AKUT
Archiv 1990: Tut Wut gut?
Wir kennen sie: die Leute, die bei jeder Gelegenheit ausrasten und zu toben beginnen. Michaela Ernst versucht nachzuweisen, dass nicht nur Frauen hysterisch sind.
Mag sein, dass der Taschenrechner „Scheißdreck“ ist, weil er aus fünf mal fünf Weihnachten macht. Er zerschellt gerade im Stiegenhaus. Die Fernbedienung zählt auch zu der Sorte Technik. Wahrscheinlich war nur die Batterie leer. Aber zu spät, um zu grübeln: die Partikelchen tanzen zerstreut im Kloschlund. Leider halten die Sachen nie besonders lange. Der Telefonanrufbeantworter, der seit gestern ein Eigenleben führt, saust auf den Mercedes im Hof zu. Das kostet zwar ein neues Gerät, ein frisches Autodach und einen Krach mit dem Besitzer. Ist immer noch besser als tägliche Falschmeldungen, Magengeschwüre und freundschaftliche Beziehungen zu den anderen Hausparteien.
Wirklich schade ist es um die Jugendstilgläser. Nachdem der Geschirrspüler das erste entzweite, sollten die restlichen sieben auch nicht mehr sein.
Fürchte niemals einen Mann, er tut nur sein Bestes. Natürlich begleiten deftige Worttiraden sein Spiel. Völlig sinnlos, ihn verstehen zu wollen. Es geht nicht um Inhalte, es geht um Kakophonie, die aus der Seele tönt. Ist die Platte nämlich abgelaufen, mutiert der Tobende wieder zum Cashmerebock. Kuschelt sich ob der vielen Scherben an seine Liebste, flüstert ihr ein sinnliches „Es ging nicht anders“ ins Ohr. Und das Leben ist wieder ganz Lebkuchenherz.
„Wir haben Tortellini gekocht“, Bettina W. erinnert sich an die Liaison mit Christian Niedermayer. „Ich habe ihn gebeten, den Topf vom Herd zu nehmen. Dabei hat er sich die Finger verbrannt und ist völlig ausgerastet. Ich hatte die Nase voll und wollte gehen.“ Es sei – behauptet Bettina – sogar zu einer Rangelei gekommen: „Er hat mir den Mantel zerrissen und gebrüllt.“ Ein andermal soll der heißblütige Junior vor lauter Wut das Telefon aus der Wand gerissen haben. Trotzdem immer ein Happy-End. Bettina: „Im Nachhinein haben wir stets sehr gelacht.“
Auch eine ehemalige Angestellte, der er im Zorn drohte, sie wegen eines falsch verbundenen Gesprächs aus dem Fenster zu werfen, findet nur Nettes für den verflossenen Boss: „Wir sind im besten Einverständnis auseinandergegangen.“ Christian Niedermayer lässt sich zu einem kleinen Geständnis hinreißen: „Ja, früher war ich sehr jähzornig.“ Da passierte so eine Sache mit einer Mitarbeiterin. Sehr peinlich, bis nach Vorarlberg hat sich’s gesprochen. Er habe aber an sich gearbeitet, und jetzt sei alles ganz anders. „Manchmal spüre ich es schon in mir brodeln. Aber ich reiß mich zusammen, weil ich weiß: Eine Minute später ist alles wieder vorüber. Nur am Tennisplatz lasse ich hin und wieder die Sau raus. Fluche laut oder knalle den Schläger am Boden. Es ist das letzte Revier, wo ich mich so richtig austobe.“
Das Leben mit einem Hysteriker ist wie das Leben mit einem Atomkraftwerk. Solange die Turbinen laufen, die Kühlung funktioniert, ist alles tutti. Doch wehe das Zeug wird undicht. Da heißt’s im einen wie im anderen Fall: nichts wie weg! Hysterische Männer, das klingt wie ödipale Frauen absurd. Weil der Ursprung des Wortes weiblicher Natur ist: Hystera heißt Gebärmutter. Und weil die Gesellschaft es möchte: Frauen kreischen, Männer brüllen. Man sagt auch: Gänse kreischen, Löwen brüllen. So bleibt die Hysterie auch nach 20 Jahren Frauenbewegung zumeist Privileg der Gebärmutterträgerinnen.
Die Wirklichkeit schaut wie immer anders aus: es gibt männliche Hysteriker. „Mindestens genauso viele wie weibliche“, schätzt Univ.-Dozent Herwig Scholz, Leiter des psychiatrischen Sonderkrankenhauses De La Tour. Krankhafte Hysteriker, Menschen mit zweckbetontem Verhalten und ungeheuer raschem Affektwechsel. Oder: Hysteriker im volkstümlichen Sinn unbeherrschte Menschen, Angstbeißer, Choleriker. Zugeben tut’s keiner. Wenn Hans-Christian durchdreht, weil er im Fernsehen. „Der Name der Rose“ versäumt, dann tut er es aus demselben Grund wie Paul-Gregor, der sich den Kopf darüber zerbricht, warum Joghurtbecher weiß sein müssen. Ihr befremdliches Verhalten geschieht, weil die Urkraft mit ihnen durchgeht, erklären sie. Auf die Idee, dass sie nicht mehr alle in der Reihe haben, kommen sie nicht.
