AKUT

Warum früher alles oasch war

Kriege und Diskriminierung gegen Volks-Rock-’n’-Roll und Internet – wer wirklich meint, früher war alles besser, hat in den wilden 70ern wohl ein Tabletterl zu viel konsumiert.

Text: Maximilian Barcelli, Jakob Stantejsky

Als junger Mensch trifft man oft auf verklärte Blicke in den Augen älterer Semester, wenn vom für einen selbst doch ominösen „Früher“ die Rede ist. Dabei führen die Tränen der Rührung lediglich zu einem: einer völlig verschwommenen Sicht auf die Realität. ­Allerdings ist es kein Geheimnis, dass wir alle zu Nostalgie neigen und die Vergangenheit in der Regel ganz automatisch verklären. Wer denkt etwa bei der Erinnerung an die Schulzeit an die mühsamen Hausaufgaben anstatt des gloriosen Blödsinns, der noch Jahre später für Lachkrämpfe bei Klassentreffen sorgt? Keiner, eh klar. Genauso verhält es sich beim Rückblick auf das Leben damals auch. Denn bedenkt man die Unterschiede zwischen heute und früher einmal ganz nüchtern, stellt sich schnell eine eindeutige Tatsachenlage ein. Da will dann garantiert keiner mehr zurück in seine alte Haut.

Quasi die gesamte zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war vom Kalten Krieg geprägt, der nicht nur einmal fast zum heißen wurde.

Oder, bitte weghören, liebe Oldtimer-Fans, in sein altes Auto. Gut, dass die Geschichte der Mobilität ganz betörende Fahrzeuge hervorgebracht hat, können wir nicht leugnen. Wollen wir ja auch gar nicht. Doch wer hat denn Lamborghini Countach, Jaguar E-Type, Mercedes-Benz AMG CLK GTR und dergleichen besessen? Der Ottonormalverbraucher wohl kaum. Der ist in den 90ern mehr so Renault 19 gefahren. Stunden über Stunden in die Toskana, selbstredlich ohne Klimaanlage, dafür mit umso mehr Staupassagen. Heute ist Klima Standard und gegen Oberschenkel, die am Leder kleben wie ­Nudeln al dente an den Fliesen, leistet Sitzbelüftung Abhilfe. Dank Navigationssystemen verfährt man sich seltener, Gegenverkehr wird automatisch abgeblendet und wer bei fünf Kameras rund ums Auto noch immer nicht einparken kann, der sollte das Fahren lieber gleich lassen. Dabei ist der Komfortaspekt noch nicht einmal der wichtigste. Im Jahr 1970 wurden 51.631 Verkehrsunfälle in ganz Österreich registriert, 2.507 Menschen starben. Heißt: Etwa bei jedem 21. Unfall war ein Todesopfer zu beklagen. Wie die Lage aktuell aussieht? Zu 414 Todesopfern und 37.402 Unfällen kam es 2017. Das ist nicht nur ein dramatischer Abstieg bei den absoluten Zahlen. Heutzutage verliert nur noch bei jedem 90. Crash ein Mensch sein Leben – Airbags, Sicherheitsgurte und stabileren Karosserien sei Dank. All diese Daten haben wir übrigens mit wenigen Mausklicks recherchiert. Noch ein Grund, weshalb früher nicht alles besser war, sondern heute alles besser ist.

Soso, ihr konntet damals also noch ohne Helm motorradfahren. Super – das können wir allerdings auch bald wieder, wenn BMW seine „Vision Next 100“ wirklich bringt. Foto: (c) BMW Group

Allein für den letzten Absatz hätten wir noch vor wenigen Jahrzehnten bei der Statistik Austria anrufen oder irgendwelche Nachschlagewerke wälzen dürfen. Von vielen verschiedenen Zahlen und Fakten auf einmal wollen wir gar nicht erst anfangen – da hätte die Recherche allein schon doppelt so lang wie das Texten gedauert. Heute kann quasi jeder innerhalb weniger Sekunden quasi alles recherchieren, und das sogar von unterwegs. Ein paar fettige Fingerabdrücke am Touchscreen des Smartphones sind da schon das größtmögliche Ärgernis. Der freie Zugang zu unbegreiflich viel Informationen für all jene, die in einer Demokratie leben, hebt den Lebensstandard heutzutage auf ein noch nie dagewesenes Level. Sich dann darüber zu beschweren, dass die Informationsflut erdrückend sei, gleicht einem Restaurantgast, der sudert, weil auf der Speisekarte zu viele seiner Leibspeisen zur Auswahl stehen. Der Nutzen überwiegt hier jedoch die Qual der Wahl, denn von Alltagsproblemchen über komplexe wissenschaftliche Zusammenhänge bis hin zu Freundschaften quer über den Planeten – Abhilfe ist parat. Nicht alles, was man im Internet hört, liest oder sieht, ist wahr. Aber immerhin kann man selbst gegenchecken und hinterfragen. Früher war das nicht der Fall, und gelogen wurde damals wie heute. Und ja, Hassprediger jeder Form können heutzutage ein breiteres Publikum erreichen – die wertvollen Mitglieder der Gesellschaft allerdings ebenso. Dass der Ton im Internet aufgrund Ersterer manchmal nicht gerade der freundlichste ist, mag stimmen. Doch überlegen wir uns einmal, wie das Internet vor 50 Jahren ausgeschaut hätte, als die Diskriminierung so mancher Minderheit in vielen Schichten zum guten Ton gehörte.

