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Gefallene Idole. Es gilt die Schuldvermutung

Franz J. Sauer

Im Vergleich zum tosenden Gebrüll der #MeToo-Bewegung wird nach einer juristischen Aufarbeitung der Fälle bestenfalls im Pianissimo verlangt. Es gilt die Schuldvermutung. Gerade das könnte die Ziele der Kampagne letztlich torpedieren.

von Franz J. Sauer

Harvey Weinstein, Kevin Spacey, Terry Richardson, Dieter Wedel … Gesichter der Affäre #MeToo. Negative Aushängeschilder einer Lawine, die weltweit Missbrauchsopfer dazu ermächtigt, jahrelang totgeschwiegene Unappetitlichkeiten einer gewissen Klientel von Männern ans Tageslicht zu bringen. Männern, die den Tauschhandel „Blowjob“ gegen „Better Job“ als Deal wahrnahmen, den sie als Freifahrtschein sahen, um andere Menschen (meist Frauen) zu unterdrücken, zu erniedrigen und für ihre Zwecke zu missbrauchen. Folgerichtig fehlte es zunächst an Unrechtsbewusstsein, als die Angelegenheit richtig hochkochte, und bald wurden sie von einer gnadenlosen Welle der öffentlichen Entrüstung genau aus jenen Machtpositionen gespült, über die sie sich und ihr Sein kurz zuvor noch definiert hatten.

Keine Haftbefehle

Weinstein, Spacey, Richardson. Allesamt nun geächtet und gemieden in Kreisen, die sie einst hochleben ließen. Aber keiner von ihnen sitzt im Gefängnis. Verfahren sind im Laufen, Zeugenaussagen werden protokolliert. Dennoch wurden in jenem Land, das 2011 den IWF-Präsidenten Dominique Strauss-Kahn kraft der – später als unglaubwürdig eingestuften – Aussage einer Hotelangestellten wegen versuchter Vergewaltigung, sexueller Belästigung und Freiheitsberaubung innerhalb einer Stunde und für dreieinhalb Monate festsetzte (eine Woche davon in einem Hochsicherheitsgefängnis), noch keine Haftbefehle ausgestellt. Und es sieht bis auf Weiteres auch nicht danach aus.

In Deutschland, wo man der #MeToo-Kampagne wohl breiten Raum in der Berichterstattung einräumte, war man zunächst sehr vorsichtig mit dem Nennen von Namen. Umso fieberhafter suchten vor allem Boulevardmedien nach einem eigenen „Fall Weinstein“, einem Präzedenzfall, der sie quasi auf eine Ebene mit der Hollywood’schen Albtraumfabrik der Schweinereien stellen würde. In Dieter Wedel scheint nun der geeignete Protagonist gefunden, mehrere Anklägerinnen bezichtigen den Regisseur der sexuellen Belästigung, auch von Vergewaltigungsvorwürfen ist die Rede. Wedel selbst zog sich hurtigst aus der Öffentlichkeit zurück, man hört von Herzproblemen des selbsternannten Verleumdungsopfers. Ermittlungen wurden eingeleitet, von einem Haftbefehl oder gar stichhaltigen Beweisen ist bislang aber ebenfalls keine Rede.

Die journalistische Recherche kann kein Ersatz für eine gerichtliche Beweisaufnahme sein

Der Fall Wedel war Anlass für einen interessanten Artikel im deutschen Literaturmagazin Cicero mit dem Titel „Was vom Rechtsstaat übrig bleibt“. Den Kernsatz des Textes, verfasst vom deutschen Juristen Gerhard Strate, möchte ich hier zitieren: „In einer Zeit, da nur ein wenig Gratismut erforderlich ist, um im vielstimmigen Chor der Dauerempörten ein Solo zu ergattern, ist höchster Argwohn angesagt, da im unkritischen gegenseitigen Verstärken eben die zerstörerische Kraft derartiger Kampagnen liegt (…) Es ist aber nicht nur der Gedanke der Fairness, sondern vor allem das Anliegen der Wahrheitsfindung, weshalb die journalistische Recherche keinen Ersatz für eine gerichtliche Beweisaufnahme darstellen kann.“

Dass ein Jurist mit journalistisch ermittelten Anwürfen ohne gerichtliche Bestätigung wenig anfangen kann und will, liegt auf der Hand. Aber Strate streicht damit noch einen Punkt heraus, der als unerwünschter Mitläufer der dahintobenden #MeToo-Welle eine bemerkenswert untergeordnete Rolle spielt: jenen der Unschuldsvermutung.

Der schnelle Rufmord

Es scheint, als wären die nun endlich lauten Stimmen, die längst verschütt geglaubte Untaten mächtiger Männer spät aber doch anprangern, kaum daran interessiert, ihre Anklagen rechtsstaatlich zu untermauern. Waffe der Wahl sind eher die süße Rache, die veröffentlichte Verunglimpfung, der schnelle Rufmord, der sich anstatt auf Fakten lieber auf ein „Es wird schon so gewesen sein!“-Gefühl der breiten Masse stützt. Was bekanntermaßen schwer revidierbar ist, selbst wenn sich eine Anschuldigung im Nachhinein als Trittbrett-fahrerei oder erfunden herausstellt.

