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Der Herr Doktor Zilk und der Herr Garnichts Molzer

Kurt Molzer ist weit herumgekommen. Aber Wien ist und bleibt seine Heimat, mit der er zahllose Erinnerungen verbindet. Zum Beispiel damals, als er mit Herrn Doktor Zilk beim Urbanek am Naschmarkt war.

Text: Kurt Molzer

Ich bin, wie man so schön sagt, herumgekommen in der Welt, ich war auf allen Erdteilen, schüttete auf Dinner-Partys in Monaco, Miami oder Sydney den sagenhaftesten Bräuten des Universums Champagner ins Dekollete und schlürfte selbigen dann mit gieriger Zunge von ebendort wieder heraus, ich fuhr mit der „Queen Elizabeth 2“ über den Nordatlantik von England nach Amerika, ich sah aber auch den Dreck und das Elend, ich war in indischen Lepra-Stationen und von Rebellen niedergebrannten nicaraguanischen Dörfern, überlebte im Bürgerkrieg von Angola nur knapp und wie durch ein Wunder die Malaria tropica und das darauf folgende Schwarzwasserfieber. Ich lag in einem sogenannten Krankenhaus in Huambo, wo die Katanga-Benguela Bahn in Friedenszeiten Station machte, auf einer von Wanzen belagerten Matratze am Boden, um mich herum verreckten sie wie die Fliegen, und da ich des Portugiesischen mächtig bin, verstand ich in meinem Dämmerzustand immer noch, was der sogenannte Arzt zu der sogenannten Krankenschwester sagte: „Ich gebe ihm noch zwei Tage und eine halbe Nacht. Aber was machen wir dann mit seiner Leiche? Er ist ja nicht von hier.“ Viele Jahre lebte ich auch im Ausland, in Italien und Deutschland, aber meine Heimat ist Wien, hier habe ich meine Wurzeln, hierher kehrte ich immer wieder gern zurück, seit einigen Jahren bin ich in meiner Geburtsstadt auch wieder sesshaft – obwohl ich die Wiener eigentlich nicht leiden kann, in der U-Bahn denke ich mir oft: „Was schaut’s ihr denn alle so deppert?“ Nicht umsonst wurde Wien im vergangenen Jahr zur Stadt mit den unfreundlichsten Menschen der Welt gekürt. Ich glaube, der Qualtinger hatte recht: „In dieser Stadt leben 99 Prozent Wiener und ein Prozent Menschen.“

Aber Heimat ist Heimat, mit Wien verbinden mich ja auch die meisten Erinnerungen, schöne Erinnerungen. Wenn es Nacht ist und die 99 Prozent Wiener in ihren Betten liegen und davon träumen, dass sie vielleicht auch einmal Menschen werden könnten, mache ich mich auf den Weg zu ausgedehnten Spaziergängen, dann bin ich allein mit meiner Stadt und den Erinnerungen, das ist ganz wunderbar und das genieße ich sehr.

Wenn ich zum Beispiel den Gürtel überquere, denke ich mit großer Freude daran, wie ich Anfang der Neunzigerjahre in meinem roten Lancia Delta Integrale Evo III (in der Beschleunigung ein Porsche-Killer) um drei Uhr nachts mit vollem Hammer von der Hauptfeuerwache Mariahilf bis zur Nußdorfer Straße bretterte. Kein Mensch außer mir, beim Urban-Loritz-Platz hatte ich 160 km/h auf dem Tacho, der erste Bremspunkt bei reschen 200 vor dem Rechtsknick Neustiftgasse/Koppstraße, mein lieber Mann, hinunter Richtung Josefstadt und hinauf zum Uhlplatz, vorbei an der Kirche zum Heiligen Franziskus, immer Ideallinie, der Allrad-Lancia, sechsfacher Rallye-Weltmeister, klebte wie Pattex auf der Piste, Vollgas Richtung AKH, leck mich am Arsch!, bergauf zur leichten Rechtsbiegung und die Links hinunter zur Volksoper, Mörderpassage, da brauchte es viel Mut, Bremse nur kurz antippen und die ganze Fahrbahnbreite ausnützen, dann über die imaginäre Ziellinie am inneren Währinger Gürtel, hart in die Eisen, brav den Blinker geben und abbiegen in die Nußdorfer und mit 50 km/h weiter, als wäre nichts gewesen, echt leiwand.

