Interview
Kaleen: „Ich kann ziemlich stur sein.“
Bis zu ihrer Nominierung als österreichischer Beitrag für den Eurovisions Song Contest 2024 war Kaleen als Pop-Act kaum bekannt, Marie-Sophie Kreissl hingegen kannte man bereits aus Funk und Fernsehen. Die Oberösterreicherin trat in den letzten Jahren recht oft als Tänzerin und Choreographin für große TV-Shows in Erscheinung. Mit ihrem musikalischen Alter-Ego hat die 29jährige nun vor allem als Hauptact große Pläne, weit über Malmö und den 9. Mai hinaus. Im Gespräch mit dem WIENER gewährt sie Einblicke in die Entstehungsgeschichte von Kaleen. Und warum sich diese gemessen am aktuellen Zeitgeist eher untypisch präsentiert.
Interview: Franz J. Sauer / Fotos: Rankin
WIENER: Wer bei Kaleen ein bisschen hinter die Kulissen blickt, stößt sehr bald auf einen ziemlich musikalischen, familiären Background, aus dem die Tänzerin und Choreographin Marie-Sophie stammt.
Kaleen: Meine Großmutter hat ein paar Schlager geschrieben, mein Vater hat in Oberösterreich ein Tonstudio betrieben, eine Reggae-Band gehabt, die „Buccaneers“, die waren auch mit Hans Söllner auf Tour. Er hat aber auch produziert und komponiert und getextet im Schlager- und Volksmusikbereich. Das war die große Zeit des Grand Prix der Volksmusik, da war er vorn dabei. Und ich bin schon als kleines Mädel, wenn ich aus dem Kindergarten kam, im Tonstudio rumgehüpft, hab auf die Trommeln geklopft oder am Klavier geklimpert. Und ich konnte so laut sein, wie ich wollte, weil da war ja alles schallisoliert …
Da war es also nur naheliegend, auch gleich ein Instrument zu erlernen.
Gar nicht. Im Gegenteil. Dafür hab ich mich nie interessiert. Es war zwar alles da, aber gezeigt, wie man darauf spielt, hat mir niemand. Dafür erhielt ich mit zwei Jahren das erste Mal Balettunterricht …
Aber gesungen haben Sie schon mit Ihrem Vater?
Zum Spaß andauernd, es gibt Fotos und auch Aufnahmen, wo ich als Achtjährige mit meinem Vater und meiner Mutter gemeinsam das Bilderbuch aufsinge …
Eine schöne Schlagzeile: Mit acht Jahren sang ich gemeinsam mit Bilderbuch …
(lacht) … mit EINEM Bilderbuch, nicht mit Bilderbuch. Nein, Spaß beiseite. Singen und Trällern und mitsingen – immer gerne und aus Freude. Aber richtig ernst gemeint habe ich es mit dem Tanzen.
Bleiben wir noch bei der Musik. War es nicht naheliegend, daß die kleine Marie-Sophie auch mit der Volksmusik anfängt, Schlagersängerin wird?
Sagen wir so – bis ich acht oder zehn Jahre alt war wußte ich gar nicht, dass es auch noch andere Musik gibt. Der Funke ist aber nie so richtig übergesprungen und der Vater hat da auch nie Druck gemacht oder so. Alles so richtig anders wurde erst in der großen „Britney Spears“-Phase. Tanzen stand da ja schon ziemlich hoch im Kurs bei mir und es war völlig klar, dass ich bei all den MTV-Videos die Original-Choreos nachgetanzt habe. Je aufwändiger die Choreo, desto mehr hat mir der Song getaugt.
Also Tanz als Hauptact. Welche Stilrichtung?
Beim Tanzen habe ich mich noch weniger spezialisiert als bei der Musik. In der Früh war Balettstunde, am Nachmittag dann Breakdance-Unterricht und dazwischen kam die private MTV-Weiterbildung mnit Britney. Und die ersten Songtexte, die ich mir selber geschrieben hab …
Auf Deutsch?
Ja, das wurde mir seitens der Familie und vom näheren Umfeld empfohlen: Schreib doch auf Deutsch, Schlager, Volksmusik, das könnte doch funktionieren, geht auf jeden Fall schneller mit dem Erfolg in Österreich. Aber ich hab immer schon Texte auf Englisch geschrieben. englisch gedacht, englisch gesungen, englisch gereimt. Teilweise habe ich versucht, meine Songs auf Deutsch zu übersetzen, aber das hat null funktioniert. Obwohl ich aus Österreich bin, finde ich es für mich authentischer, wenn ich auf Englisch singe.
Also dann doch wieder weg vom Tanz hin zum Gesang?
Das ist parallel gelaufen. Beim Tanzen war ich recht schnell sehr gut, auch auf internationalem Niveau, schon mit fünf hab ich meine erste Tanz-Meisterschaft gewonnen. Mit 19 war ich dann im Finale von „Got to Dance“ bei ProSieben, insgesamt habe ich mehr als 100 Staats- und Europameisterschaften in so ziemlich allen Tanzstilen gewonnen. Vor etwa fünf Jahren hab ich dann als Choreographin und Stage Director bei Starmania angefangen, aber da war die Sache mit dem Singen auch schon beschlossene Sache.
