KULTUR

Report: Thomas Bruckner besuchte die NGO „Menschen für Menschen“ im Hochland von Äthiopien

„Menschen für Menschen“ versucht seit 37 Jahren die flächendeckende Armut in Äthiopien zu bekämpfen. WIENER-Redakteur Thomas Bruckner war vor Ort.

Text: Thomas Bruckner

Seit Stunden prasseln Wassermassen vom grauen, nebelverhangenen Himmel herunter, es schüttet in Strömen. Die ansonsten staubigen Landstraßen sind längst unterspült und von matschiger Erde und tiefen Gräben, Rillen und Furchen überzogen. Die Pisten erscheinen somit eher wie umge­ackerte Felder als dass man in ihnen von Menschenhand geschaffene Verbindungsstücke vermuten würde. Mehr als 30 km/h sind nicht drin auf diesem Untergrund, trotzdem schaukelt, rutscht und wirft es unser Gefährt hin und her wie ein kleines Fischerboot bei Wellengang auf hoher See. Von meinen Lendenwirbeln jagen Blitze mein Rückgrat hinauf, meine Beine spüre ich aufgrund der Enge kaum noch, ich bin hundemüde, mir ist kalt und mein Kopf schmerzt. Zudem nervt mich die stundenlange Fahrt zunehmend und ich frage mich im Minutentakt wann wir denn nun endlich am Ziel ankommen.

Hier geht es zu „Menschen für Menschen“. Foto: (c) Thomas Bruckner

Project Manager Berhanu und unser Autor Thomas Bruckner. Foto: (c) Menschen für Menschen / Naod Lemma

Trotzdem wäre es unangebracht zu jammern. Denn an den Scheiben unseres Toyota Landrovers ziehen massenhaft Menschen vorüber, die es mit Sicherheit schlimmer getroffen haben als ich. Menschen, die mit gebeugten Oberkörpern das zuvor über Stunden hinweg mühsam gesammelte Brennholz auf ihren Rücken, wie ein schweres Kreuz, nach Hause schleppen. Die Schwere der Last kann der vorbeifahrende Beobachter dabei nur erahnen, zwei Meter lang und einen Durchmesser von rund einem Meter haben die zusammengeschnürten Holzbündel, die aufgrund von Form und Größe wirken, als könnten sie ihre Träger, zumeist Frauen übrigens, erdrücken.

Stundenlange beschwerliche Märsche sind Alltag für viele Frauen in dieser Gegend. Foto: (c) Thomas Bruckner

Dass Kinder bei der Arbeit helfen müssen, ist selbstverständlich. Fürs Faxenmachen bleibt aber immer noch Zeit. Foto: (c) Thomas Bruckner

Menschen, die ein halbes Dutzend schwer beladener Esel durch den Regen treiben, Kinder die Wasserkanister auf ihren Rücken tragen oder auch jene Vorbeiziehenden, die scheinbar bloß von A nach B wollen, ins nächste Dorf oder sonst wohin, sie alle müssen Strapazen auf sich nehmen, Unannehmlichkeiten und Anstrengungen, die mir als Europäer ganz und gar fremd sind. Jeder Schritt bedeutet knöcheltiefes Einsinken im aufgeweichten, schlammigen Untergrund, pitschnass sind sie alle, die Kleider vom Regen vollgesogen (und die allermeisten besitzen lediglich jenes Gewand, das sie am Leib tragen – ein Paar abgetragene Schuhe, eine zerschlissene Hose, ein T-Shirt oder Hemd und vielleicht noch eine Jacke) und zu Hause erwartet sie mit Sicherheit keine, warme, wohlige Stube, sondern im besten Fall eine kühle, finstere Wellblechhütte, wenn überhaupt.

