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Interview: Klimaministerin LEONORE GEWESSLER

Christian Jandrisits

Das Büro der Klimaministerin Gewessler liegt im achten und obersten Stock in der Wiener Radetzkystraße. Vor uns am Tisch: Tee für die Ministerin, Wasser für mich. Und ein ­WIENER. Gewessler blättert ihn durch, fragt nach der ­Zielgruppe der Zeitschrift.

Interview: NUNU KALLER, Fotos: PETER M. MAYR, Ort: BUNDESMINISTERIUM FÜR KLIMASCHUTZ, UMWELT, ENERGIE, MOBILITÄT UND TECHNOLOGIE

… der Anspruch
kann nicht sein,
Politik auf die
Perfektion der
Einzelnen
auszulagern.

Leonore Gewessler

WIENER: Danke für’s Durchblättern. Der WIENER versteht sich als Zeitschrift für Zeitgeist – ein spannendes Wort. Was bedeutet Zeitgeist für Sie?
Gewessler: Zeitgeist. Ich würde sagen, Zeitgeist ist auf jeden Fall immer eine Annäherung. An politische oder gesellschaftliche Veränderung. Auf jeden Fall ist Zeitgeist dabei nichts statisches, sondern etwas, das sich entwickelt. Es muss auch nicht immer das sein, was die Mehrheit der Menschen teilt. Das ist eben das Wesen einer Annäherung. Aber wie definieren Sie Zeitgeist?

Leonore Gewessler beim WIENER Durchblättern …

WIENER: Ich muss zugeben, ich habe es mir auch noch nicht so genau durchüberlegt.
Gewessler: Schau, das ist jetzt lustig. Ich werde es dann gefragt.

WIENER: Es ist wohl ein Gespür dafür, was gerade in der Luft hängt.
Gewessler: Genau, es muss nicht eine Mehrheitsstimmung sein, sondern es ist gerade das, was vielleicht am Kommen ist, beginnt eine Mehrheitsstimmung zu werden.

WIENER: Im Job machen Sie gerade sehr viele Kompromisse – müssen Sie ja, rein politisch. Aber schaffen Sie es selbst dabei noch, das „gute Leben“ zu führen? Das war ja schon in der Vergangenheit oft Thema in Ihrer Arbeit, dieses gute Leben. Wie definieren Sie das eigentlich für sich selbst?
Gewessler: Da muss ich wieder mit einer Annäherung anfangen (lacht). In der Begrifflichkeit, wie ich es verwende, also politisch, da geht es darum, mit Klimapolitik, mit Umweltpolitik und ganz generell sicherzustellen, dass man noch ein gutes Leben haben kann.

WIENER: Ja, aber was IST das gute Leben?
Gewessler: Gutes Leben heißt, wir haben eine Form von Wohlstand, die sich nicht mehr nur durch Ausbeutung des Planeten und möglichst vieler Ressourcen definiert. Sondern, dass wir unser Leben gut, in Zufriedenheit und in einer materiellen Absicherung so führen können, dass wir mit dem einen Planeten, den wir haben, auskommen. Und zwar nicht nur wir im Westen, sondern alle Menschen auf diesem Planeten.
WIENER: Das war jetzt die Politikerinnen-Antwort. Aber was ist die ganz persönliche Antwort?
Gewessler: Natürlich spielt da auch die Frage mit, wieviel Zeit man für Dinge hat, die etwas anderes sind als Erwerbsarbeit. Wieviel Lebensqualität man hat, spielt da genauso eine Rolle wie materielle Absicherung. Ich habe zum Beispiel innerhalb dieser Definition ein Leben, das materiell sehr gut abgesichert ist, aber ich habe relativ wenig Zeit für irgendetwas anderes als den Job. Ich würde aber trotzdem sagen, ich führe ein gutes Leben, weil es ja auch ein großes Privileg ist, in der Rolle zu sein und Entscheidungen treffen zu können. Oder Kompromisse zu machen, wenn Sie es so wollen.

