AKUT

Archiv 1990: Die Wasser-Leiche

Jakob Stantejsky

Algen, Touristen, Landwirtschaft. Der größte Steppensee Mitteleuropas im Koma. Die Verantwortlichen drücken sich vor der Verantwortung, aus dem Schilf stinkt es zum Himmel. Ein Katastrophenbesuch von Gerhard Kummer (Text) und Prof. Nick Titz (Fotos).

Der Neusiedler See, Mitteleuropas größter Steppensee, 321 Quadratkilometer Wasser und Schilf. Eingebettet in die pannonische Landschaft des nördlichen Burgenlandes. Fast 13.000 Jahre lang ein blühendes Naturparadies. Heute – nach nur 60 Jahren intensivster Nutzung – eine Kloake. Von Landwirtschaft, Industrie und Ufergemeinden in die Ökokatastrophe geschleudert, von profitgeilen Lokalpolitikern verbetoniert, von Touristen und Hüttenbesitzern zugeschissen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Die medienträchtige, vom Badeverbot bedrohte Ruster Bucht ist nur ein Beispiel. An den Stränden der übrigen See­gemeinden sieht’s kaum anders aus. Schwimmen ohne Taucheranzug wird – falls nichts geschieht – bald nur noch ein Vergnügen für Hasardeure. Kolibakterien lauern, Fische krepieren und die Algen treiben wilde Blüten.

Die Grünen haben zwar schon vor einem Jahr ein konkretes Maßnahmenpaket präsentiert, doch reagiert hat keiner. So haben die Verantwortlichen – allen voran Rust-Boss Artinger – noch vor einigen Monaten genau die Fakten bestritten, die mittlerweile unwider­legbar sind. Und gnadenlos. Für kosmetische Eingriffe ist es längst zu spät. Der Patient See liegt im Koma. Wir machten uns auf Krankenbesuch.

Tatort Neusiedl. Prof. Nick Titz, UNESCO-Beauftragter für die Seeregion, führt uns ins Schilf. Genau dorthin, wo der Kanal der ufernähen (!) Kläranlage in den Schilfgürtel mündet. Immer der Nase nach. Der Gestank wird heftiger, die Optik krallt sich in den Magen. Klärschlamm, von der überalterten Kläranlage trotz vorjähriger Millionenreparatur nicht mehr verdaut. Ein Fäkalienmenü, das sich träge in der Botanik verteilt. Das Wasser ist bleigrau, zähflüssig. Einige hundert Meter weiter ein Touristendorf, die Refugiumsiedlung. Beinhart ins Schilf gebaut. Auf Gedeih und Verderb. Naturfreunden kommt’s hoch. Tatsache. Dabei, so Titz, „verkennt Bürgermeister Halbeitter die Gefahren, die ein defekter Schilfgürtel birgt, noch immer – und ist damit leider kein Einzelfall!“

Im Gegenteil, Die Chefpartie der übrigen Gemeinden denkt nicht anders. Nichts wurde unversucht gelassen, das ökologische Gleichgewicht in und um das 36 Kilometer lange Null durch aggressivste Bauvorhaben zu zerschneiden, den Biofilter Schilfwald auf brutale Weise zu durchlöchern, sich sämtlichen – freilich beschränkenden – Nutzungskonzepten zu verweigern. „Solange die nicht – mit Boots-, Hütten- und Badegasthöchstrahlen Kraft treten“, so Christine Heindi, Nationalratskandidatin und Geschäftsführerin der burgenländischen Grünen, hat der See nicht den Funken einer Chance, sich zu regenerieren! Hart, aber wahr.

Dabei hat das – nach der Schleusenregulierung ’64 – durchschnittlich 1,10 Meter tiefe „Meer der Wiener“ schon härtere Attacken überstanden. An die 200mal ausgetrocknet, allein in den letzten 150 Jahren viermal. Was dem kostbaren Klimaregulator jetzt allerdings den Garaus machen könnte, ist das fatale Dreieck Profit – Eingriff in den ökologischen Haushalt – Übernutzung. Waren das Fischsterben vor drei Jahren – allein an die 50.000 Aale und die vorjährige äußerst deftige Algenblüte im Schilfgürtel Alarmzeichen, die gut und gerne übersehen wurden, so treten die Probleme in diesem Frühjahr bereits wesentlich massiver auf. Dabei ist der Auslöserkomplex mehr als bekannt: landwirtschaftliche, industrielle und private Wasserverschmutzung, Verhüttelung, mangelnde Entsorgungseinrichtungen. Und ein Massenstrom an Besuchern, die den See offenbar mit einem Plumpsklo verwechseln.

