der Strecke – einer, der überholt, fährt darüber.

„Nichts tun, ohne nichts zu tun“, das ist das Material, aus dem Social Networks gestrickt sind, und in diesem feinmaschigen wie flauschigen Netz konnte es sich die Prokrastination sehr einfach gemütlich machen, denn bei Social Media geht es heute um sehr viel mehr als bloß darum, den Kontakt zu weit entfernten Freunden zu halten. Facebook, Twitter, Youtube – sie alle haben als primäre Quelle von Information und Unterhaltung andere Kanäle schon längst überholt. Bieten also genug Potenzial, ohne schlechtes Gewissen nichts zu tun, denn man ist ja schließlich gut damit beschäftigt, sich von einem Katzenvideo zum nächsten zu klicken. Als Mark Zuckerberg noch in der ersten Reihe im Vorlesungssaal der Harvard University das Facebook-Logo in seinen College-Block kritzelte, prokrastinierte man noch anders. Zum Beispiel räumte man auf, so lange bis Ordnung und Neurose sich vermischten und alle Bücher nach ihren Farbabstufungen sortiert waren. Im Jahr 2003 kam MySpace, und es ging plötzlich nicht mehr darum, reale Räume in Ordnung zu bringen, sondern sich selbst einen ganz neuen Raum zu schaffen, einen, in dem es egal ist, ob alle Bleistifte gespitzt und die Socken gebügelt sind. Dieser Ort bot Raum, nicht nur, um sich selbst ganz neu zu erfinden, sondern auch, um in die Räume anderer vorzudringen. Und je unordentlicher es dort war, desto besser. Mit dem Siegeszug von Social Media traten schier unendliche Prokrastinationsmöglichkeiten auf den Plan, die dazu führten, dass man auch andere mit relativer Genauigkeit beim Prokrastinieren beobachten konnte. Fragen wie „Wann war er zum letzten Mal online?“ oder „Warum hat sie den bitte geaddet?“ führten nicht nur zu Verhaltensweisen im thematischen Umfeld  des Schlagworts Cyber-Stalking, sondern ließen Prokrastination auch von einem bislang isolierten Akt zu etwas Gemeinschaftlichem werden. Kommentare, Likes und Gruppenchats machen es möglich, sich gemeinsam, verbunden durch ein blaues Band, das nicht der Frühling ist, in die Endlosschleife des Internets zu begeben. Vereinfacht wurde das gemeinschaftliche Nichtstun vor allem durch Facebook, das 2004 Österreich erreichte. Nichts bildet die scheinbare Unendlichkeit des Internets so gut ab wie Zuckerbergs Baby. Die Möglichkeiten sind endlos und der Pool der Unterhaltung und Information bei gleichzeitiger Seichtheit ist so unendlich tief, dass der Grund gar nicht mehr sichtbar ist. Social Media hat das Nichtstun salonfähig gemacht, und obwohl natürlich nicht jeder die sozialen Netzwerke nur zur Prokrastination nutzt, sprechen die Zahlen einer Statistik der New York Times aus 2014 in jedem Fall für einen Social-Media-bedingten Anstieg der Auf- schieberei: 1,23 Milliarden User loggen sich täglich für durchschnittlich 17 Minuten auf Facebook ein – in Summe sind das täglich 39,757 Jahre, die sie alle zusammen auf der Plattform verbringen. Das beliebteste Katzenvideo auf Youtube wurde fast 100 Millionen Mal angeklickt – wer hier keine Korrelation erkennt, der hat noch nie prokrastiniert.

