AKUT
Archiv 2008 – Sommerpartner Schurkenstaat
Die Schweiz ist unser Partner bei der Ausrichtung der Fußball-Europameisterschaft. Viele Österreicher bewundern das Land, es gilt als sauber, sicher und basisdemokratisch. Doch der Wohlstand ist auf Lüge und Blut gebaut. Die Schweiz, auch im Inneren zerrissen, ist ein moderner, perfider Schurkenstaat. Und als Vorbild untauglich.
Von Manfred Klimek
Die Szene ist beispielhaft für dieses Land. Am Berner Hauptbahnhof belästigt abends ein torkelnder, abgerissener und offenbar heroinabhängiger Mann die einsteigenden Gäste des Nachtzugs nach Barcelona. Zuerst bittet er die Reisenden auf Schweizerdeutsch – ein knorriger alemannischer Dialekt – um finanzielle Beihilfe. Da die Reisenden den lokalen Gesang nicht verstehen, versucht es der Mann auf Hochdeutsch. Wieder Abwinken. Dann in perfektem, auch perfekt ausgesprochenem Englisch. Wieder nichts. Er versucht es in ebenso perfektem Französisch, stets mit diesem leichten Zungenschlag des Urschweizers, aber einwandfrei. Wieder nichts. Zuletzt nimmt er seine etwas begrenzten Italienischkenntnisse her, doch die Reisenden sind Katalanen, spanische Staatsbürger, einer anderen Sprache nicht mächtig. Hier trifft die Schweiz auf ihre Grenzen, die ganze vom Staat getrichterte Bildung nützt dem Heruntergekommenen, dem Elenden, nichts, wenn die Erste-Klasse-Passagiere aus einem anderen Land keine andere Sprache decodieren können als die ihres Vaterlandes.
Bitter. Bitter auch, dass jemand mit offenbar hohem Bildungsniveau hier am Bahnhof stehen und seinen Mantel verkaufen muss, nur um an ein paar Briefchen Heroin zu kommen. Man stelle sich vor, am Karlsplatz gingen multilingual gebildete Giftler die Touristen an.
Undenkbar. Undenkbar, weil man in Österreich unter den Abgehalfterten selten multilingual Gebildete findet. In der Schweiz jedoch in Sonderzahl. Und auffällig. Das Undenkbare ist denkbar möglich im Reich der Rütlischwüre, eines der widersprüchlichsten Länder Europas, bewundert und verachtet zugleich. Bewundert von den Bürgern der umgebenden Länder, verachtet von deren politischen Eliten.
Bewundert für seine direkte Demokratie, den sichtbaren Wohlstand, den gelebten Regionalismus, der jeder Ökonomie trotzen darf, die pünktlichen Züge, das wohle Leben in einer schönen Landschaft. Verachtet für die gesellschaftliche Rückständigkeit, für die trotzige, weltabwehrende Neutralität und – vor allem – für die dunklen Geldgeschäfte, die der modernen Schweiz im letzten Jahrhundert das Rückgrat bauten, eine Wirbelsäule aus Lügen, Betrug und Leichen. Dabei könnten die Schweizer stolz sein auf ihr Land. Sie waren es, die sich nach Aussterben der meisten ihrer Adelsgeschlechter zu einem Bund zusammenschlossen und die beherrschenden Habsburger aus dem Land warfen. Die Folgen dieser Tat sind bekannt: Die Schweizer bekamen einen faden Staatenbund. Und wir die Heiratspolitik, Maria Theresia. Und Kaiserin Sissi.Schon im Mittelalter wurde die Schweiz neutral. Freilich erst, nachdem sie gegen Frankreich verlor und ihre Expansionspolitik aufgeben musste. Die Schweizer Söldner blieben aber weiter-hin beliebt und lange Zeit der wesentliche Wirtschaftsfaktor der Eidgenossenschaft. Der Vatikan lässt den Papst bis heute von Schweizern bewachen. Die Söldnerei, das erste dunkle Kapitel der Alpenfestung, wurde erst 1859 verboten.
Danach etablierte sich das Bankenwesen. Von irgendwoher musste das Geld ja kommen.Die wirtschaftliche Fertigkeit der Schweiz ist Erbe des strengen Protestantismus der Reformation. Eine „Raffe, Schaffe, Hüslebaue“-Nation. Das Spießertum ist eine Erfindung der Schweiz. Die Deutschen, vor allem jene im protestantischen Norden, haben diese fürchterliche Lebensweise gut kopiert. Doch war die Schweiz auch eines der wenigen Länder, das die Wirren der nachnapoleonischen Zeit zur Durchsetzung einer pluralistischen Demokratie nützte. Im letzten Bürgerkrieg der Schweiz siegten 1847 die liberalen Reformer, Leute jenes Schlages, die Kaiser Franz Joseph 1848 in Österreich massenweise zusammenschießen ließ. Von da an war die Schweiz lange Jahre den meisten europäischen Staaten weit voraus und überlegen. Multiethnisch ohne Krieg, mutlireligiös ohne Hass, wirtschaftlich aufstrebend ohne brutal ausgetragene sozialen Konflikte. Ein Vorbild, zudem Heimat internationaler Organisationen und idealistischer Bürger – wie etwa Henri Dunant, den Gründer des Roten Kreuz.