Die Zahlen sprechen für sich: 2.4 Millionen Übernachtungen pro Jahr. Dazu gesellt sich an sommerlichen Wochenenden eine Besucherfrequenz, die locker die 120.000er Marke passiert. Doch nur ein Prozentteil davon entleert sich in die öffentlichen Toiletten. Der Rest lässt im Wasser die Sau raus. Ohne mit der Wimper zu zucken. Begegnungen mit Objekten der allerwertesten Art sind keine Seltenheit, Kraulen mit Widerstand bald gang und gäbe. Akute Gegenmaßnahmen: Reduzierung der Besucherhöchstzahlen auf ein Viertel der derzeitigen, ordnungsgemäßen Entsorgung der Abwässer, Erneuerung und Standortverlegung der Kläranlagen und die Stillegung eines Großteils der circa 800 nicht vorschriftsmäßig funktionierenden Hütten. Deren gesetzliche Auflagen sind zwar kernig, aber eben nur auf dem Papier. Die Wahrheit ist ein Rohr – direkt in den See.

Hofrat Wilhelm Hicke, burgenländischer Naturschutzreferent, bringt das Problem auf den Punkt: „Auflagen können noch so straff sein, wenn es an Kontrollorganen fehlt!“ Wobei der Hofrat auch ein Umdenken innerhalb der Bevölkerung registriert haben will. Doch derartige Prozesse fließen genauso zähflüssig wie der Fäkalienstrom im Schilf. Besonders seitens der Bauern, die weiterhin düngen, was das Zeug hält. Phosphor, Ammonium, Nitrate und weiß der Henker was noch. Die Folge: Regengüsse, Grundwasser und Wind transportieren die Chemikalien direkt in den See. Logisch, ist er doch der tiefste Punkt Österreichs. Und im Gegensatz zu Alpengewässern extrem labil. Geringe Tiefe, keine natürlichen Abflüsse, ausschließlich widernatürliche Zuflüsse. Was reinkommt, bleibt auch drinnen. Das Wasser verdunstet, der Dreck bleibt. Allein an Phosphor wandern sage und schreibe 100 Tonnen ins Seebecken. Pro Jahr. Dazu noch Unmengen anderer Nährstoffe, die – im Wasser gelöst – nach dem Turboladerprinzip funktionieren. Die Konsequenz: zunehmende Eutrophierung. Im Klartext: enorme Beschleunigung der Biomasseproduktion – vor allem von Algen – und das endgültige Nein für jede ökologische Balance. Für lange Zeit. „Selbst wenn ab sofort nichts mehr reinkäme“, so Dozent Dr. Alois Herzig, Mitarbeiter der Biologischen Station Illmitz, „würde es noch Jahrzehnte dauern, bis der See sich halbwegs wieder erholt!“ Kein Wunder, liefert doch allein schon der Hauptzufluss Wulka nach einem einzigen Gewitterguss die Schadstoffmengen, die sonst innerhalb eines Jahres ins kühle Nass gelangen. Nutznießer: die Algen. Vornehmlich Blau-, Faden- und Schwebealgen. Eine liebe Familie mit netten Angewohnheiten: hemmungsloser Sauerstoffverbrauch, für den Menschen teilweise schädliche, allergische Reaktionen, provozierende Absonderungen und ein oft bestialischer Gestank. Fische und Kleinlebewesen ersticken, in den Buchten und Kanälen sammelt sich der Faulschlamm. Und der wird meist auf haarsträubende Weise entsorgt – nämlich gar nicht. Einfach weggebaggert und einige hundert Meter weiter wieder fröhlich abgeladen. Mitten im Schilf, das Ganze im Verein mit Klärschlamm derart zum Himmel stinkt, dass sogar Petrus das kalte Grauen überkommt.

„Dabei“, sagt Hofrat Helmut Grosina, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Gesamtkonzept Neusiedler See, „könnte die Landwirtschaft einiges tun, um das Übel Nährstoffeintrag wenigstens zu mindern.“ Maßnahmen, die da sind: Anbau gegen die Fallrichtung, Rainbildung sowie Begrünung zwischen den Kulturen, Schaffung natürlicher Pufferzonen zwischen See und Ertrag. „Doch der Mensch“, philosophiert Grosina, „ist immer langsam, auch wenn es nur um Übergangslösungen geht.“

