Interview

Die Kindertransporte vor dem 2. Weltkrieg: 10.000 im Glück

Manfred Sax

Glück. Das Wort fiel bei jedem Gespräch. Sie haben Glück gehabt, erzählten sie. Glück, dass sie zeit der Transporte das 17. Lebensjahr noch nicht erreicht hatten; dass ihre Eltern findig genug waren, ein Ticket für sie zu ergattern und imstande, die verlangten £50.- (Wert heute: knapp EUR 2980.-) zu erlegen – für die Rückkehr, aus der nie was wurde. Glück letztlich, dass sie vor dem 1. September 1939 in einem dieser Kindertransport-Züge saßen, der sie mit Erreichen der holländischen Grenze aufatmen ließ.

von Manfred Sax und Erich Reismann

Der erste Kindertransport, ein organisierter Einsatz zur Rettung von (zumeist) jüdischen Kindern aus von Nazis kontrollierten Ländern, verließ am 1.12.1938 mit 196 Kindern den Bahnhof von Berlin und erreichte tags darauf die englische Hafenstadt Harwich. (1) Bis zum Ausbruch des 2. Weltkriegs sollten es 10000 Kinder sein, die allmählich lernten, ihr Glück zu verstehen.

Die ersten Schritte auf englischem Boden waren für alle Kinder gleich. Sie führten zur Hafenstadt Dovercourt, Essex, wo die legendäre Erzieherin Anna Essinger ihren kurzen Aufenthalt in Warner´s Holiday Camp organisiert hatte. Ms Essinger, in Ulm geborene Jüdin, hatte bereits 1933 ihr Landschulheim Herrlingen genanntes Internat mitsamt ihren 66 Schützlingen nach England transferiert und in der Grafschaft Kent die berühmte Bunce Court School etabliert. (2)

Der weitere Weg der Flüchtlingskinder wurde zur individuellen Glückssache. Einem nicht nur von Essinger als „Viehmarkt“ kritisierten System folgend, pilgerten Briten nach Dovercourt und suchten sich Schützlinge zur Betreuung aus. Dazu Sir Nicholas Winton, derzeit dank des aktuellen Films ”One Life“ (3) inselweit als „britischer Schindler“ gefeiert: „Ich war nur daran interessiert, die Kinder nach England zu bringen. Es war mir egal, was mit ihnen danach passiert, denn das Schlimmste, was ihnen in England widerfahren konnte, war noch immer besser als im Feuer zu enden.“ (4) Der Film, mit Anthony Hopkins in der Hauptrolle, gelangt Ende März in deutsche Kinos.

Die Flüchtlinge selbst blieben Jahrzehnte lang stumm. Entwurzelungen geschehen nicht ohne Traumas, auch widerfahrenes Glück kann Schuldgefühle erzeugen. Erst 50 Jahre später gelang es der Münchnerin Bertha Leverton, ihrerseits eines dieser Kinder, in London eine Kindertransport-Reunion zu organisieren. Das Feedback war überwältigend. Und alle wollten reden. (5)

Text: Manfred Sax / Fotos: Erich Reismann

(1) Amy Williams: Memory of the Kindertransport in National and Transnational Perspective, Nottingham Trent University 2020
(2) https://en.wikipedia.org/wiki/Bunce_Court_School
(3) “I was only interested in getting the children to England and I didn’t mind a damn what happened to them afterwards, because the worst that would happen to them in England was better than being in the fire.”The Guardian: https://www.theguardian.com/film/2024/jan/01/nicholas-winton-saved-my-father-from-the-nazis-heres-how-one-life-betrays-him
(4) Die hier aufgezeichneten, bislang unveröffentlichten, Sitzungen mit Überlebenden jener Generation fanden Mitte der 1990er Jahre in deren Wohnungen statt.

Bertha Leverton
(1923 – 2020)

Geboren in München, die Eltern betrieben bis zur Kristallnacht eine Wäscherei. Ms Leverton organisierte 1989 die erste Kindertransport-Reunion. Buch: „I Came Alone“. Sie verbrachte ihre letzten 12 Jahre in Israel. Töchter: Mirri Reich & Shula Kohn.

