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Archiv 1994: Gulag der Kinder

Jakob Stantejsky

Im Land des Boris Jelzin herrscht noch immer Stalin. Zumindest in den Köpfen jener Richter, die 14-jährige Straftäter ins Horrorlager Kuzbass schicken. Josef Polleros (Text & Fotos) besuchte den Vorhof der Hölle. Volksvertreter fordern die rasche Vernichtung von Verbrechern. Grausamkeit wird mit noch größerer Grausamkeit geahndet.“ Dies schrieb die renommierte bundesdeutsche Wochenzeitung Die Zeit über das Rechtssystem, das die Sowjetunion den Reformern um Boris Jelzin hinterlassen hat.

Das Lager von Leninsk Kuznetsk, kurz Kuzbass genannt, ist die einzige Sträflingskolonie für 14- bis 16-jährige Buben in Sibirien. 274 Halbwüchsige sitzen dort zur Zeit ihre meist dreijährigen Haftstrafen, die sie wegen Diebstahls und Raubes erhalten haben, ab. Der Direktor von Leninsk Kuznetsk führt die Häftlingskolonie wie ein militärisches Straflager: Geld ist verboten, die Mahlzeiten dauern zehn Minuten. Ansonsten gibt es nur harte körperliche Arbeit bis an die Grenze der Leistungsfähigkeit der Lagerinsassen des KZ-artigen Gefängnisses. Dass in dieser Atmosphäre des Hasses natürlich auch körperliche Gewalt als „Erziehungsmaßnahme“, wie der Direktor stolz lachend erzählt, nicht fehlt, ist nur logisch. Kaum ein Halbwüchsiger, der noch nicht mit den hölzernen, eisenbewehrten Schlagstöcken der sadistischen Aufseher Bekanntschaft gemacht hat. Dabei haben es die Kinder noch gut getroffen. Das Volk verlangt, alle Verbrecher zu erschießen bzw. unverzüglich zu vernichten, hieß es jüngst in einem russischen Zeitungskommentar.

BILDER DES GRAUENS. Wer in die Augen des 14-jährigen Buben (großes Bild) blickt, der kann sich vorstellen, wie es in Jelzins Kinderstraflagern täglich zugeht. Harte Arbeit, horrible sanitäre Verhältnisse und körperliche Gewalt gegen die ausgemergelten Minderjährigen bestimmen den Alltag. Wenn einmal Schule abgehalten wird, feiern die Buben. Sie bekommen zwar nichts mit, dafür sind sie zu abgestumpft, aber es gibt wenigstens keine Schläge von den brutalen Aufsehern. Aber auch das ist den Kindern schon egal. Denn sie wissen: viel Hoffnung gibt es nicht. Das Leid stumpft eben ab.

ARBEIT UND FREIZEIT. Letztere ist in Jelzins Kinder-Gulags spärlich. Dementsprechend werden Besuche von Verwandten, wenn sie das Gefängnisdirektorat bewilligt, gefeiert. Auch Sport gibt zur Erholung, aber nur wenige der 274 Kinder haben nach dem Arbeitseinsatz auf den umliegenden Feldern und in den Kohlengruben noch die Kraft dazu. Lieber verwenden sie die Zeit des Entspannens zum Rauchen, das zwar streng verboten ist und hart bestraft wird, aber irgendwoher kriegen sie immer Tabak. Sonst gibt es nichts als graue Tristesse.