Leonore Gewessler und ihr Tee …

WIENER: Es ist halt ein merkbarer Seitenwechsel von der NGO-Vergangenheit – wo es rein um Fordern, Fordern, Fordern an die Politik geht – hin zum Kompromisse machen. Ich denke mir oft: Machen solche Kompromisse eigentlich Spaß?
Gewessler: Da haben Sie ein ziemlich negatives Bild von Kompro­missen. Fordern, Fordern, Fordern und am Ende passiert nichts heißt dann ja: Man erreicht nicht genug. Ich finde übrigens, dass das die Arbeit einer NGO auch nicht gute beschreibt. Aber ich bin jetzt in einer Position, wo ich Entscheidungen treffen kann, die Auswirkungen darauf haben, wie wir alle leben. Entscheidungen, die mit einer Verantwortung kommen, aber die auch ganz real etwas verändern. Und jeder Kompromiss bedeutet eben auch Veränderung in die richtige Richtung.

Sicherlich haben die Entscheidungen von Männern zu den Strukturen geführt, in denen wir jetzt leben. Aber wäre wirklich alles anders, hätten diese Entscheidungen Frauen getroffen?

Leonore Gewessler

WIENER: Und das macht glücklich?
Gewessler: Ja. Das ist etwas ­Besonderes und auch etwas Schönes! Ich mache den Job jetzt im vierten Jahr und ich mache ihn wirklich ­jeden Tag mit Freude. Ja, er ist anstrengend und er kommt mit einer großen Verantwortung – aber man darf sich vor der Verantwortung nicht fürchten oder sich von ihr einschüchtern lassen.

WIENER: Kommen wir zu einem anderen Thema. Sie haben vorhin nach der Zielgruppe des WIENER gefragt, und das sind bislang mehrheitlich Männer.
Gewessler: Ich habe das nicht vorausgesetzt, ich habe wirklich ­offen gefragt!

WIENER: Aber grundsätzlich haben viele den WIENER als Männermagazin im Kopf.
Gewessler: Ja, sicherlich, weil es ja auch die WIENERIN als Pendant dazu gibt.

WIENER: Gab. Leider. Jedenfalls: Es gibt ein recht spannendes Buch, das heißt „Was Männer kosten“. (Gewessler lacht) Da wird wirklich aufgerechnet: Männer verursachen das doppelte an Autounfällen im Vergleich zu Frauen, besetzten über 90 Prozent der Gefängnisplätze. Sind Männer das Problem?
Gewessler: Ich glaube, diese Fragestellung ist ein bisschen gar simplifiziert.

WIENER: Weiteres Beispiel: Das ganze Thema „Motorsport“. Überhaupt Motor. Es ist ja alles männlich konnotiert – von der Formel 1 bis zum eigenen Auto. Sind Männer also das Problem?
Gewessler: Da würden wir es uns ein bisschen zu einfach machen. Wir leben sicher nach wie vor in einer Welt, in der ein Großteil der Entscheidungen von Männern getroffen wird. Ich bin ja eine derjenigen, die dem entgegen ganz konkret versucht, Frauen und damit Vielfalt in Entscheidungspositionen zu bringen. Aber sicherlich haben die Entscheidungen von Männern in den letzten Jahrzehnten zu den Strukturen geführt, in denen wir jetzt leben, uns bewegen, Sport machen, und glauben, es ist Freizeit. In denen wir definieren, was ein cooles Auto ist und was nicht. Aber im Umkehrschluss müsste man dann die Aussage treffen können, dass alles anders wäre, hätten all diese Entscheidungen Frauen getroffen – und das würde ich mich nicht trauen zu sagen.

WIENER: Ich glaube, ich traue mich das schon zu sagen. Wenn man sich anschaut, wo Frauen Staaten führen, da fallen merklich andere Entscheidungen. Jacinda Ardern ist da ein gutes Beispiel.
Gewessler: Natürlich fällt uns die jetzt auf der positiven Seite ein, aber …

Leonore Gewessler: „Nur Männer zwischen 40 und 60 an den Entscheidungshebeln mit demselben Hintergrund, mehr oder weniger derselben Ausbildung und demselben Mindset, das ist sicher nicht das Erfolgsmodell für die Zukunft.“