Man hat nicht viel gewusst vom Kindertransport, das musste die jüdische Kultusgemeinde geheim halten. Papa hat es dann gehört und ging hin. Sie gaben ihm zwei Plätze, für mich und meinen Bruder Theo. Wir fuhren am 4. Jänner 1939 ab. Wir durften je einen Koffer mitnehmen. Drinnen Fotos, das war das Wichtigste, ein kleines Silberbesteck und Bücher. Das Zugfahren war auch aufregend, ich hab noch nie das Meer gesehen.

In Dovercourt war es bitterkalt, aber schön. Dann sind die Menschen gekommen und rumgegangen, wie auf dem Viehmarkt, sehr peinlich. Meinen Bruder hat man zuerst genommen, da war ein Milchmann aus Coventry, der wollte einen Playmate für seinen Sohn. Ich kam zwei Wochen später auch nach Coventry, zu einem Paar ohne Kinder. Ich wurde sowas wie ein Dienstmädel. Das war ihr Motiv. Sie kriegten eine freie Arbeitskraft. Ich hab halt Pech gehabt. Er war ein Klempner, sie ein bissi vornehm. Ich hatte schönere Kleider als sie, die hat sie mir abgenommen. Sie müssen verstehen, wenn man jemanden als Flüchtling begreift, dann soll er auch so aussehen. Haben wir aber nicht. Wir waren besser gekleidet als die Einheimischen. Sie hatten Gründe, in unsere Koffer zu schauen.

Am 5. Dezember 1945 hab ich geheiratet. In Birmingham. War mein erster Mann. Jude, neutralisierter Engländer aus Polen. Er hatte eine pickles-Fabrik. Sauerkraut! Deswegen hab ich ihn ja geheiratet. Der hat mir in der Fabrik einmal ein Fass aufgemacht, da hab ich mich verliebt. In ihn und das Fass. Es begann ein ziemlich schönes Leben. Wir wurden englischer als die Engländer. Drei Kinder sind angekommen. Der Älteste, Dani, starb mit 21. Hodgkins Desease. Daran litt die Beziehung. Wir ließen uns scheiden.

1980 heiratete ich wieder. In London. Einen Briefmarkenhändler. Von dem bin ich jetzt auch getrennt. Er hat mir die Hölle heiß gemacht, als ich die Sache mit dem Kindertransport begann. Anfangs, bei der 50-jährigen Reunion war er noch behilflich. Aber dann wurde er eifersüchtig. Ich betrachtete einmal ein Bild meiner Enkelin. Da dachte ich, die wissen ja gar nix von uns. Das brachte die Idee. Jahre lang interessierte das keinen von uns, jeder wollte nur ein neues Leben aufbauen. Aber jetzt war es so weit.

Mary Arnold
(geb.1934)

Geboren in Wien, jüngstes Kind einer jüdischen Schauspielerfamilie. Teenagerjahre in einem Hostel in Tunbridge Wells, Kent. Heiratete 1954 den Komödianten Eddie Arnold, der 1966 starb. Gründete später erfolgreiche Theateragentur. Tochter: Debbie Arnold, eine der bekanntesten Schauspielerinnen der Insel. Sie unterstützt Asyl-Kampagnen für Migrantenkinder.

Mein Vater sagte, wenn du die Worte yes und no hörst, dann bist du in England. Dann drehte er sich um, ich sah die Tränen in seinem Gesicht, wusste aber nicht, warum.

Ich landete bei einer Frau in Kingford. Diese Lady war eine Kuh. Sie sagte immer, ich sei dort, um ein Dienstmädchen zu sein. Ich dachte, das war wohl ein Traum. Ich lag im Bett und dachte, ich werde aufwachen, und meine Mutter wird dann da sein, alles nur ein schrecklicher Traum. So ging es weiter, Nacht für Nacht. Dann wurde sie schwanger und hat meine jüdischen Guardians kontaktiert. Bis dahin wusste ich nicht einmal, dass ich Jüdin war.

