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Archiv 1992: Der scheue nackte Mann
Sie stählen ihre Körper in Fitnessstudios. Sie martern sich mit Diäten. Aber wenn’s ans Ausziehen geht, zittern die Männer um ihr bestes Stück. Was man nicht zeigt, kann man nicht verlieren. Michaela Ernst ergründete die Angst der Männer vor der eigenen Nacktheit.
Fotos: Andreas Hermann
Es ist ein Gefühl von Traurigkeit, das den amerikanischen Kitsch-Künstler Jeff Koons überkommt, wenn er seiner Gattin, der italienischen Porno-Politikerin Cicciolina, einen Cunnilingus besorgt und das Ganze fotografisch, gläsern oder gar in Porzellan festhält. Es ist ein Gefühl der Traurigkeit, sich ausziehen zu müssen, nackt zu sein vor und für eine Öffentlichkeit, denn er sei „ein sehr privates Individuum“ und führe ein sehr zurückgezogenes Leben. Jeff Koons tut’s trotzdem, weil er für seinen wie immer präsentierten Pimmel zwischen 150.000 und 250.000 US-Dollar kassiert. Diese Traurigkeit lässt sich ertragen.
Der 25-jährige Robert lebt ebenfalls davon, die Hosen runterzulassen. Nicht ganz so mondän wie der amerikanische Genitalien-Inszenator, nicht ganz so hoch honoriert. Jeden Mittwoch nachts ab halb zehn streift Robert im Revue-Treff Cenario am Tiefen Graben 22 in Wien eine Vielzahl von Unterhosen ab, um sodann in einem String, der auf die Größe seines besten Stücks abgestimmt ist, vor johlender weiblicher Menge herumzutanzen. Ist die Stimmung gut, fällt auch dieses letzte Fetzchen Stoff ab, und Robert hält in den Händen, was zu halten bleibt.
Seit zwei Monaten erfreut Robert derart das andere Geschlecht, wobei die Hemmschwellen bis heute noch nicht ganz abgebaut sind. Der Nervenkitzel bleibt vor jeder Show. Es ist harte Arbeit, bis die Choreografie sitzt. Und man weiß halt nie im Voraus, wie die Frauen reagieren.“ Das ist die eine Seite. Die andere das gesellschaftliche Tabu. „Die meisten Leute sind nicht bereit, zu akzeptieren, dass sich ein Mann für andere auszieht. Man wird schief angeschaut und sofort in die Homoecke gedrängt.“ Eine mögliche Erklärung für dieses Vorurteil sieht Robert darin, dass „Männer gekränkt fühlen, wenn ihre Frauen/Freundinnen anderen nachschauen“. Das Heruntermachen dieses anderen Mannes sei sozusagen „Präventivmaßnahme“. Lange werde sich diese Miesmacherei ohnehin nicht mehr halten. „Im Zuge der Emanzipation“, ist Robert überzeugt, „wächst auch bei der Frau das Bedürfnis, sich am nackten Manne zu ergötzen.“
Erfahrung zeigt, dass auf weibliche Bedürfnisse noch nie besonders schnell reagiert wurde. Sollte es so sein, wie Robert behauptet, werden die Frauen warten müssen. Die Scheu des Mannes vor der Nacktheit – ein Faktum.
Als vor einem knappen Jahrzehnt der erste nackte Mann auf Plakatwänden in Österreich für Klopapier warb, sorgte dies für Aufruhr. Man benannte das Prachtexemplar nach der Firma, für die es geradestand: Cosi-Mann. Der Touch von (zumindest) akustischer Verniedlichung glättete die Wogen. Ungefähr zum gleichen Zeitpunkt tauchte der Palmers-Mann auf, weniger aufrührend, da er parallel zu einer Serie dürftig bekleideter Damen erschien. Der Skandal wurde von dem Gekeife erboster Feministinnen („Du bist blöd“ oder so) erdrückt. Einer der jüngsten nackten Werbeträger posiert für ein Parfüm, das ausgerechnet „Obsession“ (Besessenheit) heißt. Was soll man da viel sagen.
Und der interessanteste öffentliche Nacktauftritt der letzten Wochen wurde überhaupt verschwiegen. In den Filmbesprechungen zu Basic Instinct las man zwar viel über die eine Szene, in der Hauptdarstellerin Sharon Stone die Echtheit ihrer blonden Haare unter Beweis stellt, dass ihr Filmpartner Michael Douglas im selben Film seine Männlichkeit über die Leinwand baumeln lässt, stand nirgendwo zu lesen.