Dieses Kreuz, die farblich umgekehrte Staatsflagge der Schweiz, wusch das Land rein, das sich im Inneren längst zu wandeln begann. Der dräuende Sozialstaat musste mit Einnahmen aller Art aufgefettet werden, die Schweiz begann Geschäfte zumachen. Im ersten Weltkrieg lieferte sie den Kriegsparteien Waffen und Utensilien, Exporte, die man auch im viel grausameren Zweiten Weltkrieg nicht aufgeben wollte. Die bewaffnete Neutralität sicherte die Landesgrenzen, was außer-halb dieser Grenzen stattfand, ging die Schweiz nichts an. Eine Einstellung, die sich bei vielen Bürgern bis heute hält. Vor allem auf dem Land. Abschotten. Aber Geld kassieren.
Erst als die Nazis schon sterbend darniederlag beendete die Schweiz die untragbaren Geschäfte mit dem Hitlerregime. Und das auch erst auf Druck der Amerikaner, die den Schweizern unverhohlen mit Sanktionen drohten, um sie zum Ablassen zu bewegen. Die Schweiz hatte zudem tausende Juden an der Grenze abgewiesen und so quasi in die Gaskammer eskortiert. Reue hierfür kam später nur von ein paar emphatischen Intellektuellen, viele Schweizer halten das Verhalten ihres Landes zu jener Zeit für vorbildlich. Ein Schweizer lässt sich nicht kritisieren.
Ekeliges Beispiel eines solchen unkritisierbaren Schweizers ist der selbstherrliche Milliardär Christoph Blocher, der die eidgenössische Volkspartei zu einer populistischen und europafeindlichen Sektierergemeinschaft umbauen ließ. Kurzfristig von der Macht entfernt, wird er bei den nächsten Wahlen wieder auferstehen, wie Berlusconi in Italien. Blocher verkörpert das Irrationale des Landes: in der Mitte Europas alleine bleiben zu wollen, doch das Geld der Verachteten zu nehmen. Auf die Arbeitskraft der Ausländer nicht verzichten zu wollen, aber auf ihre sozialen Probleme mit Abschiebung zu reagieren. Freilich hat die Schweizer Linke auf die gleiche dummdreiste Multikulturalität gesetzt wie viele andere linke Bewegungen in Europa. Das zudem noch einen Deut absurder. Sie hat Blocher erst gemacht.
Blocher ist auch eine Reaktion auf die Stunde der Entscheidung, die der Schweiz bald schlägt. Die städtischen Eliten, mehrheitlich Anhänger eines EU-Beitritts, stehen gegen das Landvolk, mehrheitlich in der Vergangenheit der Eidgenossenschaft gefangen. Wohin driftet die Schweiz? Gewalttätige Rechts-radikale konnten hier beinahe die Feierlichkeiten zur Nation unterbinden – eine peinliche Einzigartigkeit in Europa. Vertrackte Linke missachten die Zeichen der Zeit und setzten auf eine Politik des alten und überholten Solidaritätsmodells. Die Schweiz steckt in einer ärgeren Krise als ihr Nachbar Italien. Weil sie reich ist, kann sie sich das leisten.
Ein Reichtum, aufgebaut auf den Gebeinen von Millionen Bürgerkriegsopfern in Afrika, Lateinamerika oder sonst wo auf der Welt. Dutzende Diktatoren plünderten ihr Land und brachten Gold und Diamanten in der Schweiz in Sicherheit. Doch es geht sogar eine Stufe tiefer: Für den breiten Reichtum der Schweiz steht auch der normale Steuerflüchtling gerade, der hier gerne empfangen wird. Wer genug Geld hat, wird sich im moralbefreiten Kanton Zug die Einkommenssteuer fast zur Gänze sparen. Einige Warenterminhändler, inzwischen auch für den neuen Hunger in der Welt verantwortlich, haben sich am reichen Seeufer niedergelassen. Neben Gazprom und dem Bestsellerautor Johannes Mario Simmel übrigens. Was für ein originelles Gemisch.
Jene Schweizer, die ihr Land als integrierten Partner eines einigen Europas sehen, auch Partizipant der ethisch-moralischen Werte, jene Schweizer geraten zusehend in die Minderheit. Die Mehrheit will den alten Wohnstand konservieren, egal, wie er entstanden ist. Und auf welchem Leid, auch gegenwärtigem, er sich aufbaut. Dieses Land, diese Bevölkerung ist kein Partner Österreichs. Und noch weniger ein Vorbild.
Doch wir können auch vor unserer eigenen Türe kehren. Und wir wissen, dass die meisten Österreicher es wie die Schweizer machen würden. Und wollen. Bei uns aber versagen die Leute. Wie etwa Haider. Aus dem kein Blocher wurde, keiner mehr wird. Und wir wissen auch, dass unser Bankenwesen jenem der Schweizer nicht unähnlich ist. Abgesehen von den übersehbaren Ausnahmen, die uns als Ausrede dienen.
Es ist besser, bei den Schlawinern zu wohnen. Und nicht im Schurkenstaat Schweiz.