KULTUR

Die Höhlenmenschen von Teneriffa

Nicht nur Hippies leben illegal in einem Naturschutzgebiet auf Teneriffa. Eine Woche verbringt unser Reporter mit den Aussteigern und lernt dabei auch recht seltsame Charaktere kennen.

Text: Thomas Bruckner / Fotos: Thomas Bruckner

Nora hat lange braune Haare, und das Tuch, welches sie um ihre Hüften gewickelt trägt, hätte sie sich sparen können, denn es verdeckt ohnehin nichts von ihrer Nacktheit. Gar nichts. Sie hockt vor mir am Boden und erledigt per Hand den Abwasch. Etwa 30 m unter uns zerschellen die Wellen des Atlantik an der senkrecht in den Himmel ragenden Steilwandküste, die erst wieder rund 20 m über unseren Köpfen endet. Lediglich ein schmaler Pfad, der Trittsicherheit verlangt und Höhenangst verbietet, führt zu jener Stelle, an der wir uns befinden. Hier wohnt die junge Norwegerin in einer Höhle. Nora ist vor drei Jahren ausgestiegen aus einem System, das, wie sie sagt, unseren Planeten zerstört und uns Menschen zu Maschinen macht. Ob sie alleine hier lebt, will ich von ihr wissen. „Nein“, sagt sie und zieht zugleich den Teppich, der den Eingang zur Höhle verdeckt, zur Seite. Und als ob die Außergewöhnlichkeit der Situation nicht schon reichen würde, liegt da ihr Freund auf einer Matratze und vergnügt sich gerade mit einer anderen Frau. Nora lässt den Vorhang wieder zufallen, lächelt mir ins Gesicht und findet dann folgende passende Worte: „Sorry, he’s occupied“. Dann macht sie mit dem Abwasch weiter.

Willkommen auf Teneriffa, willkommen im Naturschutzgebiet von La Caleta, willkommen bei den Hippies. Obwohl das mit den Hippies natürlich so nicht stimmt. Denn hier am Strand von Caleta trifft man alle möglichen Charaktere an, nicht nur solche, welche einem Lifetyle im Zeichen von Peace, Love und Sex freien Lauf lassen wollen. Seit einer Woche bin ich hier, übernachte im Freien, im Schlafsack auf einer Matte, um möglichst viel mitzubekommen von den Menschen und ihren Überzeugungen und Beweggründen, abseits der herkömmlichen Gesellschaft zu leben. Salopp gesagt kenne ich hier mittlerweile jede Maus. Hippies, ehemalige Geschäftsmänner, frustrierte Arbeitslose, realitätsferne Träumer, junge Himmelsstürmer, Studenten, Weltreisende, Sozialhilfeempfänger, psychisch Kranke, Kurzzeiturlauber. Alle möglichen Charaktere und Menschen mit unterschiedlichsten Motiven trifft man hier an. Und trotzdem eint sie ein einziger Umstand: Sie alle sind Gesetzesbrecher, sie alle leben illegal hier. Niemand zahlt Miete, niemand ist gemeldet, niemand registriert. Natürlich geht das nicht auf Dauer gut. Alle paar Jahre greift deshalb die Polizei durch. Zweimal innerhalb weniger Wochen kommt sie dann üblicherweise. Das erste Mal zwecks Aufklärung und Strafandrohung. Beim nächsten Mal wird dann Ernst gemacht: Zelte, Schlafsäcke, Matten werden konfisziert, Hütten abgefackelt, Steinhäuser ruiniert, Höhlen geräumt, und jene Unbelehrbaren, die nicht weichen wollen, bestraft.

„Das Problem sind die, die nicht wissen, wie man sich benehmen soll in der freien Natur, die ihren Dreck einfach da lassen, anstatt ihn mitzunehmen“, sagt Valentin, ein braungebrannter Russe mit leuchtenden Augen, der zumeist einen weißen Sonnenhut trägt und ansonsten nichts am Körper. Nur wenn man ein Foto von ihm machen will, zieht er sich, ganz so, als wäre es das Normalste auf der Welt für einen Mann, einen beigen Minirock über.