Wie kam das in die Gänge?
Klar war immer: Ich will auf der Bühne stehen, singen und performen. Allerdings nicht als Tänzerin bei DJ Ötzi oder so, sondern als Solokünstlerin, erste Reihe. In meinem Stil, in meinem Outfit, mit meinem Sound, meiner Choreo, ich wollte selbst entscheiden, welchen Lippenstift ich auf der Bühne auftrage. Die Texte hatte ich ja schon, aber noch keine Songs dazu. Also habe ich damit begonnen, mich mit Songwriting zu beschäftigen. Die Grundregeln lernen, mich mit Recording vertraut machen, mit Musiktheorie, herausfinden, was geht und was nicht geht, learning by doing. Mit der Zeit habe ich dann Schritt für Schritt eine, meine musikalische Identität entwickelt.
Der krasse Gegenentwurf zum allseits beliebten Modell der Keller-Proberaum-Band, die sich in Clubs und Cafés die Finger wundspielt und irgendwann entdeckt wird. Ihr Vater hat Sie dabei nicht unterstützt?
Der hat mir als kleines Mädel einmal gezeigt, wie ich bei ihm am Computer auf „ProTools“ meine Stimme aufnehmen kann. Aber als ich ernsthaft begonnen habe, war er schon weg aus dem Musik-Biz. Abgesehen davon: Meine musikalischen Interessen waren sowieso ganz woanders angesiedelt als die seinen. Und heute arbeite ich auf LOGIC …
Sie machen „Dance-Pop“, weiß Wikipedia, und das auf Englisch, ausgerechnet in Österreich, in Ö3-Hausen. War da nie der Gedanke daran, auszuwandern? Irgendwohin, wo man es einfacher hat mit Ihrer Art von Musik?
Und wo wäre das gewesen?
Hm, gefühlt so ziemlich überall. Berlin, London, New York, Los Angeles …
Ich weiß nicht, dazu war ich bereits viel zu sehr in Österreich verwurzelt. Ich meine, du hast ja auch keine Garantie, dass du Erfolg hast, nur weil du nach London gehst. Es gibt genug Beispiele von Musikerinnen und Musikern, die wieder zurückgekommen sind, weil sie in der großen, weiten Welt eben auch nur eine oder einer von vielen waren und sich nicht zurechtgefunden haben. Ich habe über ein Songwriting-Camp, das ich besucht habe, Kontakte zu Schweden geknüpft, dort habe ich dann auch mit einem Produzenten-Team meine ersten Songs aufgenommen und vier Singles produziert. Das nächste Ziel war, ein Album zu machen und da habe ich mir die entsprechenden Leute über „Fiverr“ zusammengekratzt. Die Videos habe ich selbst aufgenommen und geschnitten, dann auf Youtube hochgeladen.
Wäre es nicht einfacher gewesen, von Anfang an mit einem erfahrenen Produzenten oder Songwriter zusammenzuarbeiten?
Dazu haben mir einerseits die Kontakte gefehlt, andererseits weiß ich nicht, ob das mit meinen doch sehr konkreten Vorstellungen, was wie zu klingen oder auszusehen hat, gematcht hätte. Ich kann sehr stur sein. Und lass mir ungern dreinreden.
Die Club und Bar-Phase haben Sie also bewußt übersprungen, auch als Solo-Act …
Ich habe Kaleen als Projekt immer auf der großen Bühne gesehen, auch wenn das jetzt vielleicht etwas überheblich klingt. Aber mit meinen Songs zu Playback in irgendeiner Bar oder einem kleinen Club auftreten? Das hätte nicht funktioniert. Daher war der ESC auch früh erklärtes Ziel für mich und mein Team. Eine größere Bühne für die Musik, die ich mache und lebe, gibt es nicht. Daher bin ich auch extrem froh, dass wir diese Chance jetzt bekommen haben. Wir sind uns auch durchaus bewußt, dass man diese Chance nur einmal bekommt. Also spielen wir die Song-Contest-Karte jetzt so intensiv, wie möglich aus, als wie wenn wir auf jeden Fall gewinnen würden. Und wenn wir Letzter werden, dann haben wir hoffentlich trotzdem genug Menschen auf Kaleen aufmerksam gemacht, um daran anzuknüpfen
So wie Sie das beschreiben, wurde das Projekt Kaleen von A bis Z generalstabsmäßig aufgezogen. Da wird nichts dem Zufall überlassen. Vom Songwriting über die Videos und das Outfit bis hin zur Choreografie … nebenbei: woher kommt eigentlich der Name?