Was gibt’s zu sehen? Einen „Ferenschi“ (Fremden), das ist nicht alltäglich in dieser Gegend. Alleine ist man nie in Äthiopien. Foto: (c) Thomas Bruckner

Und trotzdem spiegeln sich weder die Härte des ärmlichen Lebens noch die Strapazen des Alltags in den Gesichtern der Menschen wider. Und auch das Sauwetter, das mit Sicherheit gewaltige Erschwernisse beim jeweiligen Vorhaben mit sich bringt, schlägt sich nicht im Ausdruck der Vorbeiziehenden nieder. Gelassen erledigen sie, was zu tun ist, trotzen dem Regen, der Kälte, dem Nebel, viele lächeln mir zu, wenn sich unsere Blicke treffen. Ich bezweifle, dass auch mein Gemüt resilient genug wäre, die Strapazen eines derart mühsamen Lebens ähnlich unbeschadet überstehen zu können.

Alexandra Bigl, stellvertretende Vorstandsvorsitzende von „Menschen für Menschen“ beim Gespräch mit äthiopischen Kleinkreditnehmerinnen. Foto: (c) Menschen für Menschen / Naod Lemma

Wir sind im Hochland Äthiopiens, in der Region Ginde Beret, rund 200 km nordwestlich von Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba unterwegs. 131.000 Menschen leben in dieser Gegend, die zu den ärmsten Gegenden der Welt zählt und etwa halb so groß ist wie Vorarlberg. Die NGO „Menschen für Menschen“ hat mich hierher mitgenommen. Für alle, die es nicht wissen: „Menschen für Menschen“ wurde vom 2014 verstorbenen Schauspieler Karlheinz Böhm gegründet. Am 16. Mai 1981 wettete er in „Wetten dass ..?“, dass „nicht jeder dritte Zuseher eine Mark, einen Franken oder sieben Schilling für die notleidenden Menschen in der Sahelzone spendet“. Karlheinz Böhm behielt zwar recht, flog aber trotzdem mit rund 1,2 Millionen Mark im Oktober 1981 nach Äthiopien. Am 13. Oktober gründete er schließlich in Deutschland die Organisation „Menschen für Menschen“. Seitdem ist sie unter dem Motto „Hilfe zur Selbsthilfe“ in Äthiopien unterwegs.

Karlheinz Böhm, der Gründer von Menschen für Menschen, ist nach wie vor eine Berühmtheit in Äthiopien. Er starb im Jahr 2014 in Grödig. Foto: (c) Per-Anders Pettersson / Getty Images

Der aufjaulende Motor unseres Geländewagens reißt mich aus meiner Gedankenwelt. Es geht steil bergauf und unsere Räder finden keinen Gripp, sie drehen durch. Unser Fahrer lässt den Wagen langsam zurückrollen, um einen neuerlichen Versuch mit etwas mehr Anlauf zu starten. Sogleich kommen drei Burschen mit Spitzhacken angelaufen und beginnen die gröbsten Erdbrocken zu zerschlagen und aus der Spur zu räumen. Reflexartig bin ich angetan von der Selbstlosigkeit der Jugendlichen. Das sind ja Heilige, schießt es meine Gehirnwindungen rauf und runter, helfen uns im strömenden Regen, einfach so. Dank ihrer Hilfe meistern wir den Anstieg schon beim zweiten Versuch. Klar jagen uns die Selbstlosen danach hinterher, fordern ihren Sold. Zu Recht, wie ich denke, doch irgendwie kommt mir dann doch auch noch ein anderer Gedanke, ein nicht ganz so ehrenhafter. Was, wenn die Jugendlichen die Stein- und Erdbrocken selbst in die Spur geräumt haben und dies nach jedem Fahrzeug immer wieder tun, einfach um ein wenig Geld zu machen. Man muss schlau sein, um in dieser Armut zu überleben. Aber ob Schläue wirklich ausreicht, um der flächendeckenden Armut hier entrinnen zu können, um einen Aufstieg zu schaffen in ein besseres Leben? Und falls nicht, welches Persönlichkeitsprofil braucht es für eine Verbesserung des eigenen Lebens? Fleiß? Mut? Durchhaltevermögen? Härte sich selbst und anderen gegenüber? Was braucht es, um der Armut entfliehen zu können?

