AKUT

Nunu Kaller: „Sokrates und ich“

Nunu Kaller weiß nur eines ganz sicher. Was, das kann der geneigte Leser anhand des Sokrates im Titel sicher selbst schlussfolgern …

Text: Nunu Kaller / Foto: Maximilian Lottmann

Vor langer Zeit besuchte ich ein humanistisches Gymnasium. Ich lernte also Altgriechisch, und Latein sowieso. Und so „ausgestorben“ das klingt, war es für mich spannend, weil damit eine fundierte Ausbildung über die alten Philosophen einherging. Zum Beispiel gab es da Sokrates. Wahnsinn, ging mir der am Socken. Sowohl in Griechisch als auch in Latein durfte ich sein Geschwafel übersetzen – und jedes Mal dachte ich mir: Sokrates schrieb selbst nichts. Er redete. Und zwar iiiiirgendwelche Leute am Marktplatz an. Die verwickelte er in seine berühmten philosophischen Gespräche. Er war damit so unbeliebt, dass er zum Tode verurteilt wurde. Ok, ein Todesurteil ist vielleicht ein bisschen gar harsch, aber Oida, wenn mich jemand auf der Straße einfach so anredet und mit mir philosophieren will: Der kann sich gehackt legen! Der kann verschwinden, aber schnell!

Diese Tatsache regte mich schon in der Schulzeit auf. Während wir alle versuchten zu entziffern, WAS er gesagt hatte, regte ich mich darüber auf, WIE er es gesagt hatte. Meine Griechisch-Professorin, die wunderbare Frau Professor Masek, amüsierte das anscheinend so sehr, dass sie Sokrates sogar zu meiner Maturafrage machte.

Die Schule war ich irgendwann los, Sokrates hingegen mitnichten. Im Studium der Kommunikationswissenschaft begegnete er mir, in meiner Ausbildung zur CSR-Managerin vor über zehn Jahren begegnete er mir, und auch als ich kurzfristig dachte, ich sattle um und werde zur Lebens- und Sozialberaterin: Sokrates. Überall wurde auf ihn referenziert. Ich wurde ihn einfach nicht los. Er verfolgte mich wie früher die Menschen auf dem Marktplatz. Es fühlte sich so an, als ob Sokrates mir dringend was sagen wollte – oder eher: Mich in einem Gespräch dazu bringen wollte, dass ich auf etwas ganz Grundlegendes draufkomme. Aber geh bitte, was sollte so ein nicht nur alter weißer, sondern sogar toter weißer Mann mir sagen wollen, was ich nicht längst wusste? Gähn.

Vor ein paar Jahren dann hatte ich plötzlich meine Antwort. Damals, als es begann, dass auf Social Media alle recht hatten und niemand mehr über seine Position diskutieren wollte. Alle wollten sie nur ihren #micdrop in 280 Zeichen hinterlassen. Keine Diskussion. Boah, nervte mich das. Ja, hin und wieder mag man einfach keine depperten Gegenargumente hören, weil man weiß, dass man recht hat. Aber woher weiß man immer, dass man recht hat?

Ich weiß, dass ich nichts weiß.

Dieses Zitat wird Sokrates zugeschrieben. Er bezieht sich damit auf die Tatsache, dass er als Mensch immer automatisch weniger wissen kann als der delphische Gott Apollon. Gut, mein Götterglaube ist jetzt immer noch nicht rasend ausgeprägt – wobei wenn, dann find ich die Griechen schon recht leiwand. Hekate zum Beispiel. Die war Göttin der Zauberkunst, aber auch der Wegkreuzungen. Eine Göttin der Wegkreuzungen, was sagt die wohl zu Niederösterreichs Kreisverkehren? Aber diese Feststellung, dass mein Wissen niemals absolut sein kann, das ließ mir die Schuppen von den Augen fallen. Dabei ist es ja nicht mal eine weltbewegende Erkenntnis – mein Weltbild erschütterte sie trotzdem nachhaltig.

Die Art, wie nicht nur faktische, sondern auch ethische Zugänge auf Social Media verhandelt werden, bereitet mir körperliches Unbehagen. Alle fallen wir reihenweise auf Fake News rein, aber alle sagen wir, nö, noch nie hätten wir eine falsche Nachricht für richtig gehalten. Wir hätten doch dieses eine Video gesehen oder jene Fotos. Auf Youtube, Telegram und Co. wird mir seit Beginn der Pandemie erklärt, es sei eine PLANdemie, die Impfung soll uns alle mit einem Chip versehen, und das alles, weil der Deep State mehr Macht über uns gewinnen will. Aber wenn ich mir Österreichs Innenpolitik so anschaue, all die Einzelfälle, all die verbalen Verstolperer, all die geleakten Strategieüberlegungen, die so banal sind, dass sie mich schon fast beleidigen: Einen Deep State traue ich unseren PolitikerInnen nicht zu. Dennoch gibt es Menschen, die völlig davon überzeugt sind und die das Gefühl haben zu WISSEN. Statt mit ihnen zu diskutieren und zu versuchen, ihnen klarzumachen, dass ihr Wunsch nach Wissen aus einer tiefsitzenden Zukunftsangst kommt, denke ich mir lieber:

Ich weiß, dass ich nichts weiß.