WIENER: (unterbricht): Oder wie war das denn in Island? Wie sind die aus der Krise rausgekommen? Eine Frau wurde Premierministerin. Oder die EZB – da wurde Christine Lagarde in der Krise geholt. Ich habe schon den Eindruck: Große Krise – Frau übernimmt.
Gewessler: Ja, das stimmt. In letzter Zeit gibt es viele Fallbeispiele, wo eine Frau übernommen hat, als es happig und ernst wurde. Auf der anderen Seite, klimapolitisch gesehen: In Deutschland gab es 15 Jahre eine Umweltministerin, die dann ja auch Kanzlerin wurde, die nicht das getan hat, was wir uns von dieser Position erwarten. Oder denken wir an Margret Thatcher. Ich glaube auch da fällt die Bewertung etwas anders aus. Aber es stimmt auf jeden Fall: Nur Männer zwischen 40 und 60 an den Entscheidungshebeln mit demselben Hintergrund, mehr oder weniger derselben Ausbildung und demselben Mindset, das ist sicher nicht das Erfolgsmodell für die Zukunft.

Wenn du auf einer Weltklimakonferenz mit dem Minister aus Tuvalu redest, dann erzählt dir der,  sie überlegen sich ganz konkret, wohin siedeln sie ihre Menschen ab, wenn der Meeresspiegel steigt

Leonore Gewesner

WIENER: Gehen wir mal weg von den Entscheidungsträgern hin zur Sozialisierung – wie Männer und Frauen sozialisiert werden. Da ­haben rein statistisch – und auch klischeehaft – gesehen Männer die klimaschädlicheren Hobbies…. Wenn wir mal das Shopping weg­lassen (lacht).
Gewessler: Sie differenzieren ja schon in der eigenen Frage (lacht auch). Natürlich ist das Auto Symbol geworden für vieles – aber das ist die Wegwerfgesellschaft auch. Selbst wenn wir es schwarz/weiß sehen, gäbe es dann immer noch 50 Prozent der Menschen (also die Frauen), die im Alltag nur richtige Entscheidungen treffen würden: Etwa fahre ich mit dem Auto oder mit Öffis, wie fährt man in Urlaub, was esse ich. Wenn sie die Möglichkeit haben, diese Entscheidung im Alltag zu treffen – dann müsste ja die Welt trotzdem ein bisschen ­anders ausschauen, oder?

WIENER: Das stimmt.
Gewessler: Das hat ja in der ­Politikwissenschaft auch schon rein theoretisch nicht ganz geklappt, der Ökofeminismus als Klammer.

WIENER: UNO-Generalsekretär Antonio Guterres hat vor Kurzem gesagt, wir sind auf dem „Highway zur Klimahölle und mit dem Fuß auf dem Gaspedal“. Es sind ja die Auswirkungen der Klimaerwämung schon wirklich stark spürbar. Und es sieht eher nicht danach aus, dass wir das mit der Vollbremsung noch hinkriegen. Aber die Frage, die ich mir stelle: Geht es auf der politischen Bühne, national und international, wirklich nur um das Einbremsen, oder gibt es auch Überlegungen, wie man damit umgeht, wenn der Worst Case eintritt? Gibt es Konzepte, wie man wir mit dem Thema „Klimaflüchtlinge“ umgehen wird? Wie mit dem Thema der überhitzen Städte? Gibt es irgendeine Art von Plan B?
Gewessler: Es KANN keinen Plan B zum Plan A geben. Wenn wir uns anschauen, wie Klimawandelleugner arbeiten – die haben Strategien, um dem Handeln im Klimaschutz auszuweichen. Etwa: „Das ist kein menschengemachtes Problem und wir sind nicht daran schuld“. Oder: „Wir sind so klein, wir haben keinen Einfluss“ – und da kommt nun als zweiter Strang hinzu: „Es ist eh schon zu spät.“ Ich finde das einen wahnsinnig zynischen Diskurs, weil jedes Zehntel Grad macht einen Unterschied für Millionen Menschen auf dem Planeten. Und wie viel Fläche in Afrika unbewohnbar ist, das macht für viele, viele Menschen auf dem Planeten eine ganz konkreten Unterschied. Der Plan A muss immer sein, um jedes Zehntel Grad zu kämpfen.

