KULTUR
Warum nicht einmal nach: Tiflis
Hinter Tiflis verabschiedet sich Europa. Das beschert der georgischen Hauptstadt den Charme eines skurrilen Außenpostens: Dampfbäder zum Niederknien, Sowjet-Trödel vor Sputnik-Architektur, stylische Cafés in alten Karawansereien. Und im Hintergrund: Stalins buschiger Bröselbesen.
TEXT: MAX WILDE
Flatz heißt der Mann, Wolfgang Flatz. Österreicher, berüchtigter Aktionist, und wenn er an Tiflis denkt, fällt ihm vermutlich Silvester 1990 ein. Man könnte auch sagen: Dann klingelt etwas bei Wolfgang Flatz – was durchaus wörtlich zu nehmen ist. Ende 1990 hatten Herr Flatz und Tiflis nämlich noch einiges vor sich: Tiflis stolperte gemeinsam mit Georgien gerade Richtung Unabhängigkeit. Gröbere Bandenkriege rivalisierender Mafiosi standen noch vor der Tür, ebenso wie die berühmte Rosenrevolution. Auch Herr Flatz hatte noch was zu erledigen, und zwar in einer verwaisten Tifliser Synagoge. Pünktlich zum Jahreswechsel verwandelte sich der Aktionist nämlich in eine Art menschlichen Glockenschwengel. Er ließ sich mit dem Kopf nach unten und an den Händen gefesselt zu den Klängen von Johann Strauss‘ „Kaiserwalzer“ fünf Minuten lang zwischen zwei seitlich angebrachten Eisengongs hin- und herpendeln. Der Künstler überlebte seine Aktion, mit einem documenta-Video in der Tasche – und mit etlichen Brüchen.
Das ist ein Vierteljahrhundert her. Wer anno 2016 die Jerusalimis Besikis entlangschlendert, der ahnt zwischen gut sortierten Piroggen-Läden und Boutiquen: Die ganz wilden Tage sind jetzt mal vorbei. Man kann in Tiflis heute auch ohne Kalaschnikow shoppen gehen. Man kann Uralt-Rebsorten mit biblischem Stammbaum kennenlernen, und aufgemotzte Cafés in ehemaligen Karawansereien. Man kann sogar im dampfenden Labyrinth der alten Schwefelbäder untertauchen, wo Puschkin einst rosa wurde, und der georgische Genosse Stalin butterweich. Aber noch lieber mische ich mich unter die Dry-Bridge-Händler an der Khidi Street, Tiflis‘ ultrarustikalem Flohmarkt für fleckige Sowjet-Orden und kriegstaugliche Russenuhren. Flachmänner mit roten Sternen werden hier ausgebreitet, auf den Kühlerhauben altersschwacher Ladas lugt Stalins buschiger Schnauzer zwischen Samowaren hervor, es könnte freilich auch ein armenischer Handbesen sein. Ich feilsche hart und erstehe eine himmelblaue Zündholzschachtelsammlung mit Kosmonauten-Motiven aus den Sixties, Dinge, die es eigentlich gar nicht mehr gibt, die aber hier noch immer brennen.
Man sieht: Tiflis ist anders, keine Sissi-Town. Und klar: Die Bisnissmen und ihre grobschlächtigen Chauffeure mit den Igelfrisuren siehst du selbstverständlich auch. Die wasserstoffblonden Nataschas mit den Beinen bis zum Hals. Das billige Blitzen der Goldzähne im Hinterhof. Alles original immer noch da. So wie das bunte Holzhüttchen-Patchwork am Fuße des Narikal-Forts. Und so wie die flachwurzelnden Feigenbäume, die das alte, rostrot schimmernde Ziegelmauerwerk im Zeitraffer aushebeln. Doch dann ist man bereits in der berühmten Tifliser Altstadt gelandet, die pauschal zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt wurde. Dann trabst du über Kopfsteinpflaster an rostigen Jugendstilzäunen vorbei. Staunst über kunstvoll geschnitzte Holzbalkone, die an Altwiener Pawlatschen erinnern, und an die Überlagerung türkisch-persischer Seidenstraßen-Routen. Tiflis war einmal schwer kosmopolitisch, damals, als Marco Polo noch ein Reisender war und kein Label. Das spürst du vor den blau schimmernden Mosaiken der zentralasiatischen Thermalbäder des Abanotubani-Viertels, die Tiblissi den Namen verliehen: „tbili“ heißt im Georgischen „warm“.