In Österreich steigt ein Baumeister zum Shootingstar auf. Baut Luxus-Kaufhäuser und -Hotels, umgibt sich mit den Reichen und Mächtigen, es wirkt, als ob die Politik nur auf seinen Zuruf wartet. Er querfinanziert die Projekte miteinander, und so nebenbei kauft er sich noch die Hälfte des Chrysler Buildings in Manhattan. Dann kommt ihm die Inflation in die Quere und sein gesamtes Finanz-Kartenhaus fällt in sich zusammen. Es kommt nach und nach raus, dass er einfach Monopoly gespielt hat – na klar, borgt eine Bank mir einfach so mal Milliarden, kauf ich mir auch die halbe Wiener Innenstadt. Es geht um unfassbare Milliardenbeträge, die er nun nicht mehr zahlen kann. Es kommt so nebenbei als Detail am Rande raus, dass er zwölf Millionen Umsatzsteuer nicht bezahlt hat – und ich kenne mich gar nicht mehr aus: Zahl ich mal meine paar Fetzen Umsatzsteuer im Quartal nicht, steht der Kuckuck vor der Tür, aber der Baumeistershootingstar schafft es, zwölf Millionen Euro gestundet zu bekommen? Das hat doch alles einen Haken. Aber welchen?

Ich weiß, dass ich nichts weiß.

Wie jedes Jahr sitze ich in Kroatien am Meer und genieße die Schönheit dieses Landes. Nach vielen Jahren kommt mir mal der Gedanke: Wie war das damals eigentlich, als Jugoslawien zerfiel? Ich beginne, mich intensiv damit auseinanderzusetzen, bin schockiert über die Grausamkeit, sehe bosnische Geflüchtete plötzlich mit anderen Augen. Nicht, dass ich sie vorher verurteilt oder abgelehnt hätte, denke ich mir jetzt: Die müssen ja alle immer noch bis unter die Haarwurzeln traumatisiert sein. Aber wie und warum sich plötzlich die Völker gegeneinander richteten, ich verstehe es nicht. Nationalstolz ist etwas, das mir nicht einleuchtet. Noch dazu, wenn es dazu führt, dass ich meinen Nachbarn erschieße. Aber welche Fäden da genau im Hintergrund gezogen wurden? So ganz klar wird es mir immer noch nicht.

Ich weiß, dass ich nichts weiß.

Weltweit demonstrieren Menschen für ein freies Palästina, weltweit wird auffällig gerne ausgelassen, was am 7. Oktober geschah, und dass ein freies Palästina nicht frei wäre, solange die Terrororganisation Hamas dort regiert. Menschen mit linken Überzeugungen solidarisieren sich mit Terroristen, mein Weltbild zerfällt vor meinen Augen. Die Diskussion läuft schwarz-weiß wie ein Palästinensertuch ab. In Gaza gibt es keine embedded Journalists, man kann sich nur auf Aussagen der Hamas beziehen. Regelmäßig widerlegen Luftaufnahmen ebenjene. Auf Social Media kursieren Bilder, die grausamer nicht sein könnten – den Kontext dazu müssen wir glauben. Opferzahlen werden behauptet und wieder korrigiert. Ich sehe die Grausamkeiten der Israelis, ich sehe die Grausamkeiten der Hamas, und ich kann nur denken: Auf beiden Seiten gibt es doch wohl bitte hundertprozentig Zivilisten, die einfach nur in Frieden miteinander leben wollen. Können wir bitte denen eine Stimme geben, anstatt KI-Bilder mit „All Eyes on Rafah“ zu teilen, deren Quelle – ein radikaler Israelhasser – wir nicht hinterfragen? Antiislamismus ist genauso beschissen wie Antisemitismus. Beides nicht ok. Aber auf den ach so aufgeklärten Unis weltweit wird der gesamte Konflikt komplett einseitig verhandelt. Ich fühle mich bei dem Thema massiv unwohl, ich will keinesfalls in Populismus reinkippen.

Was mir hilft:

Ich weiß nur, dass ich nichts weiß.

Hat er es also doch geschafft, der Sokrates. Nicht alter weißer, sondern alter weiser Mann! Hat mich in einen inneren Dialog verwickelt und mich dazu gebracht, etwas ganz Grundlegendes festzustellen. Deshalb hat er mich jahrelang über alle möglichen Marktplätze verfolgt! Ich bin mir nicht sicher, ob er sich jetzt ehrlich mit mir freut, oder auf seiner Wolke sitzt, den Kopf schüttelt und sich denkt „Na endlich hat sie es kapiert!“?

Ich weiß, dass ich nichts weiß.