Berhanu Bedassa, Project Manager von Ginde Beret, besticht durch seine besonnene, ruhige Art. Er hat schon einige wichtige Projektgebiete für „Menschen für Menschen“ erfolgreich geleitet. Foto: (c) Thomas Bruckner

„Mit Sicherheit mehr als bloß die Anstrengungen der Betroffenen“, sagt Alexandra Bigl, Stellvertretende Vorstandsvorsitzende von „Menschen für Menschen“. „Ohne Hilfe von außen würde selbst der talentierteste und fleißigste oder auch der korrupteste Mensch beim Versuch, seine Lebensbedingungen hier wesentlich zu verbessern, scheitern“, stellt sie klar. Zu komplex seien die Gründe für das Desaster, zu allumfassend. Verschmutztes Wasser, fehlende Infrastruktur, erodiertes Land, dessen Bestellung Fachwissen benötigt, schlechte oder keine Schulen, Gesundheitswesen schlichtweg nicht vorhanden. Niemand kann all diese Hindernisse alleine überwinden. „Menschen für Menschen“ schließt deshalb bei all seinen Projekten immer alle Bereiche des Lebens mit ein. Sauberes Wasser, Bildung, Gesundheit, Einkommen und Landwirtschaft heißen die zwingenden Maßnahmen in den jeweiligen Projektgebieten. „Würde man nur eine dieser Maßnahmen forcieren, hätte das nicht mehr Effekt als ein Tropfen auf einem heißen Stein“, sagt die Expertin.

Thomas Bruckner bei „Menschen für Menschen“. Foto: (c) Menschen für Menschen / Naod Lemma

In Ginde Beret, jener Region also, in der wir gerade unterwegs sind, ist „Menschen für Menschen“ mittlerweile seit 7 Jahren tätig. Dementsprechende augenscheinliche Fortschritte konnten bereits erzielt werden. Dazu einige Fakten: 2010 hatten lediglich 2 von 10 Menschen Zugang zu sauberem Trinkwasser, 2018 können sich dessen 8 von 10 Personen sicher sein. 10 Schulen wurden errichtet sowie 5 weitere renoviert. Die Durchschnittsimpfrate bei Kindern liegt mittlerweile bei 90 %. 1850 Frauen konnten sich aufgrund der Teilnahme am Kleinkreditprogramm ein eigenes Einkommen aufbauen. 2010 war jedes zweite Kind unter zehn Jahren von der gefährlichen Augeninfektion Trachom betroffen, heute gilt Ginde Beret als trachomfrei. Weiters wurde ein Vielzahl neuer Gemüsegärten angelegt, 10.000 Haushalte, also rund 60.000 Menschen profitieren davon.

Pimp your Bike. Über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten. Mittels Kabelbinder verschönerte Fahrräder sind der Hit in der Gegend Ginde Beret. Foto: (c) Thomas Bruckner

Und dann gibt es da noch etwas, das „Menschen für Menschen“ in dieser, aber auch in vielen anderen Regionen Äthiopiens geschafft hat. Etwas Wesentliches, für die nachhaltige Entwicklungsmöglichkeit einer Region Entscheidendes. Wir sitzen mit den Ältesten eines Dorfes am Boden, und rund ein Dutzend dankbare Gesichter strahlen uns an. „Wir waren ohne Antworten “, sagt dann einer, „aufgrund der Gier haben wir unser eigenes Leben zerstört. Keiner konnte genug kriegen, jeder wollte mehr, und bald hatten wir dann alle nichts mehr.“ „Aber jetzt“, sagt er weiter und blickt übers hügelige Land, „stehen da wieder Bäume und Sträucher, so wie früher in meiner Kindheit, klein sind sie noch, aber sie werden wachsen, auch einige Tiere sind bereits zurückgekehrt, und der Boden scheint wieder fruchtbar.“ Zum Schluss bedankt er sich noch bei Alexandra für die Hilfe, die ihrem Dorf wieder Hoffnung gegeben hat, dann ist es still.

