Thomas Glavinic beschreibt Die Italienerin: Frauen mit Geheimnissen

Verlieben Sie sich in eine Italienerin! Warum das eine ehrlich empfehlenswerte Erfahrung ist, erklärt Schriftsteller und WIENER-Kolumnist Thomas Glavinic

Von allen Italienerinnen, in die ich mich je verliebt habe, war Marietta die schönste. Sie hatte langes dunkles Haar und braune Augen, sie trug flatternde Kleider mit Blumenmuster, die teuer aussahen, sie lachte viel, was auch mich zum Lachen brachte, sie hatte bessere Manieren als ich (was nicht viel heißen will), sie zeigte mir ein paar Dinge, die ich noch nicht kannte, sie ließ sich von mir beschützen, obwohl sie diesen Schutz nicht nötig gehabt hätte, denn sie war ein bisschen schlauer als ich (was auch nicht viel heißen will).

Ich kann mich noch gut an ihre Hände erinnern, wunderschöne Hände, jeder Fingernagel in einer anderen Farbe lackiert, was mich verwirrte, und an ihre Art zu laufen, nicht plump, sondern auf eine federnde Art, die ich hinreißend fand. Ihre Zahnlücken störten mich nicht, schließlich hatte ich auch welche.

Marietta lernte ich in Bibione oder Caorle kennen, sicher bin ich mir da nicht, aber ich weiß, es war 1982. Wir waren beide zehn, und ich verbrachte meinen ersten Urlaub in Italien. Es war das Jahr, in dem Italien bei der Fußball-WM in Spanien Weltmeister wurde. Auch an das Endspiel kann ich mich erinnern, an die Tore von Paolo Rossi gegen die Deutschen, und daran, wie Marietta und ich einander unter albernem vieldeutigen Gelächter der Erwachsenen bei jedem Tor umarmten.

Von wegen wissen. Gar nichts wussten die. Kein Erwachsener weiß wirklich, was in einem Kind vorgeht. Marietta hatte in mir etwas ausgelöst, einen Weg vorgezeichnet, der, obwohl einiges dafür spricht, vielleicht nicht zwingend zu den Italienerinnen mit langen schwarzen Haaren führte, doch auf alle Fälle nach Italien. Es war nicht das Meer, obwohl ich das Meer liebe, es war nicht das Essen, obwohl ich die italienische Küche liebe, es war nicht das Gefühl von Freiheit, von Ferien, von Aufbruch und Neubeginn, es war allein sie.

Damals wusste ich noch nicht, dass es viele verschiedene Italiens gibt. Damals existierte für mich nur der Norden, die obere Adria, aber das ist, als würde man von Österreich nur den Neusiedlersee oder den Bodensee kennen.

Damals wusste ich auch noch nicht, wie verschieden Menschen sind. Alle Menschen sind gleich viel wert, aber sie sind zum Glück nicht gleich. So wie es gewaltige Unterschiede zwischen Menschen verschiedener Länder, Kontinente und Kulturen gibt, so gibt es auch gravierende Unterschiede zwischen Udine, Rom und Palermo. Aufgrund gewisser Entwicklungen in meinem Leben weiß ich wenig über die Bewohnerinnen der Schweiz oder Chinas, sondern bin eher zum Sachverständigen im Bereich der römischen Frauen geworden. Bzw. wäre es gern geworden, doch da spielen die Römerinnen nicht mit.

Zum ersten Mal in Rom war ich vor zwanzig Jahren, ich wollte nur wenige Tage bleiben. Noch heute erinnere ich mich an meine ersten Eindrücke am Bahnhof Termini. Brütende Hitze, fremde Geräusche, um mich diese fremde und doch vertraute Sprache, und, vor allem -überall diese schönen, eleganten Frauen, so stolz und reizvoll, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte.