Während des Krieges hatte ich oft dumme kleine Träume. Da war ein großes Feld, und darauf Hitler und Churchill, und ich stand in der Mitte und ging auf beide zu und bat: please don´t fight anymore! Ich dachte, ich könnte den Krieg beenden. Zuhause, wenn Vater und Mutter stritten, fuhr ich immer dazwischen und sagte, bitte streitet nicht mehr.

Später zahlte ein Mann für mich, damit ich in eine Privatschule in Tunbridge Wells komme. Der traf mich, weil ich böse war. Ich malträtierte die anderen Mädchen in der Trinity-Schule, wo ich war. Jener Mann wollte mich adoptieren, nur wurde ihm das nicht erlaubt. Weil ich Jüdin war. Das war lächerlich. Bei der englischen Familie, wo ich später hinkam, war ich ja auch Jüdin. Aber in der Privatschule hörte ich, dass mein Vater Schauspieler war – und wollte in eine Schauspielschule. Die jüdischen Guardians ließen mich nicht. Ich müsse arbeiten, um Geld zu verdienen. Ab 16 mussten wir alle arbeiten. Aber ich konnte Lehrling sein, um Friseur zu werden.

Mein Gatte Eddie Arnold war ein Komödiant, der im London Palladium alle Rekorde gebrochen hat. Er starb leider schon im Alter von 34 Jahren. Gehirntumor. Wir blieben verheiratet, ich konnte einen kranken Mann nicht verlassen. Aber wir hatten Glück, er hatte viel Geld verdient. Wir hatten ein Kindermädchen, das sich um unser Baby kümmerte. Meine Tochter Debbie ist heute Schauspielerin. Sie spielte eine Hauptrolle in The Sleeping Prince mit Omar Sharif.

Ester Friedman
(geb.1924)

Geboren in Wien als Herta Müller, Vater Textilhändler, Mutter betrieb Schneidersalon, Bundeskanzler Kurt Schuschnigg war ein Kunde. In England Ausbildung zur Pflegerin und Hebamme. Dann 16 Jahre Israel, eine Tochter. Ruhestand in England, Mitglied des Holocaust Survivor Centers, 2015 von Queen (damalige Duchess) Camilla geehrt. Buch: The Need.

Ich hatte großes Glück. In meinem Transport, am 11.12.1938, waren es 600 Kinder. Wir hatten Nummern. In Holland brachten Frauen uns Essen. Während wir aßen, kam es vom Lautsprecher: Alle Kinder bis Nummer 200 – verlasst den Zug und kommt auf den Bahnsteig. Ich konnte meine Nummer nicht finden, war so hungrig und dachte, macht nichts, iss zuerst. Dann fuhr der Zug wieder ab, ich fand die Nummer: 200. Ich hätte in Holland aussteigen sollen. Ich lebe noch, weil ich nicht ausgestiegen bin.

Als ich 18 war, wurde ich abberufen. Hatte die Wahl zwischen Landarmee und Nursing. Wählte Nursing. Weil meine Mutter nie für mich Zeit hatte, sie war so beschäftigt, hatte ich immer diese need to be needed. Ich wurde ausgebildet und gewann den Preis für die Nurse des Jahres. Ich arbeitete für die Gattin des Home Secretary Chuter Ede, war auch Pflegerin für die Aristokratie. Das bedeutete mir nichts. Im Krankenbett sind alle gleich, nämlich krank.

Meine need to be needed war sehr freudianisch. Sie brachte mich 1947 zum Mann, den ich heiratete. Er brauchte mich. Deswegen heiratete ich ihn. Martin war ein Flüchtling aus der Schweiz, für einen 25-jährigen sehr jung. Aber eine ausgesprochen anständige Person. Es war die beste Zeit meines Lebens. Ich war als Nurse erfolgreich, die Patienten von mir abhängig. Meine need to be needed war erfüllt.
Das Thema Kindertransport wurde Jahrzehnte lang nie diskutiert. Wir haben nie darüber gesprochen. Erst als ich für ein Kristallnacht-Memorial eine Story schrieb, wurde ich gebeten, sie auch vorzulesen. Es war, als wär ein Stein in meinem Inneren geschmolzen, ich fühlte mich erleichtert. Seither hat mir mein Schreiben darüber sehr geholfen.

