AKUT

Ich bin also ein Nazi.

Franz J. Sauer

Aktivistin Nunu Kaller über Virtue Signalling, Twitter – tschulligung – X, ihr neues Image als „Naaazi“ und wie es ihr gegen den Strich geht.

Ich bin schon echt ein Nazi. Also wirklich. Furchtbar bin ich. Menschenfeindin! Zumindest, wenn man Twitter – tschulligung – X glauben kann. Mir passiert es aus Gewohnheit regelmäßig, dass ich mit dem Binnen-I gendere und nicht mit dem Sternchen: Nazi!

Ich bin weder pro Palästina noch pro Israel, sondern der Überzeugung, dass ich als Außenstehende mich in diesem Konflikt nicht auskennen KANN. Ich wünsche mir einfach nur sehnlichst, dass niemand mehr aufgrund dieses Konflikts stirbt: Naazi!!

Ich bin bei jeglicher Anerkennung diverser Geschlechteridentitäten der Überzeugung, dass es biologisch zwei Geschlechter gibt (plus seltene genetische Abweichungen): Naaazi!!! 

Ich bin übrigens immer noch dort, also auf Twitter – tschulligung – X und damit signalisiere ich ganz automatisch, dass ich Elon Musk natürlich extrem super finde, also Naaaaazi!!!! bin. 

Leute, so geht’s nicht weiter. Es kann nicht angehen, dass Virtue Signalling das höchste politische Gut ist. Es öffnet den Nazis nämlich Tür und Tor. 

Nunu Kaller

Der Haken ist halt blöderweise nur: Man kann es mir noch so oft zuschreiben, ich bin es nicht. Pech gehabt. Was ich bin, ist inzwischen schon sehr genervt von all diesen Zuschreibungen. 

Diese Zuschreibungen gibt es im direkten Gespräch nicht. Ich habe sie noch nie erlebt, obwohl ich gerne und viel mit Menschen politisiere, auch und vor allem mit jenen, die nicht aus meiner Blase stammen. Zeig mir deine Argumente, ich zeig dir meine. Oh ja, es geht hier immer noch um – Argumente! Aber Argumente auf Twitter – tschulligung – x? Fehlanzeige. Da geht es darum, schön fest auszuteilen, damit andere das lesen und sich denken: Oh, ein mutiger Kämpfer für Gerechtigkeit ist das, der die Kaller da als Nazi beschimpft, weil sie über einen türkischen Jungen schreibt, dass er türkischstämmig ist, ohne seinen Reisepass überprüft zu haben (diese Geschichte ist nur zum Teil übertrieben übrigens). Virtue Signalling heißt das. Ein Herumwedeln mit der eigenen Ideologie, die in vielen Fällen wirklich sagenhaft substanzfrei ist. 

Political Correctness wird immer enger. Der Pfad, den man entlang gehen kann, gleicht inzwischen einem Seiltanz. Unmengen an Menschen, die ich kenne, und da sind ein paar echt Blitzgescheite darunter, sagen inzwischen einfach … nix mehr. Sie und auch ich sind verunsichert davon, wie absurd der nächste Shitstorm diesmal anrollen wird, und leben inzwischen nach dem Prinzip „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.“ (Goldkauf ist übrigens auch Nazi, hab ich neuerdings gelernt. Nur so nebenbei…). Gscheit ist das wiederum aber nicht so wirklich. Schweigend hat sich noch nie wirklich was verändert. Wusste schon die unvergleichliche und schmerzlich fehlende Johanna Dohnal: „Aus taktischen Gründen leise zu treten, hat sich noch immer als Fehler erwiesen.“ Dieser Fehler passiert gerade vor unseren Augen. 

Und Himmel nochmal, natürlich will ich Veränderung! Natürlich möchte ich, dass der in diesem Land mit der Muttermilch aufgesogene und daher tiefsitzende Rassismus und diese noch viel tiefersitzende Misogynie endet. Natürlich möchte ich, dass es endlich eine echte wirtschaftliche und gesellschaftliche Gleichstellung von Frauen und von allen Geschlechtsidentitäten gibt (wobei, nein, ich möchte ehrlich gesagt nicht gleichgestellt sein mit jemandem, der Pädophilie unter dem LGBTQ-Schirm sehen möchte. Harte Grenze. Big No No.). Und natürlich möchte ich einen respektvollen, integrativen Umgang mit Menschen, die in unser Land kommen – weil in Wahrheit sind genau die unsere Zukunft. 

Klingt alles total Nazi, oder? Gut, dann bin ich eben Nazi. 

Aber jetzt mal ernsthaft, seit einigen Wochen denke ich: Mit jeder Person mit Zahlen im Twitter-tschulligung-X-Namen und blauen Haaren am Profilfoto, die mir meist mit einer sehr faktenbefreiten Begründung erklärt, was für ein Fascho-Nazi ich nicht sei, verstehe ich die Menschen besser, die dann entnervt mit den Schultern zucken und denken: Ja, gut, dann bin ich das halt. Wenn du das sagst, wird’s schon stimmen. 

Und genau DAS ist gefährlich. Genau das ist der Gedanke, den ich nicht denken möchte. Denn genau diese Gedanken führen in die rechte Richtung. Öffnen die Aufmerksamkeit für Kickl und Co. Irgendwann hört man sich dann vielleicht an, was er sagt. Oder ist erleichtert, dass „es endlich jemand ausspricht“. Keine Sorge, ich bin Lichtjahre davon entfernt, auch nur einen Rülpser aus Kickls Mund für richtig zu halten. Aber ich bin nicht alle. Die ideologisierte Verengung dessen, was als politisch korrekt oder als „links“ gilt, betrifft nicht nur mich. Menschen werden von selbsternannten linken Kämpfer*innen gerade einfach nur (teilweise halt einfach nur noch weiter) nach rechts getrieben – und die Wahlprognosen zeigen, was das Ergebnis sein wird. 

Ich weiß, wer ich bin, wofür ich stehe, und dass meine Überzeugung, was links ist, wohl derzeit nicht so ganz En Vogue ist. Aber Nazi? Tschulligung? Vielleicht sollte ich dazu übergehen, blauhaarige Kämpfer*innen für das Gerechte als Marxist*innen zu beschimpfen, vielleicht fangen sie dann an, sich mit Materialismus und Klassenkampf zu beschäftigen? 

Leute, so geht’s nicht weiter. Es kann nicht angehen, dass Virtue Signalling das höchste politische Gut ist. Es öffnet den Nazis nämlich Tür und Tor. 

Wir haben übrigens echte Nazis in diesem Land. Die zum Beispiel groteske Pamphlete darüber schreiben, welchen Menschen man den Pass wegnehmen sollte, und die über „Remigration“ phantasieren, die gegenseitig natürlich ständig leugnen, untereinander in Kontakt zu sein und dann doch zu den Bestvernetzten gehören. Und die nach der nächsten Wahl wieder fest im Sattel (ein Sickerwitz…) sitzen werden.