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Archiv 2012: Friedrich Orter – Mehr Glück als Verstand

Jakob Stantejsky

30 Jahre berichtete Friedrich Orter für den ORF aus internationalen Krisengebieten. Jetzt ist er in Pension gegangen und erzählt uns, warum er nicht als „Kriegsberichterstatter“ bezeichnet werden will.

Interview: Georg Biron / Fotos: David Payr

Und? Mit 63 in Pension. Den Schreibtisch am ORF Küniglberg geräumt. Das war’s jetzt?
Ja. Das war’s. Ich habe mich verändert. Der Tod meiner Frau hat mich aus der Bahn geworfen. Ich war mit Roswitha 38 Jahre verheiratet, 40 Jahre mit ihr zusammen. Das lässt sich nicht einfach wegwischen. Ich war an ihrem ersten Todestag in Syrien und habe von dort berichtet. Das ist mir sehr schwer gefallen. Ich brauche jetzt einmal ein bisschen Ruhe und muss mich neu aufstellen. Vielleicht schreibe ich ein Buch über 100 Jahre Sarajewo. Von 1914 bis 2014.

Wer wird in Zukunft ihren Job beim OrF machen?
Das weiß ich nicht. Es wird ja auch beim ORF an allen Ecken und Enden gespart. Seit dem Balkankrieg gab es für mich zum Beispiel keine Gefahrenzulage mehr. Früher konnte ich jeden Monat zweimal herumreisen. Das ist heute nicht mehr zu finanzieren. Die Sender und Zeitungen müssen sparen. Viele nehmen nur noch Bildmaterial von Agenturen. Deshalb kann man durch 100 Kanäle zappen und sieht immer dasselbe. Ich bin zuletzt mit 10.000 US-Dollar Spesengeld in den Irak gefahren. Man braucht dieses Geld vor Ort, um einheimische Fahrer, Dolmetscher, Kameraleute oder auch Bodyguards zu bezahlen, aber die europäischen Reporter haben es schwer, in einem Krieg gute Leute zu engagieren, wenn die Kollegen von CNN mit einem Koffer voller Bargeld anreisen und Höchstpreise bezahlen. Nur noch große TV-Stationen schicken mehrere Korrespondenten in eine Region. Die Möglichkeiten für die Reporter sind in den letzten Jahren insge- samt kleiner geworden. Das läuft inzwischen ja so, dass Regierungen und Militärs bestimmen, von wo man berichten darf und von wo nicht. Reporter, die sich nicht daran halten, bezahlen das oft mit ihrem Leben.

Wer das Geld hat, schafft an. liegt es daran, wenn in den Abendnachrichten alle Sender nur über ganz bestimmte Krisen berichten und andere Konflikte ausblenden?
Die Nachrichten sind ein Geschäft, die ,Katastrophenkarawanen‘ ziehen von einer Krisenregion zur
nächsten und schicken ihre Berichte nach Hause. Und alle Medien schauen nur in eine Richtung. In den 1990er Jahren war das der Balkan, dann war es Tadschikistan, später der Irak und so weiter. Das Gefährliche dabei ist aber, dass alle nur über ein und das selbe Ereignis berichten. Aber es gibt noch Hunderte andere Krisengebiete zur gleichen Zeit auf der Welt. Die sind aber für die Sender nicht interessant. Wenn Fernsehstationen rund um die Uhr Nachrichten bringen, bleibt nur wenig Zeit für die Recherchen. Man schaltet zum Reporter vor Ort, aber der weiß oft weniger als die Redakteure im Senderbüro, die Berichte von Agenturen gelesen haben. Durch neue Technologien sind die Produktionskosten für TV-Berichte gesunken. Facebook und Twitter sind wichtig geworden. Aber die Arbeit echter Reporter kann dadurch nicht ersetzt werden. Ich bin davon überzeugt, dass manche Bilder, die angeblich aus Syrien stammen, alte Bilder aus anderen Ländern waren. Deshalb ist es weiterhin nötig, Reporter auszuschicken. Wir müssen nicht objektiv sein, wir müssen ehrlich sein. Wenn Sie da draußen sind, dann können Sie nur den Ausschnitt zeigen, den Sie erleben, einen Mosaikstein. Das Gesamtbild muss die Redaktion zusammensetzen. Das ist die Wahrheitssuche.