Als meine Tochter kam … Sie müssen verstehen, Holocaust-Überlebende haben immer einen Groll. Ich hab sie so behandelt, wie ich gelitten habe. Meine Mutter gab mir zu wenig Liebe, weil sie immer so beschäftigt war. Ich gab meiner Tochter zu wenig Liebe. Musste ja mein Leben verdienen. Sie war ein trauriges Kind, eigentlich eine Kopie von mir. Als sie 17 war, haben wir sie nach Israel geschickt. Sie liebte das und blieb dort.

Alfred Terry
(geb.1927)

Geboren in Wien, als Flüchtlingskind in etlichen Hostels untergebracht. Gelegenheitsarbeiter, erlernte das Tischlerhandwerk. Emigrierte nach Australien. Baldige Rückkehr, um eine Frau fürs Leben zu finden. Wohnhaft in Margaret Thatchers Geburtsort Grantham. Vier Kinder.

Ich hab in England in vielen Kinderheimen und in seltsamsten Umständen gelebt, hab immer verstanden, mich unbeliebt zu machen. Mit 14 hatte ich meinen ersten Job, in Birmingham, die Firma hieß Kalamazoo. Die gibt es heute noch. Offiziell war mein Titel Shop-boy. Das heißt, du bist in der Werkstätte, sie geben dir einen Besen, du kannst rund um die Maschinen aufkehren. Ein Trottel für alles. Ein hilfreicher Mann hat dann dem Chef erklärt, ich könnte Besseres tun. Ich kam ins Fabrikslager, war ganz allein für das Lager mit all den Werkzeugen verantwortlich. Mit 14 Jahren schon!

Später wurde ich gefragt, ob ich ein Handwerk erlernen will. Sag ich: natürlich! Ich fahr nach Brecon Beacons in Südwales. Dort war ein Tischlermeister namens Hans Eisenwagen, selbst ein Flüchtling aus Wien. Da hat es angefangen für mich. Machte alles mit der Hand, ohne Maschinen. Nach acht Monaten dort wurde es leider geschlossen. Nun kann kein Mensch behaupten, dass er nach acht Monaten Tischlermeister geworden ist. Das ist unmöglich. Komm ich dann nach Cambridge in eine Baufirma. Zur Weiterbildung. Was machen die Leute? Schweinerei! Stecken mich ins Sägewerk, muss Sägespäne in Säcke füllen. Fünf Stunden täglich. Immerhin machte ich mich mit Kreissäge und Hobelmaschine bekannt. Aber ich machte mich auch unbeliebt.

Im nächsten Kinderheim, Nähe Flughafen Gatwick, war ein Disziplinar zu Gange, der hieß Hans Stari. Ein Sadist! Er wollte dir die Hose runterziehen und den Rohrstab geben. Und er wollte Kaninchen züchten, ja! Für den Pelz, nicht für Fleisch. Pelzkaninchen. Und da sagt er zu mir, hör mal, du bist doch Tischler. Sag ich, naja, Tischler ist übertrieben. Sagt er, kannst du mir 300 Kaninchenställe bauen? Ich baue ihm diese Ställe, er wird über Nacht mein bester Freund, küsst mich und so weiter. Der Hans Stary, der Sadist! Ich hab dann den Rohrstab nie bekommen. Der Nächstälteste schon. Der hieß Kurt Asch. Natürlich haben wir ihn alle Kurt Arsch genannt.

1950 stieg ich in Liverpool aufs Schiff nach Australien. Totales Unglück. Am dritten Tag war mir schlecht. Alle denken, es ist Seekrankheit. Und es war eine 7-Wochenfahrt nach Melbourne. Das langsamste Schiff aller Zeiten. Ausgerechnet ich musste auf diesem Schiff landen. Erst in der Nähe von Ceylon sieht ein Passagier meine gelben Augen. Ich hatte Gelbsucht. Sagen die dann, ich sei sterbenskrank mit Gelbsucht. Sag ich, hab ich eh schon wochenlang erklärt, Sie Idioten! Hat mich sehr populär gemacht.

