AKUT
Archiv 2008 – Ein undankbarer Job
Sie zahlen heimlich fremde Rechnungen, mähen fremde Rasen, füttern abgelaufene Parkuhren und hinterlassen nur eine Visitenkarte auf der SSSSH! steht. Wer sich dahinter verbirgt, weiß keiner. Genau das ist der Plan.
TEXT: HANS SCHNEEWEISS
Vergangene Woche war ich im Kino. Romantische Komödie. Meine romantische Begleitung erschien natürlich erst zwei Minuten vor Einlass, damit war das bitter notwendige Bier davor dahin, die Schlange vor der Kinokassa dafür mittlerweile endlos. Und dann drückt mir auch noch die Kassierin die Karten in die Hand und sagt, die seien schon bezahlt. Dazu eine Visitenkarte. „SSSSH“ stand darauf. Und dass mir soeben eine gute Tat im Namen von Hal Reichle zuteil wurde. Was zum Teufel ist SSSSH!? Wer ist dieser Hal? Und wer verdammt hat meine Karten bezahlt? Schau ich etwa so aus, als ob ich sie mir nicht leisten könnte …?
„SSSSH!“ ist englisch, sagt Google. Und lässt sich mit unserem „Pssst!“ übersetzen. Andererseits stehen die fünf Buchstaben auch für „Secret Society of Serendipitous Service to Hal“. Eine Geheim-gesellschaft für unerwartete Dienste im Namen Hals. Laut Wikipedia ein loser und inoffizieller Bund von weltweit rund 40.000 Menschen, die unangekündigt und anonym anderen eine Freude bereiten möchten. SSSSH!-Jünger bezahlen etwa Taxi- fahrern oder Kellnerinnen ungewöhnlich hohes Trinkgeld, waschen Autos, spendieren Tankrechnungen, Kinokarten oder füttern Parkautomaten. „Ich sammle mein Kleingeld, und wenn ich eine abgelaufene Parkuhr sehe, stecke ich eine Münze rein und klemme eine SSSSH!-Visitenkarte hinter den Wischer“, sagt Roger Cram, College-Professor aus Hiram im US-Bundesstaat
Ohio, der Initiator der Community. Und er bringt endlich Licht ins Dunkel des Gutmenschen-Rätsels.
Denn verantwortlich für dieses befremdend selbstlose Pfadfinder-Denken ist eigentlich ein Herr namens Hal Reichle, Roger Crams ehemaliger Nachbar. „Der war so eine Art Robin Hood“, erzählt er. „Ich bat ihn einmal, mir mit dem Müll zu helfen. Dabei fiel ihm anscheinend auf, dass ich neue Mülltonnen brauchte. Eine Woche später standen drei nagelneue Tonnen vor meiner Garage.“ Darauf angesprochen sagte Reichle, er wisse von nichts. „Tue Gutes und rede darüber“ steht in der Bibel. Reichle legte aber besonderen Wert darauf, dass seine Taten anonym blieben. Ein anderes Mal etwa, als Cram eines Nachts nicht schlafen konnte, beobachtete er Reichle, wie dieser bei dichtem Schneefall ganz in Weiß gekleidet mit einer Schaufel auf die Straße stapfte. Cram folgte seiner Fußspur und hörte drei Blocks weiter das kratzende Geräusch des Schneeschippens. Reichle schaufelte dort gerade heimlich irgendeine fremde Einfahrt frei. „In unserer Nachbarschaft passierten damals viele mysteriöse Dinge“, erinnert er sich. Im Sommer war auf einmal der Rasen gemäht und zu Weihnachten standen kleine Päckchen vor der Haustür. „Außer mir hatte aber niemand Hal in Verdacht. Denn auf Partys goss er sich für seine Martinis einfach die Zutaten in den Mund und mixte sie dann, indem er seinen Kopf schüttelte. Er war schon ein Verrückter.“ ❯
Trotz seiner vielen guten Taten kehrte Reichle aber im ersten Golfkrieg 1991 von einem Aufklärungsflug nicht zurück. Er starb im Alter von 27 Jahren. Sein Nachbar Cram hatte aber mittlerweile Gefallen an den kleinen Aufmerksamkeiten gefunden und wollte nicht, dass mit Hal auch dessen Idee starb. Und so gründete er die Community SSSSH!.