Doch auch die werden gerne unterbunden, sobald Profiteinbußen drohen. Sündenböcke sind schnell gefunden. Am Beispiel Rust geduldige und vor allem schweigsame. Die Vögel. Insbesondere die Schwäne. Klar. Freßmaschinen, die sich auf Teufel komm raus vermehren und nicht weniger von sich geben. Aber nur, weil bedenkenlos freßbare Abfälle in Schilf und See geworfen werden und damit bestimmten Vogelarten ein überreicher Tisch gedeckt wird. Während andere Vögel, wie der Storch – das Ruster Promotion-Tier – kaum noch genügend Lebensraum finden. Dennoch, die Vögel werden seitens lokalpolitischer Größen kurzerhand öffentlich als ausschließliche Verursacher des lästigen Kolibakterienproblems genannt. So ließ man aus Rust der Alternativ-Chefin Heindl erst kürzlich ausrichten, sie könne sich die Vogelkadaver bald persönlich abholen. Während die Ruster Hüttensiedlung „Romantica“ weiterhin zwar mit Wasserleitungsanschlüssen versehen ist, doch keineswegs mit Abwasserkanälen. Statt dessen – im besten Fall – Senktonnen, die von Fäkalienbooten – meist zu selten entleert werden. Doch nicht immer wird das delikate Material zur Kläranlage transportiert. Beobachter schwören, auch Richtung Seemitte, wo dann Hemmungen und Luken fallen.

Nicht weniger gravierende Mängel weist die Handhabung mit Altlasten rund um den See auf. Und die sind zahlreich wie Sand am Meer. Prof. Titz, seit Jahren einer der vehementesten Vorkämpfer für ein ökologisches Bewusstsein innerhalb der Seeregion, hat sich zusammen mit dem Geologen Dr. Schedel auf Spurensuche gemacht, die Deponien gezählt, kartiert und fotografisch dokumentiert. Die Fotoschau in der Neusiedler Kunstgalerie „In den Gerbgruben“ ist ein Ausflug ins Horrorlabor. Jedes Foto ein Tritt in den Unterleib. Autowracks, Kühlschränke, Filter, Altöl, Spritzmittel, Lack- und Quecksilberreste, Batterien. Allein an Deponien über 100 Kubikmeter mehr als 200. Zeitbomben, die alles andere als entschärft wurden. Im Gegenteil. Man hat sie einfach planiert, zugeschüttet und teils zu Agrarland umfunktioniert. Auf zahlreichen Altlasten wächst heute Getreide und Wein. Die Bevölkerung – oft ahnungslos. Auf anderen stehen Wohnblöcke und Einfamilienhäuser. Verantwortlich – die Bürgermeister. „Doch die“, so Titz, „sind ausschließlich Technokraten, denen scheinbar jegliches Feeling für Natur und Umwelt fehlt!“ Keine Übertreibung. So sind allein die anstehenden Reparaturkosten inzwischen bei weitem höher als die Einnahmen aus dem Fremdenverkehr. Ein Problem, das den Politikern schon lange vertraut ist. Zu hören bislang nur lächerliche Schönfärbereien, kosmetische Grabbeigaben. Gewarnt hat man sie. Ohne Zweifel.

Dazu Pius Strobl, Bundesgeschäftsführer der Grünen: „,Das, was wir durch rechtzeitige Warnungen und konkrete Forderungen vermeiden wollten, tritt nunmehr ein: dass der See als Folge jahrzehntelanger Ausbeutung in einem katastrophalen Zustand ist und ein generelles Badeverbot wegen Gesundheitsgefährdung in Aussicht steht!“ Und genau das ist der Grund, warum zum ersten Mal – und fast schon zu spät – Warnungen und Feststellungen von Wissenschaftlern und Ökologen die Mauer der Ignoranz, von burgenländischen Politikern und willfährigen Beamten errichtet, durchbrechen. Die im Vorjahr von Landesvater Hans Sipötz gemachten Versprechungen hinsichtlich eines Gesamtnutzungskonzepts sind – bislang nichts als leere Worte geblieben. So wurde zwar letzten Sommer eine großangelegte Konferenz internationaler Wissenschaftler einberufen, doch daraus wurde nichts als eine nette kleine Heurigenpartie, die einen halben Tag dauerte und für ökologische Einwände kaum Platz ließ.

Sollte es tatsächlich auf Grund klimatischer Spezialverhältnisse zu einem Badeverbot kommen, wird die gesamte Seeregion und damit auch der Touristenmagnet Bella Austria – einen Imageverlust ohne gleichen davontragen. Bis zum Höhepunkt der Besucherströme bleibt kaum noch Zeit und Interessenlobbys tun das ihre, um jeglichen Eingriff in ihre jeweiligen Interessen cash, was sonst!? zu unterbinden, jedes Nutzungskonzept zu untergraben. Kein Wunder, droht doch ein saftiges Maßnahmenpaket, das den Bürgermeistern und Politikern schon längst schlaflose Nächte bereitet. Hoffentlich, denn sonst kann man in diesem einzigartigen Naturjuwel bald nur noch eins: bis zu den Knien durch Allzumenschliches, Algen und Morast waten. Viel Spaß!