In Australien war ich todunglücklich. Ein Kupferbergwerk, eine Stadt voller Besoffener, akuter Frauenmangel. Sagt mir einer, dass es in Deutschland einen Überfluss an Frauen gibt. Gebe ein Inserat auf, es folgt ein Briefwechsel mit 33 Frauen. Lernte eine Ostberlinerin kennen, die hieß Kowalski und hatte kein Visum für Australien. Fahr ich also wieder rüber, lerne sie in Köln kennen. Sobald wir uns sahen, war alles aus. Sie wollte mich nicht, ich wollte sie nicht. Dann schrieb ich an eine aus Hamburg, und sie schrieb zurück. Das hat geklappt. Das ist heute meine Frau. Na gut, sie nennt mich Jude, und ich nenn sie Nazi, aber die Liebe geht ja durch den Magen. Ich hab nie gehungert, meine Frau auch nicht. Wir leben in Grantham, wo Margaret Thatcher geboren wurde. Die hatte sicher auch komische Erlebnisse, so wie ich.

Ruth Jacobs & Harry Heber
(geb.1928) & (geb.1931)

Die Geschwister wurden in Innsbruck, Österreich, geboren. Der Vater betrieb ein Kaufhaus in der Altstadt. Ruth machte in der Londoner Modewelt Karriere, Harry wurde Optiker in Bristol. Für seine Tätigkeit für World Jewish Relief wurde er 2014 mit dem Orden OBE ausgezeichnet. Anlässlich des 85. Jahrestags der Kristallnacht hatten sie Tee mit King Charles. Beide wohnen heute in London.

(Ruth) Ich war anfangs in England immer eine Art Beschützerin von Harry, er war mein Baby-Bruder. Die Eltern insistierten, dass wir zusammen bleiben. (Harry) Ich kam auf eine primitive Farm zu einem alten Paar. Öllampen statt Elektrizität. Es hat geschneit, ich weinte dauernd. Bald wollten sie mich nicht mehr haben. So kam ich in ein Internat, dort waren andere Kinder. Das ging dann. (Ruth) Mein neues Heim war vornehm. Nette Leute. Sie hatten alles, was wir von daheim gewöhnt waren. Als der Schnee kam, war ich außer mir, weil ich dachte, es würde drei Monate dauern, bis ich Harry wiedersehe. Aber in England ist der Schnee schnell weg.

Ich hatte Glück mit dieser Familie. Das Beste kam nach ein paar Monaten. Der Krieg nahte, viele Leute traten in die Armee ein. Also schickten meine hosts ein permit zu meinen Eltern, die Mutter als Köchin, der Vater als Butler. Sie kamen zwei Tage vor Kriegsausbruch. (Harry) Als die Eltern kamen, hatte ich mein Deutsch fast schon vergessen. Sie mussten aber gleich wieder weg, wegen der 20-mile-exclusion-zone, sie waren ja enemy aliens. Sie fanden ein Zimmer in Bedford. Jahre später zog ich zu ihnen, fand eine Lehre als Optiker. Und eröffnete ein Business in Bristol.

(Ruth) Niemand wollte je wieder zurück. Es wurde nicht einmal darüber geredet. Nach dem Krieg wär ich am liebsten zur Uni gegangen. Aber Vater riet mir zu Handarbeit. Was man mit der Hand machen kann, sei immer nützlich. Ich ging in diese Schule, die Barrett School hieß. Wurde Designer, war erfolgreich. Heute heißt die Schule London College of Fashion. Ich muss wohl erwähnen, dass ich Präsidentin dieser Schule wurde.

Manchmal fragte ich mich: warum ich? Warum hatte ich das Glück, wurde mir der Wahnsinn erspart? Aber weil wir ein relativ normales Leben führten, hat uns dieses Schuldsyndrom nicht so große Probleme bereitet. Wir verkehrten fast nur mit Juden. Haben Deutsche nicht vermieden, aber sie kamen nicht in unsere Gruppen.