Ausbrüche müssen nicht immer animalischer Natur sein. Zuweilen sind sie mit geradezu intellektuellem Touch behaftet. „Die Geschmacklosigkeit, die einen ständig umgibt, ist verletzend. Man wird ununterbrochen beleidigt. Die Aufgeregtheit, die sich daraus ergibt, ist ein zynischer Vorgang. So wie man diese Welt aufbereitet, muss es zu Überreaktionen kommen“, bringt Prof. Peter Noever, Direktor des Museums für angewandte Kunst, das Problem auf den Punkt.
Graue Theorie, bunte Praxis: Symposien soll er in letzter Sekunde abgeblasen haben, die Teppiche im Raum würden sein Auge beleidigen. Und den Kaktus einer Sekretärin hat er angeblich in den Eisschrank gesteckt. Weil er, oh kleinbürgerliches Schmuckstück, auf einer weißen Untertasse stand.
Eine Grundhaltung, der sich Ästhet Pedro, Leiter der Model-Agentur „Flair, inbrünstig anschließt: „Natürlich schrei‘ ich im Büro herum. Aber das hat nichts mit negativer Energie zu tun. Im Gegenteil: oft unterstreicht es einen kreativen Prozess. In dem Moment, wo ich aus der Haut fahre, weil man hierzulande frische Trends, neue Gesichter nicht verstehen will, bemühe ich mich ja um neue Möglichkeiten, mein Anliegen durchzusetzen.“
Kaum zu glauben, dass Hysteriker oft sehr gutmütige Menschen sind. Im Nachhinein bereuen sie ihre Anfälle stärker als andere Menschen einen Fehler. Außerdem sind sie niemals nachtragend: ist die Bombe explodiert, lebt sich’s wieder kultiviert. Sollte dies alles nicht zählen, ist ein gut inszenierter Anfall immer noch Garant für einen effektvollen Auftritt: „Ach ja, mein Strip am Flughafen“, plaudert Pedro aus dem Repertoire. „Ich bin über Ost-Berlin nach Wien geflogen. Als mich auch noch in Schwechat die Polizei kontrollieren wollte, bin ich explodiert: na, wie oft denn eigentlich noch die blöde Fragerei. Der Polizist hat mich sofort zur Seite genommen. Ich musste mich ausziehen. Irgendwann hat er dann ‚Burli‘ zu mir gesagt, da hab‘ ich zu toben begonnen: Burli kannst zu deinem Pudel oder zu deinem kleinen Buben sagen, aber nicht zu mir. Darauf der entnervte Polizist: ,Also gut, schleich di. Und ich, natürlich immer noch stinksauer: schleichen tun sich die Indianer.“ Die Show war ein Erfolg: am nächsten Tag war die Geschichte beim Krone-Adabei nachzulesen. Drei Wochen später ein blauer Brief in Pedros Postkasten: 2000 Schilling Verwaltungsstrafe. Wegen ungestümen Benehmens.
Zornbinkel
Woran Sie erkennen, dass Sie hysterisch sind:
1. Sie können sich schlecht beherrschen, sind ein affektlabiler Mensch, der sich allerdings genauso schnell wie er die Nerven verliert, auch wieder beruhigt.
2. Sie sind zweckbetont, agieren mit dem Bestreben, Aufmerksamkeit bei Ihrer Umgebung zu erwecken, beeindrucken mit Aufwand und Show. Ihr Geltungsdrang ist extrem ausgeprägt: Echtheit ist weniger gefragt als Effekthascherei.
3. Sie wollen sich nicht beherrschen. Treten im Büro gerne als tosender Chef, zu Hause als polternder Patriarch auf. Sie suchen die Fehler mehr bei anderen als bei sich selbst, fühlen sich nicht anerkannt genug und entdecken, dass Sie als brüllender Löwe Ihre Umwelt in Atem halten können. (In diesem Fall ist Hysterie als Unbeherrschtheit zu verstehen.)
Wie Sie Ihre Hysterie in den Griff bekommen:
1. Wenn Sie merken, dass Ihnen das Blut in den Kopf steigt, versuchen Sie rasch, sich abzulenken, beschäftigen Sie sich mit ganz anderen Dingen. Bis zehn zählen wirkt besser als eine Handvoll Valium.
2. Erlernen Sie Entspannungstechniken: autogenes Training oder Muskelentspannung (z. B. Kurzentspannungstechnik nach Jakobson).
3. Wiederholen sich Ihre Ausbrüche in bestimmten Situationen, analysieren Sie die Situation. Denken Sie nach, was Sie wirklich stört und was Sie eigentlich erreichen wollen.
Wir danken Prim. Univ.-Doz. Dr. H. Scholz, ärztlicher Leiter des Krankenhauses De La Tour, für die freundliche Mitarbeit.