Es wird schon so gewesen sein …

Auch die heimische Social-Media–Öffentlichkeit suchte nach ihrem eigenen #MeToo-Gauner und wurde rasch im ehernen Ski-Idol Toni Sailer fündig. Eine typisch österreichische Lösung: Den toten Sailer wird die posthume Rufschädigung nicht tangieren, zudem ist es gut 44 Jahre nach der Causa Zakopane faktisch unmöglich, Schuld oder Unschuld des „Blitz von Kitz“ zu ermitteln. Die Aufzeichnungen der polnischen Polizei von damals reichen hierzu jedenfalls kaum aus:

Zwei jugoslawische Mitarbeiter einer italienischen Bekleidungsfirma sollen den bekanntermaßen trinkfreudigen Sailer nach einem feisten Gelage am Vorabend des Weltcuprennens in ein Hotelzimmer gelockt haben, wo eine polnische Prostituierte bereits wartete. Dort wurde die junge Frau von den „Gastgebern“ gegen ihren Willen festgehalten und am Bett fixiert, Sailer soll in der Folge versucht haben, sie zu vergewaltigen. Als Belege fungierten medizinische Befunde über Quetschungen an Oberarmen und Oberschenkel der Frau. Sailer wurde festgenommen, nach Intervention des österreichischen Außenamtes aber wieder heimgeschickt. Zu einem Gerichtsverfahren kam es nie.

Anklage, Gerichtsverfahren, Urteil in einem

Punkto #MeToo scheint die Sachlage klar: Dass sich heimische Skifahrer im Umgang mit Frauen wenig scheißen, ist neuerdings Allgemeinwissen. Warum sollte da ausgerechnet ein Toni Sailer die heilige Ausnahme gewesen sein? Fall geschlossen, es wird die Tatsache skandalisiert, dass man das „gefallene Idol“ (der Standard) mancherorts auch noch „aufzufangen“ versucht, anstatt in den Chor der Empörten einzustimmen. Anklage, Gerichtsverfahren, Urteil – ersetzt durch journalistische Recherche. Und letzten Endes gleichgesetzt.

Wie gesagt, es wird Toni Sailer neun Jahre nach seinem Tod herzlich wurscht sein, wer nun was über ihn denkt. Peter Pilz allerdings, dem zwischen Wahlerfolg und Parlamentseinzug ebenfalls eine pikante #MeToo-Affäre in die -Parade fuhr, lebt noch. Und sieht sich mit gleich zwei Vorwürfen einschlägiger Natur konfrontiert. Eine Mitarbeiterin des Grünen Clubs beschuldigt ihn, mehrmals sexuell übergriffig geworden zu sein, bloß aus Opferschutz-Über-legungen wurde das Verfahren von den sonst eher unzimperlichen Grünen bisher nicht ausgerollt. Pilz bestreitet alle Vorwürfe, es steht Aussage gegen Aussage, ein klärendes Gerichtsverfahren ist seitens der Anklägerin unerwünscht, sie fürchtet, von Medienprofi Pilz im Verlauf dessen öffentlich zermalmt zu werden. Mittlerweile wurde sogar von ihrer eigenen Anwältin das Fehlen eines „strafrechtlich relevanten Substrats“ eingeräumt, die Staatsanwaltschaft prüft weiterhin einen Anfangsverdacht.

Zweitens gibt es da noch die Affäre Alpbach. Pilz leugnet zwar nicht explizit, 2013 eine junge ÖVP-Mitarbeiterin sexuell belästigt zu haben. Er sei zum inkriminierten Zeitpunkt zu betrunken gewesen, an derlei „könne er sich aber erinnern.“ Es folgte ein überstürzter Rückzug, der Nichteinzug ins Hohe Haus, der berühmte Sager vom „alten, mächtigen Mann“ und die Selbsterkenntnis, „die eigenen strengen Maßstäbe zuallererst bei sich selbst anzulegen“.

Eine hieb- und stichfeste gerichtliche Aufarbeitung der Vorwürfe würde Pilz’ nun geplantes und heftig kritisiertes Polit-Comeback erleichtern. Aus #MeToo-Sicht ist das aber zweitrangig. Schließlich ist die Katze aus dem Sack. Die medial einzementierte Schuldvermutung reicht aus, um den Angeklagten gesellschaftlich und politisch auszuhebeln. Es wird schon so gewesen sein, rauscht der Blätterwald. Man kennt den Pilz ja als leutseligen Gesellen, nie um einen Chauvi-Schmäh verlegen. So hört man nun Leute sagen, die Peter Pilz noch nie persönlich trafen. Diesfalls könnten medial höchst griffige Vorwürfe durch ein Gerichtsverfahren womöglich entkräftet werden.

Die medial einzementierte Schuldvermutung reicht aus, um den Angeklagten gesellschaftlich und politisch auszuhebeln.

Es ist gut, was da ins Rollen kam. Es wird Zeit, dass verkrustete Strukturen aufbrechen, dass Machtmissbrauch im Zwischenmenschlichen nicht länger Kavaliersdelikt bleibt. All jene, die nun endlich den Mut finden, Unrecht anzuklagen, sollten sich aber der Notwendigkeit bewusst sein, ihre Anklagen mit Beweisen auszustatten. Und deren Stichhaltigkeit durch ein rechtsstaatliches Verfahren inklusive Schuldspruch manifestieren zu wollen. Weder ist es dazu nötig, selbst an die Öffentlichkeit zu treten, noch sich in irgendwelchen „Schaukämpfen“ bloß zu stellen. Aber unbelegbare Vorwürfe bleiben letztlich Polemik. Und bereiten den Boden für weitere Polemik auf – und zwar in die Gegenrichtung.

Dann wird das veröffentlicht manifestierte „Wird schon so gewesen sein“ nämlich irgendwann zum Bumerang. Dreht sich mit dem Wind. Und spielt so jener Fraktion in die Hände, die Schuld für sexuelle Übergriffe immer schon gern beim Opfer suchte.