„Wir von SSSSH! teilen gute Taten in fünf Stufen ein“, sagt Cram. „Die erste Stufe ist die instinktive Güte, wo Menschen bloß geben, um zu überleben – zum Beispiel ihrem Chef. Die zweite Stufe ist das Geben um der Belohnung willen: Andere Leute sollen denken, Sie seien wundervoll. Auf der dritten Stufe steht das selbstlose Geben, um der Welt zu helfen, auch wenn man dafür diskriminiert wird. Die vierte Stufe ist die anonyme, uneitle gute Tat – das SSSSH!-Geben. Und als fünfte Stufe klassifizieren wir die gute Tat unter eigener Lebensgefahr.“
Für seine SSSSH!-Taten steht Cram ein Bus vom College zur Verfügung. „Wir haben ihn mit Wassertanks ausgestattet. Im Sommer fahren wir damit herum und waschen Autos.“
Oberstes Gebot dabei ist immer die Anonymität. „Nachdem wir unseren Job erledigt haben, verschwinden wir“, sagt er. „Daher wissen wir auch meist nicht, wie die Leute reagieren.“ Nur hin und wieder erfahren die Wohltäter über Umwege, ob sie ihre Opfer begeistern konnten. „Einmal haben wir vor einem Shopping-Center ein total verdrecktes Auto gewaschen“, erzählt Cram über die Aktivitäten in Ohio. „Als der Besitzer auf den Parkplatz kam, konnte er sein Auto nicht finden und rief die Polizei, weil er glaubte, es sei gestohlen.“ Er gab der Polizei eine Beschreibung des Wagens und das Kennzeichen. Die fand das Auto vor dem Shopping-Center, dort wo der Mann es abgestellt hatte. Es war eben nur gewaschen worden. Etwas schwieriger wird die Sache, wenn sich SSSSH!-Leute entschließen, zum Beispiel einen Rasen zu mähen. Denn dafür müssen sie die Gewohnheiten des Grundbesitzers ausforschen, damit dieser zur Tatzeit nicht daheim ist. „Das hat dann schon fast etwas von Stalking“, sagt Cram. „Aber wenn wir dann das Grundstück betreten, ist ohnehin auch Hausfriedensbruch dabei.“ Gutmenschen finden so etwas auch noch lustig. Aber wer will schon nach Hause kommen und entdecken, dass jemand in den eigenen Garten eingestiegen ist, den Rasenmäher aus dem Schuppen geholt hat und sich fürs Mähen stundenlang auf dem eigenen Flecken Erde auf- gehalten hat? „Bei manchen Fällen informieren wir vorher gleich die lokale Polizei“, sagt Cram. „Wenn dann die Leute dort anrufen, wissen die gleich, dass wir es waren.“ Manchmal geht aber auch etwas schief. „Ich bin mal mit einem 100-Dollar-Gutschein von einem Supermarkt durch eine arme Gegend gelaufen und habe ihn einer Verkäuferin in die Hand gedrückt – mit der Behauptung, ein besonders zufriedener Kunde namens Hal Reichle wolle sie mit einem nachträglichen Trinkgeld belohnen“, sagt Cram. Dafür kassierte er eine Ohrfeige, weil sie glaubte, er wolle sie anbaggern.
Und warum tun er und seine Jünger sich dann das alles an? Nächstenliebe, christlicher Fanatismus? Von wegen. „Je mehr Gutes man tut, desto besser fühlt man sich selbst“, sagt Cram. Ist wie zur Obdachlosenzeitung „Augustin“ auch gleich das Konkurrenzblatt „Uhudla“ dazukaufen. Und abwarten, wie es einem dabei geht.
Wer jetzt positiv auf die Pssst-Idee anspricht: Auf der SSSSH!-Homepage (http://home.hiram.edu/hal/index.htm) stehen entsprechende Visitenkarten zum Ausdruck bereit. Dann irgendetwas ausbaldowern, was einem völlig Fremden eine Freude bereiten könnte – beispielsweise einen Fünf-Euro- Gutschein in Jeans im Kaufhaus verstecken –, und danach die gute Tat auf der Homepage vermerken. Schon ist man Mitglied. Ein anonymes, versteht sich.
„DIE VIERTE STUFE IST DIE ANONYME, UNEITLE GUTE TAT – DAS SSSSH!-GEBEN. UND ALS FÜNFTE STUFE KLASSIFIZIEREN WIR DIE GUTE TAT UNTER EIGENER LEBENSGEFAHR.“
„Ich bekomme manchmal E-Mails, in denen mich Leute fragen, wie sie einen SSSSH!-Club gründen können und ob ich andere Mitglieder in ihrer Stadt, von Köln bis New York, kenne“, sagt Cram. „Aber ich habe natürlich keine Namen und Adressen. Von manchen weiß ich nur das Land, von anderen die Stadt. SSSSH! ist nicht dazu da, um einen Wohltätigkeitsverein wie den Rotary-Club zu gründen und große Events zu organisieren. Es geht ausschließlich darum, selbst Gutes zu tun. Für andere und für sich selbst.“