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Archiv 1994: Autos, die Träume blieben

Wenn Ingenieure träumen, werden Blechphantasien Wirklichkeit. Auf internationalen Autosalons stellen sie Traummobile vor, die Publikum und Fachpresse zu Begeisterungsstürmen hinreißen. Warum diese Fahrzeuge dann doch nicht gebaut werden, recherchierte Peter Seipel.

Münchner Automesse „Auto ’94“, Halle 2. Es ist Abend, der letzte Besucher hat die Ausstellung verlassen. Mehrere Männer machen sich an die Arbeit, einen futuristisch aussehenden Kleinwagen aus seinem Holzkäfig zu befreien. Es ist der letzte Akt eines Entführungskrimis, wie ihn die Autobranche bisher noch nie erlebt hat. Das Opfer heißt Renault Vesta, die Täter sind Greenpeace-Aktivisten, die Befreier Mitarbeiter des französischen Autokonzerns Renault.

Als Vertreter der Deutschen Umweltstiftung getarnt, hatten sich im Herbst 1993 Aktivisten der internationalen Umweltschutzorganisation Greenpeace den Vesta aus dem Pariser Renault-Museum ausgeborgt und nicht mehr zurückgegeben. „Wir wollten der Öffentlichkeit vor Augen führen, dass das von Bundeskanzler Franz Vranitzky geforderte 3-Liter-Auto technisch längst machbar ist“, begründet Greenpeace-Verkehrsexperte Matthias Schickhofer die Aktion seiner Mitstreiter, die mit dem Vesta ohne Einverständnis seiner Erzeuger auf Tournee gingen. Denn der schmucke Kleinwagen war bereits 1987 mit einem Verbrauch von nur zwei Litern Sprit auf 100 Kilometer zum Weltrekord-Sparmeister gekürt worden und kurz darauf im Museum verschwunden. Greenpeace holte das Muster-Sparmobil mit einem Trick wieder hervor und präsentierte es im Brüsseler „Autowelt“-Museum und zuletzt beim Münchner Autosalon der Öffentlichkeit.

Renault-Pressesprecherin Ingrid Rossberg gibt sich gelassen: „Wir haben nichts unternommen, weil eine spektakuläre Befreiungsaktion Greenpeace zu gut in den Kram gepasst hätte.“ Um den Vesta werde ohnehin schon zu viel Aufsehen gemacht. „Das Auto wurde ausschließlich auf niedrigen Verbrauch konzipiert. Die anderen Aspekte, wie Material, Sicherheit oder Schadstoffemissionen, sind gar nicht berücksichtigt worden.“ Der Vorwurf von Greenpeace, dass eine weltweite Öl-Lobby die Markteinführung von Sparmobilen verhindere, ist laut Rossberg kompletter Blödsinn. „Wenn das 3-Liter-Auto wirtschaftlich und technisch möglich wäre, hätten wir es mit unserem Twingo längst verwirklicht. Technisch machbar ist heute fast alles“, sagt Ernst Pucher vom Institut für Verbrennungskraftmaschinen an der Technischen Universität Wien. „Die Frage ist nur, was es kostet.“ Denn das erste 3-Liter-Auto wurde bereits in den fünfziger Jahren erfunden und ist heute im Bugatti-Museum in französischen Mühlhausen zu besichtigen. „Realistisch gesehen können wir erst um die Jahrtausendwende mit einem 3-Liter-Sparmobil zu einem vernünftigen Preis rechnen“, sagt Pucher.

Abgesehen vom Umweltgedanken spüren die Verkaufsstrategen der Autokonzerne permanent neue Möglichkeiten auf, Bedürfnisse des Autofahrers von morgen zu erkennen oder zu wecken. So bietet die Renault-Fahrzeugstudie Racoon nach dem Willen ihrer Erfinder „Fahrspaß abseits ausgetretener Pfade“. Mit dem „hypermobilen Amphibienfahrzeug“, das Infrarot-Kameras, Satelliten-Navigation und Hydrojet-Antrieb an Bord hat, soll man jedem Stau spielerisch querfeldein und sogar über Wasser ausweichen können. Wenn Ingenieuren freie Hand gelassen wird, erinnern sie sich offenbar gerne an die Baukastenphantasien ihrer Kindheit.

