Stermann: Grazer Feinstaub

Stermann und der Grazer.

Als Dirk noch nicht weltbekannter Kolumnist, sondern hoffnungsarmer Volontär war, wäre er beinahe beim „Grazer“ gelandet. Doch weil er sich in der Stadt wegen dichten Feinstaubs nicht zurecht fand, stürzte er in die Mur und kehrte nach Wien zurück, wo er neues Glück fand – den WIENER.

Beinahe würd’ ich heute beim „Grazer“ schreiben, statt in Ihrer Lieblingsschmonzette WIENER. Ich hatte Angebote vom „Linzer“ und vom „Hühnergeschreier“ bereits abgelehnt, beide längst und zu Recht in Vergessenheit geratene oberösterreichische Männer- und Mostzeitschriften. Beim „Zwentendorfer“ hatte ich kurz überlegt, Kolumnist zu werden, aber irgendein japanisches Arschloch hat mit der Gazette „Fukushimaer“ die Idee des „Zwentendorfer“ abgeschossen, nämlich ein Männer- und Opamagazin für Mittelaltgebliebene auf den Markt zu werfen.

Dann kam der Anruf vom „Grazer“. Ich hob ab und hörte einen Hund am anderen Ende der Leitung. Tatsächlich hatte mich der Terrier des Herausgebers angerufen. Er kläffte eine Zeit lang in den Hörer, ich verstand kein Wort, war als Tierfreund aber zu höflich aufzulegen. Endlich kam sein Herrchen an den Apparat. „Na? Spitzenterrier, was? Hören Sie, Stermann, Sie sind spitze. Ich zahl Ihnen das Doppelte, wenn Sie zum „Grazer“ wechseln!“ „Das Doppelte wovon?“ fragte ich vorsichtig. Ich war damals arbeitslos. „Von allem, was Sie wollen. Wir machen hier eine Spitzenzeitung. Für Männer und gehbehinderte Kinder. Zielgruppe mit Zukunft, was sagen Sie? Spitze?“ „Naja“, murmelte ich. Es war 1986. Kurz zuvor war mein Volontariat in Tschernobyl vom „Tschernobyler“ abgebrochen worden, weil die Tastaturen unserer Schreibmaschinen unter uns schmolzen wie Eis in der Sonne. Was hatte ich also zu verlieren? Männer und gehbehinderte Kinder – das hatte was. Ich wusste zwar nicht genau, was, aber meine finanzielle Situation erlaubte mir keine kritischen Zwischentöne.

„Ja, gut“, sagte ich ins Telefon und dann kläffte es zurück. Der Herausgeber des „Grazer“ hatte das Telefon wieder seinem Terrier gegeben.

Im Mai 1986 fuhr ich als blinder Passagier auf einem Mähdrescher von Wien nach Graz. Das war ein Laster, auf dem illegale Ziegenkämpfe stattfanden. Die Ziegen wurden nach Strich und Faden verdroschen, deshalb nannte man diese Trucks „Mähdrescher“. Gelangweilte reiche Wiener setzten Geld darauf, wie lang die Ziegen es aushielten, verdroschen zu werden. Schließlich sprang ich unterhalb des Grazer Uhrturms vom Wagen und machte mich auf den Weg zu meinem neuen Arbeitgeber. Aber ich konnte das Verlagsgebäude nicht finden, weil in Graz dichter Feinstaub herrschte. So dicht, dass man die Hand vor Augen nicht sehen konnte. Man sagt, Graz sei hübsch. Aber dieses Urteil basiert auf Hörensagen, weil noch niemand die Stadt gesehen hat. Was dort unter „Feinstaub“ läuft, nennt man im Ruhrgebiet „Schwermetall“. Ich weiß, wovon ich rede. Ich bin in Duisburg, unter Tage aufgewachsen und war die ersten 12 Jahre meines Lebens durchgehend schwarz vor Ruß – außen als auch innen, aber gegen einen normal umweltbelasteten Tag in Graz war jeder Tag im Bergwerk ein Kuraufenthalt. Grazer knattern beim Atmen, ihre Atemwege sind verstopft wie die Wiener Südosttangente und die Bronchien rasseln knirschend Todesmelodien.

Bei einem gesunden Wiener treiben die Bronchien aus wie Bäume: hier ein Ast und dort ein Ast, verzweigt, verzweigt. Ein frischer Atemwald, so sehen gesunde Wiener Bronchien aus. Bei Grazern dagegegen herrscht durchgehend Steirischer Herbst. Äste ohne Blätter, Waldsterben, Atemwege für Dead Men Walking. Wenn das Jahr erst wenige Sekunden alt ist, hat Graz bereits alle Obergrenzen für die jährlich erlaubte Höchstgrenze für Luftverschmutzung nicht nur übertreten, sondern überrannt, überstürmt. Die Steirer bellen nicht, sie husten! In Wien dagegen: duftet’s wie im Kinderpopo, auch wenn außer ein paar Priestern niemand weiß, wie es dort riecht. Jedenfalls empfangen unsere Näschenhaare Gerüche wie sanfte Feenküsse. Alpenveilchen stinken verglichen mit der guten Wiener Luft.

Im Mai ’86 rannte ich gegen Mauern, Kirchen, das Rathaus und fiel mehrfach in die Mur. Dort lagen viele, denen es wie mir ergangen war. Auch ein gutaussehender Herr aus Wien mit Geld wie Heu. Ich erklärte ihm, warum ich hier sei und er fragte, was das genau sei: ein „Magazin“. Er war begeistert, fand aber, dass gehbehinderte Kinder finanziell zu uninteressant seien als Zielgruppe, Männer aber hätten Geld wie Heu, da könnt’ man schönes Geld verdienen. Wir fuhren nach Wien zurück und er nannte die Zeitschrift WIENER. Damit Sie auch mal wissen, wieso das Ding in Ihrer Hand so heißt, wie es heißt. Graz sei Dank.