KULTUR

Was macht Dich heil?

Neli Peycheva

Anlässlich des 30-jährigen Jubiläums des mehrfach preisgekrönten aktionstheater ensemble präsentierten Martin Gruber und seine Compagnie vom 29. Jänner bis 02. Februar die Uraufführung „Heile mich“ im Wiener Werk X.

Von Neli Peycheva

„Der Arbeitsweise des aktionstheater ensemble entsprechend, wird darin einmal mehr der politische Status quo auf das Persönliche, auf das Alltägliche heruntergerissen. Drei Schauspielerinnen exekutieren in dieser Theater- und Musikperformance ihren ganz persönlichen Seelenstriptease. Die fünf Musiker machen dort weiter, wo die Kommunikation versagt.“ (Martin Gruber).

© Stefan Hauer

Eine Bühne. Drei Schauspielerinnen. Viel Leid. Diesmal begegnet uns von der Bühne des aktionstheater ensemle das Bild einer kranken Gesellschaft. Die drei DarstellerInnen entblößen sich für uns, zeigen uns ihre Wunden, teilen ihr seelisches Leiden mit dem Publikum, um uns dann schonungslos vor die brennende Frage zu stellen, was uns in der gegenwärtigen Gesellschaft angesichts der politischen Situation wirklich krank macht, wohin uns das Krankhafte an uns führt, wo die Grenzen der Eigenverantwortung in diesem Prozess liegen und warum verzweifelte Hilferufe nicht erhört werden. Eine erschütternde Geschichte. Eine schonungslose. Und eine tragische zugleich.

Verkehrte Welt

Win-win Situationen, wie Isabellas Verliebtheit in David, bei dem „die Mundpartie“ seines Gesichts als ganz wichtig betont und daher angehimmelt wird, die sieben Schlüssel zu Wohnungen, die in die seelische und geistige Öde führende Türen aufmachen,  der naive Versuch, durch das „Besitzen“ des anderen sich selbst heil und ganz zu machen, das Konzept von Erfolg, das völlig sinnentleert und entwertet wird, keine tiefgehende Begründung mehr braucht und somit nur an Äußerlichkeiten gemessen wird (in Bezug auf David: „Warum ist er erfolgreich? „Das sieht man!“), die Idee von Glück, die an das Profane grenzt, zu einer Vergegenständlichung und zugleich einem Verlust des Menschlichen führt, und ganz krass in Isabellas Worten „Es ist bewiesen, dass Eichhörnchen glücklich machen“ zum Vorschein kommt – all die Momente markieren Meilensteine in der Anamnese der erkrankten trostlosen Gesellschaft und huschen brennenden Feuerzungen ähnlich durchs mitgenommene Publikum.  

© Stefan Hauer

Das Krankhafte am Geist in allen seinen Facetten wird auf der Bühne wachgerufen. Wie etwa die Missgunst gegenüber Älteren, die mangelnde Solidarität in der Gesellschaft, die überflutenden Medieninhalte der digitalisierten Welt, in der die freie Zeit zur Qual wird, weil man sich selbst vom einen zum nächsten Zeitvertreib hin jagt, ohne nach echt sinnstiftenden Konzepten zu suchen, die daraus entstehende Langeweile, die Pornoindustrie, die Pornos anbietet, in denen es um Demütigung geht. Auch PolitikerInnen werden ihrer inadäquaten, kranken, das Ziel verfehlende Funktion nach schonungslos entblößt: PolitikerInnen und Pornos anschauen, das macht süchtig, gibt Isabella zu.

© Stefan Hauer

Es ist auch kein Wunder, dass man in der Gesellschaft der Vereinsamung nach Objekten sucht, die die menschliche Nähe ersetzen sollten und zu denen man dann eine viel intensivere Beziehung pflegt als zu seinen Mitmenschen. „Ich weiß, dass du jemanden brauchst, damit du etwas empfindest“, sagt Isabella zu Susanne. Das Kranke an der Gesellschaft, geäußert in der Isolation des Einzelnen, der Suche nach emotionaler Sicherheit, der Unfähigkeit, ein echtes aufrichtig gesätes Gefühl den anderen gegenüber zu empfinden, wühlt das Publikum auf, das nun nach Antworten für sich selbst sucht.

© Stefan Hauer

Dass Palästina, Iran, Kärnten, die USA etc. von Kirstin nebeneinander aufgezählt werden, indem die Betonung auf die Notwendigkeit „in einem internationalen Zusammenhang“ zu arbeiten gesetzt wird, deutet klar auf die Unbrauchbarkeit abgedroschener Politikkonzepte hin, die nicht mehr echt wahrgenommen, verarbeitet und differenziert artikuliert werden. Sie führen nämlich zu keiner Selbstfindung und -erlösung, weil dahinter das kranke Ich nach wie vor um Hilfe schreit. Um der quälenden Frage „Do you have children?“ endlich zu entfliehen, antwortet Kirstin mit einer Lüge, denn dann „geht es gleich allen besser, der lügenden Partei und der angelogenen“, was ein markantes Beispiel ist, wie man mit sich selbst und seinen Mitmenschen umgeht, wenn es unangenehm wird: Ehrlichkeit zu sich selbst und den anderen tritt vor der Lüge zurück.

Was macht dich heil? Heilpraktiken und -versuche

Pseudoheilpraktiken und -versuche werden aus einer Unmenge an Heilmethoden geschöpft, die sich von einem bis zum anderen Pol der Wissenschaft hinausstrecken, zwischen rein Rationalem und Esoterischem hin und her pendeln und psychologische, esoterische, ayurvedische und pragmatische Ansätze vereinbaren. Diese Überflutung an Heilpraktiken ist an sich ein alarmierendes Signal für die Unmöglichkeit der Gesellschaft, effiziente Lösungen für ihre Probleme zu finden.