Leonore Gewessler und Nunu Kaller beim Interview …

WIENER: Das stelle ich nicht in Frage. Aber ich glaube, dass wir diese Grenzen nicht mehr einhalten können. Gutes Beispiel ist, seit Jahren, seit Jahrzehnten gibt es die „Club of Rome“ Berichte, die sagen, wir haben noch 12 Jahre, wir haben noch 8 Jahre und es wurde immer weniger. Ich habe schon gewartet auf den Tag, wo es dann heißt „So, das war es jetzt. Es geht sich nicht mehr aus“. Und genau so eine Studie ist im vergangenen Sommer rausgekommen, die besagt, wir haben noch 300 Jahre und das wars dann. Und was macht der Club of Rome? Gibt Tipps, was der Einzelne beitragen kann. Da habe ich mir gedacht:
Echt jetzt?
Gewessler: Das geht in die falsche Richtung.

WIENER: Natürlich gibt es die Verantwortung Einzelner, aber es wird definitiv Reaktionen geben, es wird Betroffene geben…
Gewessler: Die gibt es ja jetzt schon.

WIENER: Ja, und die Frage ist, gibt es da wirklich schon ein politisches Vorbereiten auf diese Situationen?
Gewessler: Gibt es schon. Zum Beispiel hier in Wien gibt es relativ viel Arbeit zur Klimawandelanpassung. Auswirkungen gibt es ja jetzt schon. In Hitzewellen gibt es auch hier in Europa schon alte Menschen, die sich nicht mehr auf die Straße trauen, weil die Straßen zu heiß werden, es keine Aufenthaltsqualität, keinen Schatten und keine Sitzgelegenheiten gibt. Natürlich ist dann die Frage der Anpassung an die Folgen der Klimakrise, die man nicht mehr vermeiden kann, das, was uns beschäftigt. Im globalen Norden wird die Frage nach der Kühlung unserer Häuser für viele in einer Art und Weise relevant, die wir bis jetzt überhaupt nicht bedacht haben, im globalen Süden wird es um viel Existenzielleres gehen.

WIENER: Was ist mit Flucht­bewegungen?
Gewessler: Wenn du auf einer Weltklimakonferenz bist und mit dem Minister aus Tuvalu redest, dann erzählt dir der, sie überlegen sich ganz konkret, wohin siedeln sie ihre Menschen ab, wenn der Meeresspiegel steigt. Also die haben schon einen ganz anderen Druck. Es werden viele Themen im Bereich Anpassung an die Krise schon in den unterschiedlichsten Foren diskutiert. Fluchtbewegungen zum Beispiel bedeuten ja auch politische Instabilität. In ganz vielen Risikoanalysen kommt das Scheitern in der Klimakrise als einer der zentralen Risikofaktoren für globale Sicherheit raus. Es ist in der Analyse also klar, dass Dinge dagegen getan werden müssen. Aber es darf nicht dazu führen, dass wir den Fokus darauf verlieren, um jedes Zehntel Grad zu kämpfen.

 Unser Anspruch an ein gutes Leben oder den Klimaschutz kann ja nicht sein, vom Einzelnen immer und überall die perfekte Entscheidung zu erwarten, noch dazu in bestehenden Strukturen.

Leonore Gewesner

WIENER: Wir stellen diesen Kampf nicht in Frage…
Gewessler: … das weiß ich schon. Es ist aber schon dieses Abwägen gefährlich, sonst kommen wir noch in eine Situation, in der wir uns gar nicht mehr anpassen können. Nicht nur in Afrika, auch bei uns. Der Wintertourismus kann sich bei vier Grad Erwärmung auch nicht mehr anpassen. Man muss beide Seiten im Blick haben, gerade jetzt, wo das 1,5-Grad-Ziel noch im Bereich des Schaffbaren ist. Ich finde es sehr beeindruckend, wie stark Guterres das ausgedrückt hat.