Gerade hatte ich ein telefonisches Interview mit Wolfgang Ambros geführt: „Waun’S no amoi Austropopper sogn, leg i auf, is des kloar?“

Besonders gern gehe ich durch die Naglergasse im ersten Bezirk. In den Achtzigerjahren wohnte ich auf Nummer 19, kleines bildhübsches Haus, erbaut Ende des 17. Jahrhunderts, der ungarische Schneider Elmar Garzon hat dort im Erdgeschoss seit 1965 sein Atelier. Ecke Graben, auf Nummer 2, wohnte der Helmut Zilk. Wir lernten uns 1989 auf dem Opernball kennen, da stellten wir fest, dass wir quasi Nachbarn sind. Er lud mich dann öfter zu sich in die herrschaftliche Wohnung ein, Perserteppiche und so, meist entstanden dabei Interviews oder andere Geschichten, Dagmar Koller war auch anwesend. „So ein Lieber“, sagte sie und stellte mir Tee mit Rum hin. An einem kalten Tag im Jänner erschien ich einmal nur im Anzug. Helmut Zilk – er duzte mich, ich siezte ihn – erstaunt: „Sag, hast du keinen Wintermantel?“ – „Nein“, antwortete ich, „ist mir zu unbequem, Schal und Handschuhe reichen.“ Er schüttelte den Kopf und führte mich in jenen Teil der Wohnung, von dem aus man zur Bognergasse hinuntersehen konnte. Wir schritten zum Fenster und er deutete zu dem „Boss“-Geschäft, das sich damals dort befand. „Du gehst dann dort hinein und kaufst dir einen gscheiten Mantel, das geht so nicht, das gibt’s doch nicht, wie du daherkommst.“ – „Und wenn nicht?“ – „Keine Widerrede.“ Helmut Zilk hatte allein schon wegen seiner tiefen Stimme was Respekteinflößendes, er hätte ja auch dreimal mein Vater sein können, und ich war mir nicht sicher, ob er mir nicht vielleicht eine prackt. Also kaufte ich mir an jenem Tag den ersten Wintermantel meines Lebens.

Ein anderes Mal – ich lebte schon in München und es war nach dem Briefbomben-Attentat – saßen wir im Wohnzimmer und sprachen über deutsch-österreichische Geschichte. Plötzlich erhob sich der Ex-Bürgermeister aus dem Fauteuil und forderte mich auf, ihm zum Erker zu folgen – fantastischer Blick auf den Graben. „Du lebst jetzt in München“, fing er an, „eine durchaus nette Königsstadt. Aber jetzt schau dir das hier an, Wien, eine Kaiserstadt, was für ein Unterschied!“ Ich stimmte ihm zu, gab aber zu bedenken, dass ich bei den Bajuwaren das Vierfache verdiene, da wär ich doch ein Trottel. Ja wenn das so sei, meinte er, „dann gehma jetzt zum Urbanek am Naschmarkt und du zahlst. Kannst ja a Gschicht machen drüber.“ Und so geschah es. Der Herr Doktor Zilk und der Herr Garnichts Molzer gingen zum Urbanek und tranken Wein und bekamen fleischige Schmankerln kredenzt und ich machte für ein deutsches Gourmet-Magazin eine Story darüber und reichte die Bewirtungskosten ein.

Unlängst spazierte ich durch den 19. Bezirk und dann die hässliche Barawitzkagasse hinunter bis zur Heiligenstädter Straße. Von dort weiter zum Pressehaus in der Muthgasse. Ich sah hinauf in den 18. Stock, wo sich bis Ende der Achtzigerjahre die mondänen, mit Teppichboden ausgelegten Redaktionsräume der Österreich-Ausgabe der Illustrierten BUNTE befanden. Vor meinem geistigen Auge spielten sich folgende Szenen aus dem Jahr 1987 ab: Ich war 19 und erst seit ein paar Wochen da. Gerade hatte ich ein telefonisches Interview mit Wolfgang Ambros geführt („Waun’S no amoi Austropopper sogn, leg i auf, is des kloar?“). Es klopfte an meiner Zimmertür und der Chefredakteur Josef „Joki“ Kirschner steckte seinen Kopf herein: „Kumman’S bitte in mei Büro.“ Für unsere jüngeren Leser: Der „Joki“ war auch ein bekannter Fernsehmann, neben seiner journalistischen Tätigkeit moderierte er u. a. die ORF-Sendung „Tritsch Tratsch“, zusätzliche Popularität erlangte er durch einen Werbespot für Raiffeisen Bausparen: „Geld macht glücklich, wenn man rechtzeitig drauf schaut, dass man’s hat, wenn man’s braucht.“ Und: „Am 32. Dezember ist es zu spät!“

Ich folgte meinem Chef also gleich. In seinem riesigen Büro saß ein anderes bekanntes Fernsehgesicht, der „Musikantenstadl“-Star Karl Moik. Kirschner stellte mich dem Moik vor und sagte: „Herr Molzer, Sie mochn a große Reportasch über den nächsten Musikantenstadl in Gmunden – damit die Deppen vom ORF aus da BUNT’N erfoahn, wos für a supa Sendung des is und wie beliebt da Koarl Moik bei de Leit is.“ Moik nickte zustimmend. (Es gab damals wohl Bestrebungen, ihn abzusägen). Wir saßen dann noch eine Weile zu dritt beisammen und besprachen die Details. Als ich das Chef-Büro wieder verließ und die Tür schon fast zugemacht hatte – aber eben nur fast –, hörte ich den Moik zu Kirschner sagen: „Sog, Joki, der is jo no in da Puberdeet. Kauna äa scho des Alfabeet?“ Ich schrieb dann die Reportasch – und der Moik blieb bis 2005 unter Vertrag.