Im Kalten Krieg, der gottlob niemals heiß wurde, dienten Raketen wie die Pershing hauptsächlich dazu, um mit Nuklearsprengköpfen bestückt für Abschreckung zu sorgen. Foto: (c) Underwood Archives / Getty Images

Was wäre online da wohl losgewesen? Man kann es sich gar nicht vorstellen – und eigentlich möchte man’s auch nicht. Wir sprechen immerhin von einer Zeit, in der Homosexualität illegal war. Und zwar nicht in Kambodscha, sondern hier, in Österreich. Erst seit 1971 ist man nicht mehr kriminell, wenn man sich zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlt und dies auch auslebt. So weit in die Geschichte braucht man allerdings nicht einmal zurückblicken, um mit diskriminierenden Gesetzen konfrontiert zu werden. Zum Beispiel sind Vergewaltigungen erst seit 30 Jahren innerhalb der Ehe aus rechtlicher Sicht wirklich Vergewaltigungen, auch wenn sich die Frau nicht bis zur „Widerstandsunfähigkeit“ wehrt. Hat sie 1988 also nur so lange gekämpft, bis sie halbtot, aber nicht tot oder bewusstlos war, wurde sie nicht vergewaltigt. Eigentlich unvorstellbar. Doch auch anderorts, tausende Kilometer entfernt von uns, waren gesellschaftliche Gruppen und ­Ethnien von Hass und Hetze betroffen. Bis in die 1960er-Jahre durften Afroamerikaner in den Vereinigten Staaten nicht wählen, auf dieselbe Schule gehen wie Weiße oder sich neben diese im Bus setzen. Und vor ziemlich ­exakt zehn Jahren wurde in genau diesem Land, in dem bis 1964 Rassentrennung gang und gäbe war, mit Barack Obama ein Schwarzer zum Präsidenten vereidigt. Und für die Demokraten will Kamala Harris, ebenfalls eine Afroamerikanerin und eine Frau noch dazu, 2020 für die Präsidentschaftswahlen antreten. Wo sie aller Voraussicht nach auf den amtierenden Präsidenten Donald J. Trump trifft. Ein paar Sachen waren früher, soll heißen vor einem halben Jahrzehnt, wohl doch besser.

Hat sie 1988 also nur so lange gekämpft, bis sie halbtot, aber nicht tot oder bewusstlos war, wurde sie nicht vergewaltigt.

Der Boden wird langsam dünn für die Gegenwartsgrantler. Endgültig bricht das Eis unter den Füßen der Suderanten aber, wenn man das Augenmerk auf die stets neutrale und objektive Wissenschaft legt. Dass man beispielsweise in der Schweiz mittlerweile dank eines Teilchenbeschleunigers reine Theoriegebilde von ­früher nun praktisch erforschen kann, betrifft den Durchschnittsbürger nicht direkt und spürbar. Aber denken wir an die Medizin, die in den letzten Jahrzehnten in allen Bereichen unvorstellbare Sprünge getan hat. Krankheiten, von denen man früher nicht einmal wusste, dass sie existieren, sind mittlerweile heilbar. Starben 1990, also vor nicht einmal 30 Jahren, noch 12,6 Millionen Kinder jährlich weltweit, sank diese Zahl im Jahr 2016 schon auf 5,6 Millionen. Im Zeitraum zwischen 2000 und 2017 konnten laut UNICEF-Schätzungen rund 50 Millionen Kinderleben gerettet werden. Wer sich angesichts solcher Zahlen noch verzweifelt in die Vergangenheit wünscht, darf wohl als ausgemachter Egomane bezeichnet werden. Zur „früher war alles besser“-Fraktion gehören ja meist auch die berüchtigten „diese Jugend von heute“-­Jammerlappen. Denen wird es gar nicht schmecken, dass der Mensch im Durchschnitt stets intelligenter wird. IQ-Tests werden seit den 90ern laufend immer schwieriger gestaltet, um den Durchschnitt auf 100 zu halten – nachzugoogeln unter „Flynn-Effekt“. Diese ach so verblödeten Millennials, über die so gerne geschimpft wird, befinden sich rein intellektuell also an der Spitze der Nahrungskette. Das lassen wir jetzt einfach so hier stehen.

Heute gibt Tesla-Chef Elon Musk mit seiner Space X-Rakete „Falcon Heavy“ den talentierten Weltraum-Spediteur, der bald einmal den Mars besiedeln will. Früher war alles besser? Foto: (c) Getty Images

Was wir nicht stehen lassen wollen (und es auch nicht getan haben, siehe die letzten 1.077 Wörter), ist das „Früher war alles besser“-Gejammere. Das ist nämlich nicht nur irre nervig (so, jetzt ist’s draußen), sondern stimmt einfach nicht. Immerhin ist es keine 20 Jahre her, da tobte direkt vor unserer Haustür der Jugoslawienkrieg. Quasi die gesamte zweite Hälfte des vorangegangenen Jahrhunderts war vom Kalten Krieg geprägt, der nicht nur einmal fast zum heißen wurde. Und welches dunkle Kapitel der Geschichte davor geschrieben wurde, brauchen wir hier ja nicht zu erwähnen. Aber natürlich ist auch heute nicht alles Friedefreudeeierkuchen. Helene Fischer und Florian Silbereisen haben sich getrennt, Andreas Gabaliers „Hulapalu“ hat rund doppelt so viele YouTube-­Aufrufe wie „Satisfaction“ von den Stones und die Wiener sind so faul wie nie zuvor und stehen kaum mehr vor 15 Uhr auf. Nur wenn ich zwischen atomarem Wettrüsten mit Hang zur Eskalation oder „Volks-Rock’n’Roll“ beim Après-Ski wählen muss, dann lieber letzteres. Keine schwere Entscheidung.

Weiterlesen:

Rückblick: „So schön, schön war die Zeit …“ – zum Artikel klick hier!