AKUT

Ryuichi Sakamoto – Zu viele Pläne, zu wenig Zeit

Manfred Sax

Die Zeit, die ihm der Krebs noch gönnt, sagte er vor eineinhalb Jahren, will er der Musik widmen. Für den japanischen Komponisten Ryuichi Sakamoto gab es nur noch das Jetzt. Am 17. Jänner, seinem 71. Geburtstag, veröffentlichte er sein letztes Studioalbum „12“, das er – ähnlich dem legendären „Blackstar“ von David Bowie – als Requiem an sich selbst verstanden wissen wollte. Am 28. März starb Sakamoto in Japan.

Text: Manfred Sax / Fotos: Archiv, Martha Fowler-Dixon, Manfred Sax, Twitter

69 ist ein beschissenes Alter. David Bowie war zwei Tage lang 69, als er starb. Der japanische Komponist Ryuichi Sakamoto feierte am 17. Jänner 2021 seinen 69. Geburtstag. Vier Tage später veröffentlichte er auf seiner Website einen Brief, mit typisch bittersüßem Understatement. Er hatte eine gute Nachricht. Der Kehlkopfkrebs, schrieb er, der sein Leben seit 2014 überschattet hatte, habe sich endlich verabschiedet. Bedauerlicher Weise sitze nun ein anderer Krebs in seinem Darm. Der Brief war voller Entschuldigungen. An die Ärzte, die ja ohnehin mit der Pandemie genug am Hals hatten. Und an die Kollegen, mit denen er Projekte geplant hatte, aus denen jetzt vielleicht nichts mehr wird. Sakamoto hat ein großes Gesamtwerk nebst Sammlung von Oscar, Grammys und Baftas. Hier im Westen ist seine Musik wohl bekannter als sein Name. Die Filmmusik zu Bertoluccis „Der letzte Kaiser“ und „Little Buddha“ bis hin zu ”The Revenant“ (2105) – alles Sakamoto. Eric Claptons Hit ”Behind the Mask“, den auch Michael Jackson live einsetzte – eine Sakamoto-Komposition. Außerdem prägte er mit seinem Yellow Magic Orchestra den Begriff Technopop. Und vieles mehr.

Aber vor allem war da noch der Film ”Merry X-mas, Mister Lawrence“ mit Sakamoto und Bowie in den Hauptrollen. Ich hatte für beide Männer immer viel Zeit. Bowie war ”the man“, und Sakamoto war „der japanische Bowie“. So stand es 1984 in der Jänner-Ausgabe des WIENER. Meine erste Story. Reiner Zufall. Geplant war es nicht.

Es war der Herbst 1983 und ich seit Jahren in Asien unterwegs. Der Lifestyle dazu hieß ”Traveller“, eine Art Schmarotzertum. Monate des Herumliegens auf irgendeinem Traumstrand, dann ging das Geld aus, also Flug nach Tokio. Dort war die Kohle. Jobs als Englischlehrer oder Film-Extra. 1983 gastierte auch Bowies ”Serious Moonlight“-Tournee in Japan, und Mitsubishi suchte für einen Werbe-Jingle ein Bowie-Double, das war dann ich, weil auch weißer Europäer, das ist schon verdammt ähnlich.

Im Tokio des Herbstes 1983 war Ryuichi Sakamoto nicht zu übersehen. An den Wänden der Department-Stores hingen ”Merry X-mas“-Plakate mit den Konterfeis von Bowie und Sakamoto, in den U-Bahngängen warb sein Kopf für ”Saint Nege“-Wein. In einer TV-Talkshow feierte Bowie ein heiteres Wiedersehen mit der X-mas-Crew, Regisseur Nagisa Oshima und Sakamoto schüttelten seine Hand, der große Takeshi Kitano (im Film der brutale Sgt. Hara) brachte ihm Blumen (Bowie: „Oh, deine Haare sind gewachsen.“), die Davido verbal retournierte: „Oshima-san ist der erste Regisseur, mit dem zu arbeiten nicht langweilig war.“ Oder, über Sakamoto: „Sein Yellow Magic Orchestra ist so gut wie eine durchschnittliche westliche Rockband.“ Der so Angesprochene sollte mir später erklären, dass „average“ in Japan soviel bedeute wie „einer von uns“. Ich erinnerte mich, dass ich mal Publizistik studiert hatte, fand die Nummer seines Agenten Peter Barakan (der heute noch eine Show im Nationalsender NHK unterhält), und weil der Teufel nicht schläft, sagte Barakan tatsächlich zu.