Man wird mit Recht sagen, dass ein Jüngling Anfang zwanzig ziemlich leicht zu beeindrucken ist, aber ich war in diesem Alter schon viel herumgekommen, ich kannte nicht nur die Blumen des Kärntnerlandes und die Töchter des Salzkammerguts, ich hatte in jenem Sommer per Interrail fast alle Länder Europas bereist, und Italien hatte ich mir für den Schluss aufgehoben. Was eine gute Idee war, denn danach konnte nichts Besseres kommen, für mich jedenfalls nicht. Ich ließ das Interrail-Ticket auslaufen und blieb bis in den Herbst. Natürlich nicht nur wegen der Frauen, so plump und triebgesteuert war ich dann doch nicht, sondern weil ich die faszinierende Energie dieser Stadt entdeckte, die von ihren Einwohnern befeuert wird, die sich wiederum von ihrer alten Stadt inspirieren lassen, jeden Tag aufs Neue.

Es ist ziemlich einfach, sich in Rom zu verlieben. In die Stadt und in eine Römerin, und manchmal weiß man nicht, wo das eine beginnt und das andere endet. Bei der Stadt hatte ich seit meinem ersten Besuch den Eindruck, sie liebt mich zurück, zumindest verbringe ich dort regelmäßig die beste Zeit meines Lebens. Bei den Frauen verhält es sich anders. Die wollen wenig bis nichts von mir, und weil ich mir nicht vorstellen kann, dass das an meinen in Rom zuweilen auftretenden Übersprungshandlungen liegt, fragte ich vor einigen Jahren meine Freunde vor Ort um ihre Meinung.

„Die Frauen hier“, erklärte mir mein Freund Paco, „wollen bewundert werden. Vier Monate Händchen halten, danach muss man bei den Eltern vorstellig werden, man muss den Frauen ununterbrochen Komplimente machen, sie zum Essen ausführen, ihnen Kleider schenken und Schmuck, und dann irgendwann darf man vielleicht mit ihnen schlafen. Die hiesigen Frauen sind Prinzessinnen.“

Ich vermute ja, dass er wie immer etwas übertreibt, denn wie wir wissen, sind die Menschen sehr unterschiedlich, und überdies frage ich mich unweigerlich, ob die kopulierenden jungen Pärchen in der Villa Borghese (die ein Park ist und kein Gebäude) allesamt schon dieses mehrmonatige Propädeutikum absolviert haben. Dennoch glaube ich zu verstehen, was er meint.

Außerdem macht das alles nichts. Man muss genügsam sein. Schönheit zu betrachten sollte ausreichend sein, man muss sie nicht besitzen.

Zwar kann ich nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, was Schönheit ist, sie liegt im Auge des Betrachters. Doch was ich über sie weiß, was dazu beigetragen hat, meinen persönlichen Begriff von Schönheit zu entwickeln, hängt in hohem Maß mit Rom zusammen, mit den Frauen, die ich dort getroffen habe. Schönheit, das weiß ich seit meiner unschuldigen Begegnung mit Marietta, hat für mich weniger mit Ebenmäßigkeit oder Harmonie zu tun, sondern vor allem mit Ausstrahlung, mit Selbstbewusstsein, mit einer gewissen Selbstverständlichkeit, durch die Welt zu gehen, mit einer kraftvollen Haltung, es mit dem Leben aufzunehmen, und ich habe nirgends so viele Frauen getroffen, die auf diese Weise schön sind wie jene Geschöpfe auf den Straßen Roms. Italienerinnen im Allgemeinen und Römerinnen im Besonderen wirkten und wirken auf mich, als hätten sie irgendein existenzielles Geheimnis erkannt, als wüssten sie etwas, das ich nie erfahren würde, und zu meinem Leidwesen fühle ich mich genau von solchen Frauen angezogen: Frauen, in denen ich Geheimnisse vermute, die schön und intelligent sind, die mir durch ihr Charisma das Gefühl vermitteln, eine ewige Suche könnte bei ihnen zu Ende gehen.

In Wahrheit werde ich natürlich ewig suchen, aber es ist tröstlich, ab und zu eine Ahnung davon vermittelt zu bekommen, wie es sich anfühlen würde, wenn die Suche zu Ende wäre. Und diese Ahnung habe ich manchmal, wenn ich auf dem Campo dei fiori sitze, meinen Espresso trinke, eine Weile die Tauben auf der Statue von Giordano Bruno beobachte und sich dann eine Frau an den Nebentisch setzt, die in mir binnen eines Sekundenbruchteils eine Saite zum Schwingen bringt, über die ich wenig weiß und die ich niemals werde kontrollieren können.