WIENER: „Ja, aber ist es überhaupt die Aufgabe des Ministeriums, dem/r Einzelnen „vorzuschreiben“ tu den Deckel drauf beim Kochen, oder dusch kürzer?“

WIENER: Kommen wir zum Thema Verantwortung. Vor zehn Jahren galt der Stehsatz „Mit deiner Geldbörse hast du die Macht, du entscheidest, wo dein Geld hingeht“, aus heutiger Sicht ist das allerdings eine sehr neoliberale Erzählung, weil ganz andere Hebel am Wirken sind, bei denen einzelne KonsumentInnen sehr wenig machen können.
Gewessler: Mit der Geldbörse vielleicht nicht, aber mit der Stimme können sie was tun.

WIENER: Wie stehen Sie eigentlich zu dem Stehsatz „Es fängt bei dir selbst an?“
Gewessler: Auch das ist für mich keine Frage von schwarz oder weiß. Es gibt ja Umweltkrisen, die haben wir gemeinsam in den Griff gekriegt. Zum Beispiel der Saure Regen oder das Ozonloch: Da haben wir uns als Weltgemeinschaft darauf geeinigt, an die Ursachen zu gehen, und das hat funktioniert. Die Klimakrise ist noch einen Tick komplexer, weil sie auf ganz vielen Ebenen und gleichsam in allen Sektoren Auswirkungen hat und auch unser gutes Leben angreift. Natürlich haben Entscheidungen, etwa wie wir Einzelne uns kleiden, fortbewegen oder ernähren Auswirkungen. Aber wir tun das innerhalb von Strukturen, die von anderen geprägt wurden. Ich kann mich in Sankt Marein bei Graz, wo ich herkomme, um zehn Uhr am Vormittag nicht entscheiden, mich in den Bus nach Graz zu setzen, weil da gibt es einfach keinen Bus nach Graz. Aber ich kann mich entscheiden, ob ich in der Früh und am Abend einen Bus nehme, oder mit dem Auto pendle. Ich bin genau deshalb in die Politik gegangen, weil die Frage, wie Einzelne es lösen können, einfach zu kurz greift. Innerhalb der Strukturen kann ich als Einzelne noch entscheiden – aber grad mit geringerem Einkommen auch nicht immer frei. Hier liegt die Grenze der Einzelentscheidung, und deshalb sage ich eigentlich ganz oft auf die Frage „Was kann der Einzelne tun?“, dass der oder die Einzelne aktiv werden soll, die Stimme erheben und sich auch engagieren.

WIENER: Es haben ja diese einzelnen Entscheidungen auch Grenzen, und es geht ja wirklich total ins Detail. Beispiel: Ich war letztens am Samstagnachmittag im Supermarkt. Im Blumenkübel waren noch drei Blumensträuße, mit einem „-50%“-Pickerl drauf, und es war klar: Wenn die nicht in der nächsten Stunde verkauft werden, werden sie weggeschmissen. Allerdings sind Schnittblumen CO2-technisch das mieseste Produkt, das man im Supermarkt überhaupt kaufen kann, schlimmer als Fleisch. Ich habe mir dann einen Strauß gekauft und wurde von einer Freundin gefragt, ob ich wahnsinnig bin, weil das so unökologisch sei und ich würde damit das System der Supermärkte, weiterhin Schnittblumen anzubieten, unterstützen. Ich hab’ dagegengehalten, dass der Supermarkt damit fix keinen Gewinn mehr macht, ich also diese Blumen davor bewahrt habe, weggeschmissen zu werden – und ich hab mich an den Blumen erfreut, ganz hedonistisch. Wie hätten Sie gehandelt? Blumen gekauft?

Gewessler: Also zunächst Mal find ich ich es absurd, dass wir von Menschen erwarten,
jede einzelne Entscheidung in ihrer Alltagsbewältigung so von vorne bis hinten durchzudenken. Natürlich ist die Frage erstmal: Wie konnte es soweit kommen, dass es selbstverständlich geworden ist, das ganze Jahr über im Supermarkt frisch geschnittene Tulpen zu bekommen. Aber um auf Ihre Geschichte zurückzukommen: Ich denke, samstags um 16 Uhr wäre ich geneigt, die Blumen zu kaufen, bevor sie weggehaut werden – auch wenn ich persönlich nie Schnittblumen kaufe. Aber unser Anspruch an ein gutes Leben oder den Klimaschutz kann ja nicht sein, vom Einzelnen immer und überall die perfekte Entscheidung zu erwarten, noch dazu in bestehenden Strukturen. So schwierig das ist, man muss das Rundherum verändern. Auch wenn das Kompromisse erfordert.