Im Verschweigen und Verdrängen von den nackten Tatsachen sieht Wurlitzer-Moderator und Jungschauspieler Reinhard Jesionek drei Ursachen. Erstens, die altbekannte: „Der Mann kann sich nicht daran gewöhnen, Sexualobjekt zu sein. Wir leben immer noch in einer Gesellschaft, wo ein Mann, der viele Frauen hat, als toller Hecht gilt, umgekehrt die Frau jedoch als „leichtes Mädchen“ oder „Hure“.“ Zweitens: „Männer können sich mit nackten Frauenbildern sexuell stimulieren. Umgekehrt funktioniert das eher selten. Die meisten Frauen sehen Männer, die ihnen gefallen, irgendwie romantisch.“ Drittens: „Wenn ein Mann sich auszieht, wird das leicht mit „Hosen runterlassen“, sprich mit einer gewissen Art der Machtabgabe, der Verletzbarkeit, in Verbindung gebracht.“ TV-Jungstar Jesionek, der zwar überhaupt keine Scheu kennt, sich vor großem Publikum zu präsentieren, würde es als „nicht angenehm“ empfinden, wenn er dies auf einmal nackt tun müsste. „Ich bin lieber Voyeur als Beobachteter. Mich auszuziehen, bereitet mir nicht unbedingt Lust. Trägt nicht unbedingt zu wahnsinniger Gelockertheit bei.“
Auch Model George aus dem puritanischen Amerika, derzeit auf Job in Österreich, hält seinem Land alle Treue. Selbst für viel Geld dieser Welt ließe er sein Kronjuwel nicht ablichten. „Ich war glücklicherweise noch nie in der Situation, wo es darauf angekommen wäre, aber ich hätte allergrößte Probleme, mich nackt vor der Kamera zu bewegen. Es wäre vermutlich auch schwer, mich von der Notwendigkeit zur Hüllenlosigkeit zu überzeugen.“
Dass der männliche Körper in der Gesamtbeurteilung durch die Frau an Bedeutung gewonnen hat und sehr wohl auch durch sein kaschierendes Beinkleid hindurch beurte
ilt wird, wollen beide nicht abstreiten. „Es geschieht uns Männern nur recht, wenn wir für unsere Bäuche genieren müssen“, übt sich Jesionek in Selbstzerwürfnis, „wo wir doch so gerne über das überdimensionierte Hinterteil einer Frau lästern.“ Parallelität zwischen Frauenfreundlichkeit einer Epoche und männlichem Exhibitionismus (nicht im pathologischen Sinne) sieht John Harris, Besitzer eines Wiener Fitnessstudios. Vor 50 Jahren hätten die meisten Mädchen zwischen 16 und 18 nicht einmal gewusst, wie ein Penis aussieht. Aufgaben und Pflichten waren klar umrissen in „Kinder-Küche-Kirche“. „Es war damals völlig gleichgültig, wie ein Mann aussah. Frauen stellten diesbezüglich kaum Ansprüche. Hatte einer einen dicken Bauch, wurde das nicht als abstoßend empfunden. Im Gegenteil, er bewies damit seine Fähigkeit, eine Familie zu ernähren.“ Heute brauchen die Frauen keinen dicken Bauch mehr, der sie unterstützt.
„Der soziale Druck auf den Mann, sich körperlich nicht gehen zu lassen, nimmt zu. Die meisten geben es aber nicht zu, dass sie beim Training andere Männer anschauen bzw. sich an anderen Männern messen.“ John Harris erzählt das Beispiel von einem Bekannten, der zu einem männlichen Aktfoto befragt wurde. „Wie kann ich wissen, ob der gut aussieht, ich bin doch nicht schwul“, soll die Antwort gelautet haben. Obgleich die Hälfte seiner Kunden mittlerweile Männer sind, stellt John nach wie vor fest: Ein Mann kann einen Hund anschauen und ihn beurteilen. Geht es aber um die ästhetische Schätzung eines anderen Mannes, verfallen die meisten in Sprachlosigkeit.