Wie gehen die Kollegen in dieser „Katastrophenkarawane“ miteinander um?
Man kennt die Kollegen und weiß ganz genau, wer ein Schlitzohr ist. Wenn man miteinander, wie zum Beispiel in Bosnien, gemeinsam in Kellerlöchern wohnt, ohne Wasser und ohne Klo, und in denselben Topf scheißt, das verbindet. Es gibt Narren, die sind immer bewaffnet unterwegs. Und es gibt den legendären John Simpson von der BBC. Der hat immer sein Morphiumfläschchen dabei. Ich hatte nur Mullbinden und Wundsalben und Medikamente gegen Durchfall.

Sie wollten nie als „Kriegsberichterstatter“ bezeichnet werden. Warum?
In den großen Weltkriegen war Kriegsberichterstattung vor allem Propagandaarbeit für die eine oder andere Seite. Mir ist der Begriff „Friedensberichterstattung“ immer lieber gewesen. Mich hat nie interessiert, wie eine Rakete abgeschossen wird, sondern welche Folgen das hat. Mich haben die Verletzten, die Toten, die Flüchtlinge, das Leid der Kinder immer mehr interessiert als irgendwelche militärischen Strategien. Ich habe den Journalismus nie als Beruf gesehen, sondern als Berufung. Ich wollte nie als Pausenclown zwischen zwei Werbeblöcken auftreten. Ich war in einer Mission für den Frieden unterwegs. Im Bosnienkrieg waren wir Journalisten davon überzeugt, dass unsere Berichte aus dem belagerten Sarajewo, aus dem umkämpften Mostar, aus den Gefechtszonen in Zentral- und Ostbosnien international Wirkung zeigen und die politisch Verantwortlichen in Washington, Brüssel, Ber- lin, Paris, London und Moskau zum Handeln zwingen würden. Das Deprimierende war aber, dass sich dreieinhalb Jahre lang überhaupt nichts getan hat. Das Morden ging weiter.

Können Sie sich noch an den ersten Toten erinnern, den Sie in einem Krieg gesehen haben?
Ja. Das weiß ich noch ganz genau. Er trug die Uniform der Paramilitärs. Ein modisch-schwarzes T-Shirt, eine dunkelbraune Jacke, eine braun-grün gesprenkelte Hose und Tennisschuhe. Seine Hose war blutgetränkt, die Schuhe waren schmutzig. Der Zeigefinger der rechten Hand war gekrümmt, als wollte er den Abzug einer Pistole ziehen und schießen. Doch er konnte nicht mehr schießen. Er lag in einem Blechbehälter im Kühlfach Nummer 12 auf der Prosektur in Osijek. Er war der erste Tote in den Balkankriegen der 1990er Jahre, den ich zu Gesicht bekam, und er sollte nicht der letzte sein.

Manchmal haben Sie sich acht Monate des Jahres in Kriegsgebieten aufgehalten. Hat Ihre Frau nie gesagt: „Jetzt ist Schluss damit“?
Meine Frau hat immer gesagt: „Das ist dein Beruf, ich akzeptiere das.“ Auch meine Tochter Katja hat das akzeptiert. Sie ist ja quasi ohne Vater aufgewachsen. In den 1980er und 1990er war ich oft ein halbes Jahr unterwegs, nicht am Stück, aber ich war drei Wochen weg, eine Woche zu Hause, dann wieder weg.

Ist das nicht seltsam, wenn der Krieg zum Alltag eines Menschen wird?
Der Krieg verändert den Menschen. Im Jahrzehnt der Balkankriege begann ich mich in Sarajewo, Zagreb, Mostar, Pristina und Skopje heimischer zu fühlen als in Wien. Es war ein normales Leben im Kriegsalltag. Die Kolleginnen und Kollegen, die man traf, dachten und fühlten ähnlich. Das Zimmer im zerschossenen „Holiday Inn“ war die Ersatzwohnung, Ruinenbewohner wurden zu guten Bekannten, lokale Mitarbeiter, die vor Granaten und Heckenschützen zitterten, wurden gute Freunde. Die Logik des Krieges verzerrt die Normalität und pervertiert den Hausverstand. In einem Schlachthaus versagt mitunter die scharf blickende Analyse, das Abnormale wird Routine. Wer zu lange bleibt, der wird Teil einer anderen Wirklichkeit. Ich hatte oftmals mehr Glück als Verstand.