Leonore Gewessler/Staatsmännin …

WIENER: Was kann ich dann also als Einzelne beitragen?
Gewessler: Wir leben in einer Demokratie – das ist gut so und nichts anderes wollen wir -, die darauf aufbaut, dass man Mehrheiten findet für Veränderungen. Und insofern denke ich mir schon, dass jede/r Einzelne auch die Möglichkeit hat, eine Stimme zu sein für die Veränderung. Wir sehen es ja auch bei Fridays for Future. Natürlich wird jetzt nicht jede/r von uns eine weltweite soziale Bewegung gründen, aber die Geschichte hat gezeigt: Es ist niemand zu klein, zu unwichtig, zu allein, um nicht einen riesigen Unterschied zu machen, selbst wenn dieser Unterschied „nur“ darin besteht, im Umfeld darüber zu reden und Menschen mitzureißen. Veränderung beginnt im Kleinen. Doch ich merke auch bei mir öfter: Der Anspruch, dass man dann auch als Einzelne Perfektion vorlebt, ist ein sehr schwieriger Spagat.

Bei der „Deckel drauf“-Kampagne ging es darum, welchen Beitrag jede/r Einzelne leisten kann, um Unmittelbares  und eben  nicht um „dämme die oberste Geschossdecke und bau deine Heizung aus“.

Leonore Gewesner

WIENER: Sie stehen da ja besonders im Scheinwerferlicht.
Gewessler: Das ist auch okay so. Ich bemühe mich persönlich vor­zuleben, was ich politisch tun will. Aber der Anspruch kann nicht sein, Politik auf die Perfektion der Einzelnen auszulagern. Das geht sich nicht aus.

WIENER: Gutes Stichwort. Ich habe mich bissl über die „Tu-den-Deckel-drauf-beim-Wasserkochen“-Kampagne gewundert. Wieso wurde mir das von einem Ministerium erklärt, das eigentlich auf ganz anderer Ebene arbeiten sollte?
Gewessler: Es ist ja kein Entweder-Oder. Wir machen ja parallel dazu das Energieeffizenzgesetz, wir machen parallel dazu die Gebäudestandards auf EU-Ebene.

WIENER: Ja, aber ist es überhaupt die Aufgabe des Ministeriums, dem/r Einzelnen „vorzuschreiben“ tu den Deckel drauf beim Kochen, oder dusch kürzer?
Gewessler: Wir waren in einer Situation, in der es darum ging, unmittelbar und sofort das zu tun, was wir die letzten Jahre über zu wenig getan hatten: Nämlich sorgsam mit Energie umzugehen. Wir hatten einfach einen Engpass, Schwierigkeiten weltweit und in Europa. Auch in Österreich war es eine angespannte Situation, ob wir überhaupt genug Energie haben würden – und das Sparen der Einzelnen ist da ein ­riesiger Beitrag.

WIENER: Die Tipps „Deckel drauf“ und „Kürzer Duschen“ wirkten nicht nur auf mich wie eine seltsame Form der Bevormundung durch das Ministerium.
Gewessler: Wir haben ja nicht einfach irgendwas gesagt, was mir gerade eingefallen ist. Wir haben uns genau angeschaut, welche Mög­lichkeiten jede/r Einzelne hat, wirklich einen Beitrag zu leisten. Da ging es uns eben nicht um „dämme die oberste Geschossdecke und bau deine Heizung aus“, sondern um Unmittelbares. Die Vorschläge der Energieagentur sind dann in die Kampagne geflossen. Wichtig war uns die Anschlussfähigkeit und nicht mit dem erhobenem Zeige­finger daherzukommen. Klar ist diese Art von Information nicht die eigentliche Aufgabe des Ministeriums, aber die Situation im Herbst war schon ein Ausnahmefall. Und ich würde die Kritik an der Kam­pagne auch verstehen, würden wir nichts anderes machen. Aber wir machen parallel ja das Energie­effizienzgesetz und Förderungen, wo Unternehmen zum Energie­sparen verpflichtet werden. Man kann es auch positiv sehen: Es ­wurde überhaupt noch nie so viel übers Energiesparen diskutiert wie im Zusammenhang mit dieser ­Kampagne. Und ich bleib dabei:
Es macht einen Unterschied.