Valentin ist 32 Jahre alt, war früher Geschäftsmann, und eines seiner Lieblingsthemen ist Spiritualität bzw. Erleuchtung. Ich vermute einmal, er quasselt nicht bloß mir die Ohren voll über seinen Glauben und seine spirituellen Erfahrungen, sondern er macht das bei jedem. „Glaubst du, dass du erleuchtet bist?“, falle ich ihm irgendwann ins Wort. Valentin bejaht diese Frage. Doch egal, wie man Valentins Selbsteinschätzung bewerten möchte, eines ist unbestritten: Valentins Höhle ist der Hammer. Solarpanele sorgen für Strom, fließend Wasser kommt direkt vom Meer, geschmackvolle Bilder zieren die weiß ausgemalten Wände, Teppiche bedecken den Boden, eine Couch steht da, ins Bett will man sich am liebsten gleich hineinlegen, so gemütlich sieht es aus. In den Blumenkisten wuchern Blumen und verschiedenste Gemüsesorten. Alles ist sauber, geordnet und bestens gepflegt. Und wenn Valentin den Sonnenschutz hochzieht, breitet sich bis hin zum Horizont die glitzernd blaue See vor einem derart farbenprächtig aus, dass man glaubt, direkt in einen Plasmabildschirm zu schauen, so unwirklich und kitschig wirkt der Ausblick. Dieser Platz ist magisch, ganz ohne Frage. Valentin lebt bereits das vierte Jahr hier, ohne Unterbrechung. Und seit einiger Zeit macht er etwas, das seinem ungewöhnlichen Wohnstil die Krone aufsetzt. Ich erfahre es von einer Schwedin – jung, blond, „schlank- rattenscharf“ hätte man früher gesagt. Sie sucht Valentin. Sie kennt ihn bloß vom Internet und sie will auf seiner Couch schlafen. „Es soll fantastisch sein, alle die bei ihm geschlafen haben bestätigen das“, sagt sie. Tja, Valentin, der Erleuchtete, der Geschäftsmann, das Schlitzohr, bietet seine Höhle auf der Internetplattform Couchsurfing an. Wer will, darf bei ihm schlafen. Zweifellos ein origineller Schritt für jemanden, der illegal wo lebt. „Congratulations Valentin“, kommt mir da unweigerlich in den Sinn.

Die Räumungen hat er deshalb schadlos überstanden, weil, wie er mir verrät, sich die Räumungsmaßnahmen vorwiegend auf jene Menschen konzentrieren, die hier allzu offensichtlich das Naturbild stören, sei es mit ihren Zelten, Stein­häusern oder Hütten. Höhlen gehören somit eher nicht dazu, denn ob es sich innerhalb einer schwer zugänglichen Höhle jemand gemütlich macht oder nicht, kümmert die Exekutive scheinbar wenig. Und außerdem, nach der Räumung ist vor der Räumung. Wenige Tage nach den Räumungen siedeln sich die meisten ohnehin wieder an, zudem mit der Gewissheit, dass man jetzt für einige Zeit Ruhe hat.

Obwohl, dauerhaft hier leben, so wie Valentin oder Nora, tun ohnehin nur die wenigsten in dieser Gegend, angeblich gerade einmal 8 Personen. Einige verbringen seit Jahren die Wintermonate auf der Insel mit dem ganzjährigen Wohlfühlklima. Die meisten aber verschwinden schon nach einigen Wochen wieder. Das Leben außerhalb der Gesellschaft ist kein Honiglecken. Wasser ist das eine Thema. Es muss gekauft und mühsam hierhergeschleppt werden. Nahrung das andere. Wie ernährt man sich, wenn man nichts verdient? Carla, eine Spanierin, die seit drei Monaten hier in einem kleinen Zelt lebt, lässt die Katze aus dem Sack. Ich nehme sie mit in meinem kleinen Leihauto, sie will mit mir mitfahren, herumfahren in Babylon. Was zur Hölle meint sie mit Babylon? Ja, die vor 4000 Jahren im heutigen Irak gegründete Stadt wird schon im Neuen Testament als Zentrum des Bösen bezeichnet, aber was hat das mit Teneriffa zu tun? „Babylon ist da, wo kapitalistisches Denken gelebt wird“, sagt Carla. „In jeder Stadt, in jedem Dorf, eigentlich überall, wo Zivilisation herrscht heutzutage“, setzt sie fort.