Tiflis/Tbilissi ist aber auch gut für Vergessliche. Denn die Typen, die ich hier treffe, heißen alle gleich: Willi. Schawischwili. Tatarschwili. Kobiaschwili. Mein schläfriger Taxifahrer-Willi heißt vermutlich Faulerwili, rollt mich nach zähen Preisverhandlungen aber trotzdem vom Gorgasseli- Platz, einst Sammelpunkt von Kamelkarawanen, vorwärts Richtung Zukunft. Das ist in Tiflis dort, wo der berühmte italienische Architekt Michele de Lucchi vor einiger Zeit mit gelbem Baustellenhelm zu sehen war. Er baute der Reihe nach: Den Glaspalast des Innenministeriums – eine fluoreszierende Riesenamöbe, die 30.000 LEDs verschluckt hat. Dann die lustvoll gekrümmte Glas-Gurke der Friedensbrücke über dem träge plätschernden Mtkwari-Fluss. Bereits vorher orderte Ex-Präsident Saakaschwili seinen neoklassizistischen Regierungssitz: Palast und Residenz in einem, mit pompösen Säulen und einer eiförmigen Kuppel aus blau verspiegeltem Glas eine Art kleiner Bruder des Berliner Reichstags. Taxi-Willi: „Der Präsident hatte sich damals zum obersten Stadtplaner erklärt. So etwas ist in Georgien noch nie gutgegangen.“
Aber die wilde Tiflis-Mischung hat noch mehr auf Lager. Echt alte Brocken des Glaubens etwa. Ich will den Ort außerhalb der Stadt sehen, wo ein georgischer Jude angeblich Jesus‘ letztes Hemd vergraben ließ. Kurz darauf rollen wir im Kaff Mzcheta ein, vor der uralten Swetizchoweli-Kathedrale. Ikonen mit russig gewordenen Gesichtern tauchen auf. Dann das Dröhnen einer tausendjährigen Stille, die sich längst in die hintersten Falten des sakralen Fossils verkrochen hat. Irgendwo hier soll sich die georgische Seele herumtreiben. So steht es sogar in garantiert atheistischen Georgien-Reiseführern aus der DDR-Zeit. Falls alte Seelen Bärte tragen, dann hat man gute Chancen, sie hier für Popen zu halten. Taxi-Willi hat einen für mich aufgetrieben, aber verrechnet die Wartezeit extra. Doch das Geld ist gut investiert. Denn irgendwie erinnern Popen am Stadtrand von Tiflis an spirituelle Erzprolos: Das Blinken der Goldkreuze an der Brust. Die Art und Weise, wie sie Fremden die schwere Hand auf die Schulter legen, runterdrücken. Das hat was herrlich Unheiliges. Ebenfalls im Tiflis-Taxi-Zuschlag inbegriffen: Ein Grab, das im Ruf steht, eine beständige Ölspur abzusondern. Wer nun auf ein Leck in der Baku-Pipeline tippt, der irrt. Kein Pipeline- Millimeter kriecht unter dem Heiligtum hindurch. Uralte Böden wie Tiflis und Umgebung sind nämlich nur mehr bedingt aufnahmefähig.
INFOPORN
Anreise
Keine Direktflüge. Günstige Verbindungen mit der türkischen Low-Cost-Fluglinie Pegasus Airlines, turkishairlines.com sowie mit aua.com via München.
Wetter
Gleichmäßige Temperaturverteilung mit mildem Winter und goldenem Herbst. Juli und August durchschnittliche Temperaturen von 30 Grad.
Hotel-Tipp
Rooms Hotel Tbilisi, 14 Merab Kostava St. Das Hotel im kultu- rellen Trendviertel Vera ist Mitglied der Design Hotels TM: Georgischer Retro-Charme trifft auf modernen Lifestyle.
Restaurant-Tipp
Barbarestan, D. Aghmashenebeli Ave. 132. Hervorragende georgische Küche mit viel Liebe zur Tradition. Etwa Chakapuli – Lamm mit Estragon-Kräutern und Pflaumen.
Bar-Tipp
Schuchmann Wine Bar, Sioni Street 8. Im urigen Keller lassen sich die vielen Weine der 500 autochthonen georgischen Rebsorten genießen.
Info
Fotos: Max Wilde, Getty Images