WIENER: Der Ostbahn Kurti und die Birgit Denk haben beide immer gesagt: Spiel am Ende des Konzerts ein trauriges Lied, dann eskalieren dir die Leut nicht danach. Nicht, dass ich davon ausgehe, dass es jetzt Randale im Klimaministerium gibt, aber trotzdem möchte ich eine ­traurige Frage stellen: Was ist das Worst-Case-Szenario in Sachen ­Klima, von dem Sie ausgehen? Was haben Sie im Kopf, wo Sie dann ­sagen: Das möchte ich nicht, da kämpfe ich dagegen an?
Gewessler: Also mich motiviert eher eine positive Vision dazu, jeden Tag wieder die dicken Bretter zu bohren. Ich sage es eh sehr oft öffentlich – da drüben sind die Fotos meiner beiden Nichten, sie sind beide Teenager. Die sollen, wenn sie so alt sind wie ich – und jetzt komm ich wieder zum Beginn des Gesprächs – ein gutes Leben führen können in Österreich. Die sollen sich keine Sorgen machen müssen, von Naturextremen heimgesucht zu werden.

Leonore Gewessler

WIENER: Welches Bild haben Sie im Kopf, wenn sie vom „Heim­suchung durch Naturextreme“ sprechen?
Gewessler: Bilder von Trockenheit, von Murenabgängen, von sonst was, die gibt es ja zu Hauf. Aber wirklich: Ich motiviere mich nicht über das, was es zu verhindern gilt, sondern über das, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Das ist wirklich sehr eindeutig bei mir. Natürlich gibt es die Notwendigkeit, drohende Kata­strophen wie etwa 50 Grad untertags als Dauerzustand in einigen afrikanischen Gegenden, zu benennen. Aber die Frage ist doch: Wie kriegen wir Menschen dazu Dinge zu verändern. Und jetzt muss ich fragen: Was meinten Sie vorher mit Eskalation? Ich frage mich gerade, warum etwas eskalieren sollte, wenn man mit einer positiven ­Nachricht aufhört …?

WIENER: Das ist eine alte Musikerweisheit: Schick die Leute nicht raus mit einer Nummer, wo du ihnen einheizt, weil dann gibt es an der Bar Eskalation und dann wird die Party wild. Schick sie in einer ruhigen, ­besonnenen Stimmung raus.
Gewessler: Lustig. Ich werde beim nächsten Konzert – na gut,
wann war ich zuletzt auf einem Konzert, das darf ich gar nicht ­sagen …

WIENER: Ja, gell, das gute Leben und so… (Beide lachen)

Leonore Gewessler 

Die 1977 in Graz ­geborene Leonore Gewessler ist studierte Politikwissenschaftlerin. Ihre berufliche Laufbahn führte sie von der Bezirksvorstehung in 1070 Wien über eine mehrjährige Zwischenstation in Brüssel, wo sie Gründungsdirektorin der Green European Foundation war, und die Geschäftsführung der Umweltschutzorganisation GLOBAL 2000 letztendlich zu den Grünen, wo sie seit der Nationalratswahl 2019 das Amt der Ministerin für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie innehat. Nicht nur ihr ­Lebenslauf zeigt: Umwelt- und Klimaschutz sind sehr deutlich intrinsische Motivation bei ihr – Wege in Wien legt sie meistens mit dem Fahrrad ­zurück. An ihren ­wenigen freien ­Tagen ist sie meist mit Ehemann Herbert Greisberger, der die Energieagentur Nieder­österreich leitet, beim Wandern zu finden. Dass die ­beiden sich aus­gerechnet im Flugzeug kennengelernt ­haben, sieht Gewessler mit ­Humor: „Niemand ist perfekt und das ist auch nicht der ­Anspruch.“