Wer ein Pferd besitzt, kann sich glücklich schätzen, die Erleichterungen bei den täglichen Arbeiten sind offensichtlich. Foto: (c) Thomas Bruckner

Der Wind streicht sanft übers Land, und nur noch die Blätter der jungen Bäume und Sträucher rascheln. Dass hier noch vor 7 Jahren kaum ernstzunehmende Pflanzen zu finden waren, kann man sich kaum vorstellen. Trotzdem war dem so, und zum Teil ist Äthiopiens Armut wohl auch hausgemacht. Schlechte Politik gepaart mit der uns Menschen innewohnenden Gier brachte einem an und für sich fruchtbaren Land bittere Armut. Ausgangspunkt war das Jahr 1970. Haile Selassie, der König der Könige, musste abdanken, der „Derg“, eine marxistisch-leninistische Militärjunta, übernahm die Macht. Die herrschende Oberschicht wurde enteignet, das Land Farmkollektiven zugeteilt. In der Folge waren im Ackerbau unerfahrene Menschen im Kollektiv für die Nahrungsversorgung des ganzen Landes verantwortlich. Ein Desaster. Hungersnöte waren die Folge.

Äthiopien ist ein tief religiöses Land. Rund 45 % der Bevölkerung sind äthiopisch-orthodoxe Christen. Foto: (c) Thomas Bruckner

Als im Jahr 1991 die „Revolutionäre demokratische Front der äthiopischen Völker“ die Macht übernahm, wurden die Kollektive auf die Bauern aufgeteilt. Mangels Kontrolle begannen diese, ständig ihren Besitz zu vergrößern, es wurde abgeholzt auf Teufel komm raus. Bodenerosionen waren die Folge, das Land begann unfruchtbar zu werden und niemand wusste, wie man dieser Entwicklung Herr werden konnte. Erst durch Organisationen wie „Menschen für Menschen“ und deren Fachwissen konnte man die Erosionen stoppen. 480 ha Land wurden allein in Ginde Beret in den letzten Jahren wieder aufgeforstet, 50 km Erosionsgräben wieder geschlossen – „Menschen für Menschen“ sei Dank.

Trotzdem wäre es fatal, die positive Entwicklung Äthiopiens als ohnehin gegeben zu sehen, denn die größten Devisenbringer des Landes sind ausländische Investitionen in die Landwirtschaft. Und ob profithungrige ausländische Investoren langfristige und nachhaltige Entwicklungen für das Land Äthiopien im Sinne haben, darf bezweifelt werden. Gut nur, dass „Menschen für Menschen“ die Betroffenen nicht alleine lässt.

Das Gebiet Ginde Beret liegt inmitten von Äthiopien. Landkarte – Illustration: (c) Paula Brandtner

Äthiopien

In der Demokratischen Bundesrepublik Äthiopien am Horn von Afrika im Osten des Kontinents leben heute ca. 100 Millionen Menschen. Das höchstgelegene Land Afrikas gilt als Wiege der Menschheit, in der rund 90 verschiedene Volksgruppen leben. Insgesamt werden weit mehr als 70 verschiedene Sprachen gesprochen. Landessprache ist Amharisch. Äthiopien gilt als Ursprungsland des Kaffees und ist dreizehnmal so groß wie Österreich. Die wichtigsten Glaubensgemeinschaften sind die äthiopisch-orthodoxen Christen und die sunnitischen Muslime. Dazu kommen noch Katholiken, Anhänger von Naturreligionen, Angehörige der evangelischen Kirche, Hindus und Sikhs. Äthiopien ist ein Binnenstaat und gehört nach wie vor zu den ärmsten Ländern der Welt.