Und so kurven wir im Land der Sünder herum, und Carla interessiert eigentlich nur eines – Mülltonnen. Da stehen weggeworfene Schuhe neben einem Müllcon­tainer, dort scheint jemand ein Kleidungsstück weggelegt zu haben, und in der Biotonne liegen massenhaft noch genießbare Lebensmittel herum. Carka kann alles brauchen. Wie ein Hamster will sie alles mitnehmen. „Shoppingtour auf Müllhalden“, denke ich, und dass ich den Sinn des Aussteigens nicht verstehe, wenn sich letztlich wieder alles bloß ums Konsumieren dreht. Aber das sind bloß meine Gedanken, Fakt ist: Nicht alle, aber die meisten, die im Naturschutzgebiet auf Teneriffa leben, holen sich ihre Lebensmittel aus den Mülleimern. Spätabends, im Schutze der finsteren Nacht, ziehen sie zu den Wahrzeichen der Kapitalisten, um die Mülltonnen der Supermärkte und Einkaufszentren zu durchstöbern.

Womit wir beim dritten maßgeblichen Thema des Lebens wären. Wenn für Speis und Trank gesorgt ist, was macht man dann mit der noch vorhandenen Zeit? Wie verlebt man seine Tage? Zwei kleine Sandstrände gibt es in dieser Gegend. Da trifft man sich. Viele laufen nackt herum, manche auch nicht. Man sitzt beieinander, es wird getrommelt, gesungen, getratscht und gekifft. Natürlich ist das hier keine drogenfreie Zone. Ich höre auch von wilden Orgien, die hier hin und wieder stattfinden sollen. Erleben tue ich aber nichts dergleichen. Die meisten leben ein recht unaufgeregtes Leben, kümmern sich um ihre Behausungen, meditieren, kochen Essen, leben in den Tag hinein. Hippieleben halt, so wie man es sich vorstellt. „Heute war ich fleißig“, erzählt mir Jonas, ein Deutscher, der alljährlich die Wintermonate hier verbringt und mir bei einem meiner vielen Erkundungsmärsche direkt in die Arme rennt. Rastazöpfe, die unter seinem Hut hervorquellen, langer Bart, John-Lennon-Brille, Yogahose, T-Shirt mit riesigem Jesusbild drauf, und dieser lange Stock, den er als Gehstock verwendet, schenken ihm das Erscheinungsbild einer biblischen Gestalt, nur halt mit westlichem Aufputz. Warum war er fleißig? Weil er es nach Wochen geschafft hat, einen etwa 20- minütigen Weg auf sich zu nehmen, um irgendetwas abzuchecken. Ein häufig anzutreffendes Phänomen, viele erzählen mir, dass die Tage verfliegen und sie eigentlich nicht genau sagen können, was sie so tun, außer essen, die Ruhe genießen und ihre Notdurft verrichten.

Aber andererseits treffe ich auch auf Chris, und Chris ist fleißig. Jeden Tag marschiert er schon um 3 Uhr in der Früh in die Stadt, wo er als Bäcker arbeitet. Oder Ernö der Ungar, der mit seiner Freundin Szuszi hier lebt. Täglich verlassen sie das Naturschutzgebiet, um ihre Tage in Babylon zu verbringen. Er zeichnet Karikaturen von Touristen, sie arbeitet in einem vegetarischen Restaurant als Küchenhilfe. Oder Tujor, ein Rumäne, der engagiert einen Job als Physiotherapeut sucht. Sie alle switchen täglich zwischen Hippiewelt und bürgerlichem Leben, versuchen den maximalen Benefit aus dem jeweiligen System für sich herauszuholen. Dass so ein Leben trotzdem immer auch eine Gratwanderung bleibt, nehmen sie dabei gerne in Kauf.