Ebenso futuristisch verspielt gibt sich die von Renault und Matra realisierte Studie Zoom, bei der wieder der Öko-Aspekt im Vordergrund steht. Ein kleines zweisitziges Stadtauto mit Elektroantrieb, dessen Clou ein variabler Radstand ist. Auf der Suche nach einem Parkplatz kann der Zoom auf eine Länge von nur 2,10 Metern geschrumpft werden. „Zoom-Komponenten haben gute Chancen, in zukünftige Serienfahrzeuge aufgenommen zu werden“, erklärt Ingrid Rossberg. Denn immerhin koste die Entwicklung eines derartigen Prototypen bis zu 15 Millionen Schilling. Zu viel für einen kurzfristigen Show-Effekt.

Den meisten Applaus für einen gelungenen Auftritt erhielt kürzlich die in Detroit, USA, präsentierte Volkswagen-Designstudie Concept 1. Im kalifornischen VW-Designzentrum hat offenbar die Postmoderne Einzug gehalten. Denn das hier entworfene Auto der Zukunft erinnert an einen klassischen VW-Käfer, dessen Buckel mit dem Zirkel nachgebessert wurde. Das brachte zwar ein Plus an Innenraum, dafür aber ein kräftiges Minus an Charme. Trotzdem rief der Concept 1 Begeisterungsstürme bei Publikum und Fachpresse hervor. Laut VW-Chef Ferdinand Piech soll der wahlweise mit Turbodiesel, Hybrid- oder Elektroantrieb ausgerüstete Neokäfer aber frühestens 1999 auf den Markt kommen.

Jubel und Enttäuschung erlebten die Fans kompromissloser Sportwagen 1991, als der Ingolstädter Autokonzern Audi seine Sportwagenstudie AVUS quattro präsentierte. Denn die Hoffnung, dass der Aluminium-Bolide wenigstens in limitierter Serie für die Straße gebaut werden könnte, wurde enttäuscht. Heute steht er wie so viele im Museum der unerfüllten Autoträume. Der Zugriff auf die 509 PS des 6-Liter-Zwölfzylinders, die den AVUS in drei Sekunden von null auf 100 und letztlich auf 340 km/h beschleunigen, bleibt der Öffentlichkeit zumindest vorläufig verwehrt. Vielleicht ist’s besser so.

Ein konkretes Resultat hat die AVUS-Studie aber trotzdem gebracht: im heurigen Frühjahr kommt mit dem Audi A8 erstmals eine Limousine mit Voll-Aluminiumkarosserie auf den Markt.

Die Vorteile des neuen Werkstoffs: weniger Gewicht, daher geringerer Benzinverbrauch, bessere Leistung und besseres Handling. Außerdem ist Aluminium zu 100 Prozent wiederverwertbar.

BMW beschäftigt gleich zwei kleine, flexible Ingenieurteams, die mit Zukunftsstudien betraut sind. Die „Technik GmbH“ übt sich im Trendsetting und stellte zum Beispiel den zweisitzigen Roadster Z1 auf die Räder. Die „Motorsport GmbH“ lotet die Leistungsgrenzen der BMW-Triebwerke aus und entwickelte unter anderem den Sportwagen M8, der mit seiner Zwölfzylinder-Fünfventil-Technologie die spektakuläre Leistung von 550 PS auf die Straße brachte. Wolfgang Reitzle, Forschungs- und Entwicklungsvorstand von BMW, erklärt, warum der M8 nie in Serie ging: „Solche Fahrzeuge sind für uns kein Thema mehr. Es genügt uns zu wissen, dass unsere Ingenieure solche Autos mit perfektem Serienfinish bauen können. Aber unsere Zukunftsaufgaben liegen eindeutig woanders.“ Zum Beispiel im Auffinden vielversprechender Marktnischen. So fertigte BMW im Februar 1989 ein Cabriolet auf der Basis des sportlichen M5 mit einer Leistung von 315 PS. Das Podium für den Genfer Automobilsalon war bereits hergerichtet, als eine Woche vor dem Debüt die Konzernleitung überraschend entschied: „Das Auto bleibt in der Garage.“ Der Grund: genaue Marktanalysen hatten gezeigt, dass die Marktnische neben dem erfolgreichen Dreier-Cabrio zu klein war. Nicht immer erscheinen die Entscheidungen der Konzernleitungen dem nach Neuigkeiten dürstenden Autofan logisch. So präsentierte Ford im verständlichen September 1983 die durchaus gelungene Roadster-Studie Ghia-Barchetta, basierend auf dem Großserienbruder Fiesta XR 2. Trotz Applaus von allen Seiten ging das schmucke, zweisitzige Sport-Cabrio nie in Serie. Was die Ford-Chefs damals nicht ahnten: nur wenige Jahre später landeten die Japaner mit einem ähnlichen Auto einen Riesenerfolg – dem Mazda MX 5.