Ganz einfach: Als ich daheim gemeinsam mit meinen Teenie-Freundinnen irgendwelche Castingshows nachgespielt habe, da war die eine die Lucy, die andere war die Sarah und ich war immer schon die Kaleen …
Das leuchtet ein. Bitte erlauben Sie uns eine sehr konkrete Frage zum Styling von Kaleen. Wenn man Ihre Videos ansieht, ihre Bühnenoutfits, ihre Moves, ihre Choreographie, dann zieht sich eine ganz bestimmte Emotion wie ein roter Faden durch alle Bereiche: Erotik. Kaleen ist eine selbstbewußte Frau mit einer gehörigen Portion Sex-Appeal, die auch nicht damit geizt, diesen zu präsentieren. Ist das nicht ein bisschen antagonistisch, wenn man den diesbezüglich vorherrschenden Zeitgeist betrachtet?
Vor meiner ersten Debut-Single, die wir 2021 herausgebracht haben, da hab ich mir sehr dezidiert und eingehend Gedanken darüber gemacht, welche drei Eigenschaften Kaleen am besten beschreiben, oder, eigentlich: ausmachen sollen. Heraus kam: Positivität, Selbstbewußtsein und Sexyness. Mit diesen drei Attributen hab ich mich auch als Tänzerin immer am wohlsten gefühlt auf der Bühne. Und zwar nie aus der Überlegung heraus, irgendjemanden provozieren zu wollen, oder besonders aufzufallen. Sondern einfach nur, weil ich mich so am wohlsten fühle. Da war schnell klar, dass ich auch als Sängerin diesen Style leben will.
Nun bringen Sie diesen Auftritt gut rüber, Sie sehen toll aus und haben ein dementsprechendes Auftreten …
(lacht) …. danke …
… freut uns, wenn Sie das als Kompliment verstehen. Tatsächlich meinen wir es pragmatisch. Wenn sich eine junge Künstlerin anno 2024 sexy und erotisch kleidet, steht sie schnell unter dem Verdacht, dies nur zu tun, um dem männlichen Publikum zu gefallen und dadurch quasi „falsche“ Aufmerksamkeit für ihre Musik zu generieren. Betrachtet man andere junge Pop-Acts heutzutage, herrscht da ja allgemein eher der Trend zu Turnschuhen, Jeans und T-Shirt vor.
Im Pop-Bereich ist das vielleicht so. Aber beim Dance-Pop, in meiner Musik, sind sexy Outfits keine Seltenheit. Sehr wichtig ist für mich, eine klare Grenze zu ziehen, was geht noch und was geht zu weit. Wenn es ins Pornöse abgleitet, nur noch provokativ rüberkommt und unter die Gürtellinie zielt, dann ist es nicht meins. Ich meine, jeder und jede wie er oder sie glaubt, aber zu Kaleen würde es nicht passen. Vielleicht in einem ganz bestimmten Setting, bei einem Fotoshoot, in einem Latex-Outfit, was weiß ich. Aber wenn mein Bühnenoutfit so aussieht, wie wenn man gerade Pornhub aufgemacht hat, dann schießt das über das Ziel hinaus. Ebenso wie es übrigens nicht passen würde, wenn Kaleen in Hoodie und Baggie-Pants auf die Bühne kommt.
Würden Sie sagen, die Erotik im Pop-Biz wird generell von patriarchal geprägten Sachzwängen vorgegeben?
Dieser Gedanke wäre mir bislang nicht gekommen. Es würde für mich auch keinen Sinn machen, mich nach gesellschaftlichen Vorgaben zu stylen. Wenn ich auf der Bühne etwas anziehe, was mir nicht liegt, worin ich mich nicht wohlfühle, kann ich mich nicht selbstbewußt präsentieren. Das war beim Tanzen so und ist auch beim Singen nicht anders.
Leider zeichnen sich Männer nicht immer durch verständnisvolles oder vornehmes Verhalten aus, wenn sie einem Wesen wie Kaleen begegnen.
Wenn ich seltsame Reaktionen darauf ernte, mit engen Kleidern oder High Heels aufzutreten, dann haben diese Reaktionen meist damit zu tun, wie die Menschen selbst gestrickt sind. Ich glaube nicht, dass Menschen, die auf mich und darauf, wie ich mich kleide, seltsam reagieren, tatsächlich ein Problem mit mir oder Kaleen haben. Sondern eher damit schwer umgehen können, dass sich jemand anderer in so einem Outfit tatsächlich wohlfühlt.
Haben Sie diesbezüglich auch schon schlechte, unangenehme Erfahrungen gemacht?
Bislang noch nicht, in Wien schon gar nicht. International auch nicht. Momentan bin ich sehr viel unterwegs, reise im Tagesrythmus von Stadt zu Stadt und dabei muss man natürlich auch auf die Sicherheit achten, eben dafür sorgen, dass man nicht in ungute Situationen gerät, vor allem wenn man wo ist, wo man sich nicht auskennt. Aber bis jetzt gab es da nie bedenkliche Situationen, nicht mal im Ansatz. Ich fände es schade, wenn das irgendwann nicht mehr möglich wäre, so öffentlich aufzutreten, wie man sich wohlfühlt und wie man sich zeigen will.
Und wenn es irgendwann so wäre?
(denkt lange nach): Dann freue ich mich, dass die Kaleen so auf der Bühne stehen kann und nicht auf die Straße raus muss.