Die Scheu des Mannes vor der Nacktheit ortet der Psychiater Friedrich Ruhs im Phallozentrismus unserer abendländischen Kultur. „Die Vollständigkeit des Menschen wird damit verbunden, ob er einen Penis hat oder nicht. Der nackte Körper beim Manne bedeutet also nicht der gesamte Körper. Gleichzeitig hat der Mann Angst, dass er das verlieren könnte, was ihm am wertvollsten erscheint. Diese unbewusste Kastrationsangst steckt jedem. Wenn der kleine Bub zum ersten Mal sieht, dass es Menschen gibt, die keinen Penis haben, glaubt er, dass er ihn verlieren könnte. Verstärkt werden diese Ängste, wenn er Eltern hat, die ihm sagen: ,Greif da nicht hin, wenn du damit spielst, wirst du es verlieren.‘ Die meisten Männer haben bereits in Kindesjahren dieses Gefühl, dass sie ihren Penis verbergen, schützen müssen.
Ein weiteres Argument sieht Dr. Ruhs in der Einstellung zum männlichen Exhibitionismus, der, negativ besetzt, im extremen Fall als Perversion gilt. „Die Geschlechtsidentität der Frau ist verborgen, die des Mannes sichtbar. Der Körper der Frau wirkt dadurch viel interessanter, viel rätselhafter als der des Mannes. Deshalb möchte man sie öfter sehen. Bei Abbildungen oder Darstellungen des nackten Mannes kommt häufig der Verdacht der Homoerotik auf.“
„Das Fortpflanzungsorgan des Mannes ist nicht gerade sehr schön anzusehen“, trifft Hannes Jagerhofer, Clubbing-Vater (Meierei) und PR-Maschine (Visa, Apple-Computer, Southern Comfort) den Punkt. Er setzte ja gerne Nacktfotos als Mittel zu seinen Zwecken ein. Nur von Frauen, natürlich. „Erotische Fotografie vom Mann ist immer eine Gratwanderung am Rande der Peinlichkeit.“ Humbug sei es, einen Mann nach rein optischen Belangen zu bemessen. Ein Mann ist, was er macht und was er hat. Daran vermögen auch 30 Jahre Gleichheitskampf nichts zu ändern. „Es gibt wichtigere Dinge zu kommunizieren.“
Auch Marcus Mautner Markhof (33), jüngstes Vorstandsmitglied der Mautner Markhof Aktiengesellschaft, ist davon überzeugt, dass Männer trotz des Körperkults der vergangenen zehn Jahre „ihre Männlichkeit mit anderen Dingen in Verbindung sehen wollen“. Der Mann als Lustobjekt sei ungewohnt, und Gewohnheiten lassen sich eben nur schwer verändern. „Sex soll man nicht aufdrängen, das lehne ich ab. Ich halte es für stupide, einen nackten Menschen vor ein Produkt zu stellen und zu hoffen, dass dieses Produkt dann automatisch attraktiv ist.“
Dass sich der nackte Mann als Werbeträger nicht in gleichem Ausmaß wie die Frau durchsetzen lässt, reduziert er auf natürliche Instinkte: „Männer reagieren mehr auf Äußerlichkeiten als Frauen, und in der Wirtschaft zählt Emanzipation kaum als Argument. Wird ein Mann entblößt gezeigt, so ist das als reiner Zusatzeffekt gedacht.“ Alibi-Handlungen, die dazu dienen, den Frauen als Konsumenten eine Art Genugtuung durch Gleichstellung zu leisten, hält er für ausgeschlossen. „Bis zum ,nackten Mann‘ wird es bei uns noch einige Zeit brauchen.“
Der Wiener Nachtklubbesitzer Heinz Werner Schimanko kann ein Leidenslied davon singen. Die von ihm veranstalteten „Men-Stripper“-Abende im „Moulin-Rouge“ waren allesamt matte Sache. „So emanzipiert, wie die Frauen gerne wären, sind sie nicht. Die jüngeren Jahrgänge zeigen zwar wenig Berührungsängste, aber leben könnte ich von diesen Veranstaltungen nicht.“ Der 50-Jährige, der mit hartem Training seinen Körper auf 30-Jährig trimmte, hat überhaupt kein Problem mit Nacktheit. Natürlich blickt er im Fitnesscenter zu anderen, zieht Vergleiche. „Das heißt ja nicht, dass ich schwul bin. Ein nackter Männerkörper kann im ästhetischen Sinne schön sein. Schön sein, ohne erotisch zu wirken.“ Den Niedergang des Tabus vom „nackten Mann“ wird unsere Generation wohl kaum erleben: „Gegen die letzten zehn Jahre Körperbewusstsein“, meint Heinz Schimanko, „stehen immerhin 2000 Jahre Kurt Krenn.“