Am Sprungbrett statt nur ständig am Sprung

Ähnlich wie beim jungen Werther, den Goethe ja auch zu einem Prokrastinierer gemacht hat, liegen Leben und Leiden im Fall der Social-Media-abhängigen Aufschieberei sehr nah beieinander. So gibt es, zumindest kurzfristiges, von schlechtem Gewissen durchsetztes Leid bei den einen und dann, auf der anderen Seite, doch auch diejenigen, die genau davon leben. Denn Prokrastination im Netz hat oft gar nichts damit zu tun, den Absprung nicht zu schaffen, sondern kann – im Gegenteil – ein Karrieresprungbrett sein, wie der bekannte Wiener Blogger und Youtube-Star Michi Buchinger aus eigener Erfahrung bestätigt: „Ich kann mich an eine bestimmte Situation aus meiner Jugend erinnern, in der ich für eine Mathe-Schularbeit hätte lernen sollen. Stattdessen habe ich mir einen Spaß daraus gemacht, ein lustiges Video zu filmen, es zu schneiden und auf Youtube zu veröffentlichen. Das Video war ein absoluter Hit und ich werde bis heute oft darauf angesprochen – auf die Mathe-Schularbeit habe ich dafür einen Fünfer bekommen. Rückblickend betrachtet finde ich das nicht schlimm. Eine Kurvendiskussion habe ich seit der Schule nicht mehr gebraucht, das Videomachen hingegen ist zu meinem Beruf geworden.“ Auch die Karriere der bislang einzigen Facebook-Schriftstellerin Stefanie Sargnagel wäre ohne soziale Netzwerke nicht nur anders gelaufen, sondern erst gar nicht ins Laufen gekommen. Und dabei ist nicht nur an Produktion und Distribution von Material wie Texten und Videos zu denken, sondern auch an die Rezeption. Gäbe es unter all den Mitgliedern der Generation Facebook nicht so viele eifrige Prokrastinierer, könnten erfolgreiche Blogger wie Madeleine Alizadeh alias Dariadaria oder Michael Buchinger nicht davon leben: „Ich denke schon, dass viele meiner Zuschauer und Leser einfach nur prokrastinieren – nicht zuletzt, weil sie mir das nicht selten in den Kommentaren mitteilen. Ein typischer Kommentar unter einem Video von mir ist: ‚Eigentlich sollte ich für meine Prüfung lernen; stattdessen schaue ich seit zwei Stunden Michi-Buchinger-Videos!‘“

Vor allem im Social-Media-Bereich scheint also deutlich zu werden, dass das sogenannte Nichtstun, das nie ein vollkommenes Nichtstun ist, es sei denn man schläft, keine Dürreperioden im Gehirn nach sich zieht, sondern für sehr viel fruchtbaren Boden sorgen kann. Prokrastination schafft Freiräume im Alltag, auch im Arbeitsalltag. Das würde vielleicht nicht jeder Arbeitspsychologe unterschreiben, ein erfolgreicher Blogger wie Michael aber in jedem Fall. Denn ohne die Möglichkeit, frei zu entscheiden, ob jemand lieber an das Finanzamt oder an einen impliziten Leser seiner Kolumne schreiben möchte, könnte Buchinger seine Arbeit in dieser Form nicht ausüben. Und bei Stefanie Sargnagel wurde nicht die Kunst zur Ausrede, sondern sie machte Facebook als Ausrede für sehr viele andere Dinge – wie den Gang zum Finanzamt – bewusst zur Kunst.

Einfach mal abschalten

Wenn man sich selbst jedoch nicht genug ist, obwohl man vom Subjekt sehr einfach zum Objekt des eigenen Prokrastinationsverhaltens werden kann (man denke nur an Ein-Arm-Selfies oder an Videos, die das Erkunden des eigenen Gesichts und Körpers mit der Webcam beinhalten), gibt es noch immer die Welt anderer – das, wenngleich auch fiktive Serienuniversum. Binge Watching ist im Vormarsch, hat längst die stundenlange Computerspielerei abgelöst und fesselt Serienfans für unzählige Stunden am Stück vor ihren Laptops und Fernsehern. Arbeitspsychologe Dr. Christian Blind rät an einem gewissen Punkt, wie der 50. Folge „Game of Thrones“ innerhalb von 72 Stunden, zur Selbstüberprüfung des eigenen Prokrastinationsverhaltens: „Abschalten – im Wortsinne – und beobachten, ob der Reizentzug dann wenig erträglich wird. Wenn ja und wenn man es echt nicht lassen kann, mag wohl Suchtcharakter vorliegen.“ Als Social-Media-Experte sieht Jonny Jelinek von der Agentur webfeuer den Lösungsansatz für einen gesunden Umgang mit der sogenannten Aufschieberitis woanders: „Das Wichtigste ist erstmal, das Prokrastinieren mit gutem Gewissen zu machen. Wenn man schon prokrastiniert, sollte man es in vollen Zügen genießen. Es bringt nichts, währenddessen ständig zu denken, ‚aber eigentlich sollte ich doch …‘ oder sich laufend über die eigene Unproduktivität zu ärgern.“ Außerdem sollte man aufhören, ausschließlich im Social-Media-Sumpf nach den Motiven der ständigen Aufschieberei zu suchen, sondern sich einmal die Frage stellen, „ob das Problem nicht an der Arbeit liegt, die man ständig vor sich herschiebt, und ob man die bevorzugte Prokrastinationsbeschäftigung nicht eigentlich hauptberuflich machen sollte. Nicht umsonst arbeiten mittlerweile so viele Leute als Social Media Manager“. Prokrastination, der Begriff selbst wie auch die tatsächliche (Un-)Tätigkeit, bilden also eine ausdehnbare Blase ab, in der man sich so lange lustvoll bewegen sollte, bis sie irgendwann platzt. Spätestens dann sollte man „Wann, wenn nicht jetzt?“ wieder als Aufforderung zur Aktion interpretieren.