Sie sind überfallen, von Druckwellen an die Wand geschleudert worden, Sie haben einen Streifschuss abgekriegt, wurden bedroht … bekommt man eigentlich mit der Zeit ein Gefühl dafür, wann es gefährlich wird?
Es ist absurd, viele Leute zu Hause verstehen das nicht. Man ist in einer Kriegszone, und nicht an jeder Ecke ist Krieg. Das habe ich in Sarajewo oft erlebt. Du sitzt an einer Ecke im Kaffeehaus – so wie wir jetzt hier in der Wiener Innenstadt. Und wenn man einige Straßen weiter geht – in etwa so wie von hier bis zur Oper – fliegen auf einmal die Granaten herum. Wenn du merkst, dass die Straßen leer werden, dann ist das ein Zeichen. Dann sollte man in Deckung gehen.

Was ist das eigentlich für ein Gefühl, wenn man wochenlang im Krieg ist und dann nach Österreich zurückkommt?
Wenn ich zurückgekommen bin, hatte ich oft den Eindruck, ich komme in so eine „Truman-Welt“ zurück: in eine Kulissenwelt. Draußen wird wirklich gestorben, Menschen kämpfen um das nackte Überleben. Wenn man einmal in ein Massengrab geschaut hat, ist man nicht mehr der, der man vorher war. Nietzsche hat einmal gesagt: „Wenn du lange genug in den Abgrund schaust, dann schaut der Abgrund auch in dich hinein!“ Das von den Menschen inszenierte Leid bringt viele Journalistenkollegen dazu, den Beruf zu wechseln. Oder zur Flasche zu greifen. Einmal kam ich aus einem Krieg zurück, und die erste österreichische Zeitung, die ich im Flugzeug in die Hand bekam, schrieb: „Nach wie vor große Sorge in Wien wegen des Hundekots“. Da weiß man nicht: Soll man einen Lachkrampf oder einen Schreikrampf bekommen.

Sie haben 82 Länder bereist und aus 14 Kriegsgebieten berichtet. In Ihrem Buch „Verrückte Welt“ schreiben Sie, dass der Krieg von manchen auch als schön empfun- den wird. Wie ist das gemeint?
Der Krieg ist auch ein Geschäft und gibt vielen Menschen die Möglichkeit, so viel zu verdienen wie nie zuvor. Es gibt Profiteure, die sich darüber freuen, dass es anderen schlecht geht. Einzelne Mitarbeiter von mir haben an einem einzigen Tag im Krieg mehr verdient als sonst in einem friedlichen Monat. Diese Menschen empfinden das als schön. Auch ich habe solche Widersprüche erlebt. Man fürchtet sich, die Adrenalinschübe kommen, und wenn man überlebt und eine gute Reportage gemacht hat, dann findet man das schön und ist glücklich darüber.

Der Krieg wird von vielen Frauen als „typisch männ-ich“ bezeichnet: Alte Männer sagen jungen Männern, auf wen sie zu schießen haben. Wie haben Sie das erlebt?
Das hat früher sicherlich mehr gestimmt als heute. Die Einheit, die Bin Ladens Versteck gestürmt hat, wurde von einer Frau angeführt. Mittlerweile gibt es bei den Militärs und auch in den Reihen der Reporter sehr viele Frauen – und die sind meistens noch extremer als die Männer, wenn es darum geht, ein Ziel zu erreichen. Skrupelloser. Kaltblütiger.

Gab es einen Moment, in dem Sie gedacht haben: „Jetzt ist es aus“?
Einmal bin ich in einem Lift stecken geblieben. Das war im Juni 2006 in Bagdad. Es hatte 45 Grad im Schatten. Im Hotel wurde der Strom mit einem Generator erzeugt. Ich verließ mein Zimmer und stieg in den Lift, um hinunterzufahren, weil ich Aufnahmen abliefern musste. Plötzlich fiel der Stromgenerator aus, ich steckte im Lift fest, alleine, die Kabine war nur so groß wie eine Telefonzelle, und es hatte sehr schnell 60, vielleicht sogar 70 Grad. Ich klopfte, um mich bemerkbar zu machen, aber nichts geschah. Da dachte ich: „Jetzt ist es aus, jetzt ersticke ich.“ Es war die totale Hilflosigkeit. Banal. Mein Bodyguard hat nach einer Weile das Klopfen gehört. Ihm verdanke ich mein Leben. Er hat es irgendwie geschafft, binnen zehn Minuten Diesel aufzutreiben und den Generator wieder in Gang zu bringen. Unten in der Lobby bin ich dann halb gekocht aus dem Lift gefallen.