© Stefan Hauer

Bei der Übung „Das goldene Ei“, von der Isabella erzählt, etwa sollte Gold einem die eigene verlorene Kraft zurückgeben. Die Imago-Therapie wird von Susanne als totale Manipulation geleugnet, dafür aber verlässt sie sich auf politische Parole, die in ihren Alltag Einzug gehalten haben, wie „Es geht um eine Kultur des Vertrauens“, „radikal und entschlossen“ muss sie ihre Tasche immer wieder neu flicken. Wenn Kirstin über die Technik „Jemand auf einen Stuhl setzten“ spricht, führt sie ein imaginäres Gespräch mit Susanne über ihr Bild von der Freundschaft zwischen den beiden. Aus dem Bedürfnis heraus, das Vertrauen in sich selbst und in die anderen wiederzufinden, dem Publikum ihr Vertrauen zu demonstrieren, zieht sie sich dann nackt auf der Bühne aus: „Ich will einfach so dastehen, wie ich bin.“ Eine tief verankerte Sehnsucht eines jeden menschlichen Wesens, irgendwann alle Schichten abzulegen und in seiner Nacktheit angenommen zu werden, wird hier zur Schau getragen.  

Jede der drei Frauen auf der Bühne verteidigt blind ihre eigene Theorie in einer verblindeten zerstückelten orientierungslosen Gesellschaft, deren Ohnmacht sich in ihrer Unmöglichkeit äußerst, die anderen wirklich wahrzunehmen und nach Berührungspunkten zu suchen.

Während Kirstin einen Kurs für Friedensforschung absolviert, bei dem Inhalte wie Konfliktmanagement und Selbstreflexion äußerst wichtig zu sein scheinen, mit der Hoffnung, da eine Erlösung für sich selbst zu finden, träumt Isabella von einem Kurs für Verhörpraktiken, weil sie in Beziehungen immer angelogen worden ist. Das Grotesk-Politische trifft auf das Persönliche und fügt auch in diesem kleinen heiligen Bereich Schaden hinzu; fertige Parole werden der eigenen Persönlichkeit rücksichtslos überstülpet, was keineswegs die erwünschte Heilung herbeiführt, sondern eh noch verstörtere menschliche Wesen und ein völlig gestörtes leidendes Ich zur Folge hat.

Mit der Hoffnung, endlich mal verstanden zu werden, entscheidet sich Kirstin, sich mit der Gebärdensprache auszudrücken. „Was macht dich heil, Susanne?“, fragt sie. Für die eine ist es ein Gespräch oder ein gutes Essen, das sind die Freunde, für die andere – das Gefühl der Geborgenheit, in einer Welt der Vereinsamung, in der Freundschaften von heute auf morgen weg sind. „Will I realize where my memories are gone?”, ertönt aus dem Hintergrund.

Tanz und Rhythmus. Der Körper als Tempel der Krankheit

Ein krankhafter Geist schlägt im Körper Alarm. Die DarstellerInnen auf der Bühne ähneln Marionetten, drehen sich immer wieder um die eigene Achse oder im Kreis, finden keinen Ausweg aus diesem krankhaften Sich-im-Kreis-Drehen, halten Hände, vom Krankhaften in ihrem Leiden vereint. Das rhythmische Klatschen mit den Händen auf den Schenkeln oder das Stampfen mit den Füßen erinnert an einer Technoautomatisierung, bei der es letztlich darum geht, gefühls- und gedankenlos zu funktionieren. Der Mensch wird zum Objekt. Das Unkontrollierbare am Körper, etwa der Schlag der einen Hand auf die andere steht wohl für die abgebrochene Verbindung zwischen Körper und Geist in einer krankhaften Phase nämlich, in der man verantwortungslos gegen sich selbst handelt und sein Leiden selbst provoziert.

Das von den drei fantastischen Schauspielerinnen auf der Bühne Unausgesprochene in ihrer Suche nach dem Heil wird von den fünf Musikern wiederaufgenommen und durch Klang und Musik pointiert weitererzählt.

© Stefan Hauer

Die Videoinstallation an der Wand links zeigt zwei Hände. Sie bewegen sich, die eine kommt der anderen langsam näher, bleibt ein paar Sekunden im Augenblick der Berührung inne, einer Gebetshaltung ähnlich, und bewegt sich dann wieder zurück. Im gleichen Tempo keimt für ein paar Sekunden die Hoffnung nach Erlösung auf, um dann wieder zu erlöschen und sich in ein Gefühl der Ausweglosigkeit aufzulösen.

Das treue Publikum hat auch diesmal mit kräftigem Applaus und tiefster Dankbarkeit die wunderbaren DarstellerInnen verabschiedet, die schon wieder stellvertretend für uns von der Bühne aus erzählt, gelitten, sich entblößt haben. Und gerade da, wo das Spiel endet, in dem Augenblick, in dem das Publikum den Saal verlässt, beginnt in einem jeden die eigentliche Suche nach dem Heil.  Was macht Euch heil? Wisst Ihr das schon?

Regie, Skript: Martin Gruber | Text: Martin Gruber und aktionstheater ensemble | Dramaturgie: Martin Ojster | Musik: Dun Field Three | Regieassistenz: Laura Loacker | DarstellerInnen: Susanne Brandt, Isabella Jeschke, Kirstin Schwab sowie Andreas Dauböck, Klaus Hämmerle, Michael Lind, Ernst Tiefenthaler, Emanuel Preuschl