Sax 1983 beim Bowie-Casting

Ich erstand eine Nikon FM2 und den sagenhaften Sony Walkman Professional, der gerade auf den Markt kam, der Journalist, den ich abgab, war eventuell glaubhaft. Das Treffen mit Sakamoto fand in einem Hotel statt – weißes Hemd und Emo-Welle über dem linken Auge, ein schöner Mann mit sanfter Stimme. Dass ich ein blutiger Amateur war, blieb ihm nicht verborgen, aber er war makellos nett. Erzählte, warum Bowie sein ”Senpai“ (Vorbild) war: „Ein Mann, der sich immer der Leute um ihn herum bewusst ist, der Leute, die mit ihm arbeiten. Es war schwer, sich ihn als Superstar vorzustellen. Bowie ist wie ein gutes Textbuch, was nicht heißt, dass ich ihn kopieren möchte.“ Außerdem brachte er mir japanischen Humor näher: „Der ist schwarz. Einmal sagte Takeshi‚ nie mehr Hiroshima, einmal noch Nagasaki‘. Die Tatsache, dass der durchschnittliche Japaner über diese Art Scherze lachen kann, zeigt, wie wenig er sich für die Vergangenheit interessiert.“ Und so weiter. Ein zweistündiges Gespräch über das Leben, die Musik seines Yellow Magic Orchestras und warum Tokio ”bioki“ sei – ein Wort für „bei schlechter Gesundheit“. Zwei Jahre später sollte daraus der Titel für ein Feature der Ö3 Musicbox werden. Und Storys wurden daraus, für die deutsche TAZ und den WIENER.

Wochen nach dem Interview traf ich Ryuichi noch einmal, mit Belegen der ”Japan Times“ und des ”Tokyo Journals“, die hatten die Story gekauft. Ich fühlte mich bereits wie ein Profi. Fan war ich sowieso, im Walkman die Merry Christmas-Kassette, am Freitag Stammhörer seines zweistündigen Radioprogramms zu Mitternacht auf NHK, ein Programm mit Bandbreite, von Kraftwerk bis Chopin, aber nie Kommerz. Natürlich verstand ich sein Japanisch nur in Bruchteilen, aber der melancholische Klang seiner Stimme war zum Verlieben. Mit dem Abschied von Japan verlor ich ihn aus den Augen, vor zwei Jahren las ich im Guardian eine Story, wo er seinen Kummer ausdrückte, dass er Bowie nicht öfter getroffen hat, obwohl er, wie sein „senpai“, 30 Jahre lang in New York lebte. (2) Und nun also der Brief auf seiner Website. Er hat noch viele Pläne, große Sehnsucht nach Violine und Orgel, deren Klänge Unsterblichkeit symbolisieren, wie er meinte. Vergangenen Juni veröffentlichte er die Oper ”Time“, für ihn eine Musik außerhalb traditioneller Zeitstrukturen, mehr Noh-Theater als das, was der Westen unter Oper versteht, ein „Mugen Noh“ (Theater der Träume). Zeit, sagte er neulich in einem Interview mit der New York Times (3), sei in unserer Gesellschaft so natürlich, dass sie nicht bezweifelt wird. Und als Musiker ”I deal with time all the time“.

Sein letztes Album „12“ ähnelt in Aussage und Auftritt (die Songs sind nach ihrem Entstehungsdatum benannt) David Bowies „Blackstar“, das dieser als Requiem für sich selbst verfasste und das wenige Wochen vor seinem Tod erschien. Insofern hielt sich auch Ryuichi Sakamoto ans Drehbuch: Er starb zwei Monate und elf Tage nach dem Release.

(1) https://www.sitesakamoto.com/home
(2) https://www.theguardian.com/music/2018/feb/08/electronic-composer-ryuichi-sakamoto-my-great-regret-david-bowie
(3) https://www.nytimes.com/2021/07/14/arts/music/ryuichi-sakamoto-time.html