(Harry) Als ich Junggeselle in Bristol war, traf ich kaum Juden. Da waren auch Deutsche dabei. Wir vertrugen uns. Aber wenn sie in meinem Alter oder gar älter waren, wollte ich sie nicht unbedingt kennenlernen. Da gab es immer das Fragezeichen: Was haben diese Leute im Krieg gemacht?

Leslie Baruch Brent
(1925 – 2019)

Geboren als Lothar Baruch in Köslin (heute Koszalin, Polen), kam mit dem 1. Kindertransport nach England, studierte an der Uni Birmingham, erhielt einen PhD in London nach Arbeit mit Nobelpreisträger Peter Medawar, wurde Immunologe. Professor Brent wurde posthum mit dem Order of the British Empire (MBE) ausgezeichnet. Ende Jänner 2024 organisierte das Harwich Kindertransport Memorial eine Brent-Exhibition.

Ich muss sagen, ich hab in meinem Leben viel Glück gehabt. In Dovercourt bin ich einmal durch so eine Schwingtüre und stieß an einen dicken Bauch. Dieser Bauch gehörte der Direktorin Anna Essinger. Eine Quäkerin, die viel Gutes getan hat. Sie nahm mich in ihre Bunce Court Schule auf. Mir gefiel es dort, blieb bis Herbst 1942.

Mit 18 ging ich freiwillig zur Armee. Ich wollte nicht unbedingt Deutsche ermorden, aber etwas tun, um meinen Eltern zu helfen. Zum Kriegsende wurde ich nach Deutschland geschickt. Das war natürlich seltsam, in England war ich noch offiziell als enemy alien klassifiziert worden.

1947 bekam ich von der englischen Regierung ein Stipendium, studierte Zoologie in der Uni Birmingham. Mein Professor war Peter Medawar, ein Pionier im Gebiet der Transplantationen. Der nahm mich dann nach London mit, ich hab 13 Jahre mit ihm gearbeitet, all die Arbeiten mit ihm gemacht, für die er 1960 den Nobelpreis bekommen hat. So machte ich also Karriere.

Ich habe Schindlers List nie gesehen, das war mir too close to the bone. Ich wollte viele Jahre lang nicht deutsch reden. Die Nachrichten vom deutschen Wirtschaftswunder vernahm ich mit Beklommenheit, so auf here we go again, Deutschland wird wieder mächtig. Ich habe gute Beziehungen zu deutschen Immunologen, unterscheide aber zwischen Deutschen, die älter sind als ich – und eventuell in den damaligen Ereignissen involviert waren, und jüngeren Deutschen, die ganz einfach nicht zur Verantwortung gezogen werden können.

Ich leide zu einem gewissen Grad am survivor syndrom. Die Schuldfrage, warum ausgerechnet ich am Leben bin, und alle Anderen sind tot. Es ist sowas wie emotionaler Schmerz. Aber als ich vor vielen Jahren zu einem Vortrag nach Krakow fuhr, kamen wir Auschwitz nahe, das war wie Magnetismus. Ich fühlte, dass ich dort hingehen muss. Es war das Nächste zu einem Grab für meine Familie. Es war extrem kathartisch. Man hat mir nie gesagt, wann und wo meine Eltern starben, hatte also nie eine Möglichkeit zu trauern. Ich konnte endlich ein erstes Mal weinen. Ich bin kein religiöser Jude. Jude sein ist mehr als nur Religion. Aber frag mich nicht, was es ist.

Ellen Davis
(geb.1926)

Geboren als Kary Wertheim in Hoof, im 19. Jh. die stärkste jüdische Gemeinde im Landkreis Kassel. Mutter Hannah und 6 Geschwister kamen in Riga ums Leben, Vater Julius entkam dem KZ Dachau. Kary/Ellen wurde in Swansea, Wales, sesshaft, verwitwete Davis, eine Tochter, ein Sohn.

Meine Pflegeeltern waren Juden aus Swansea. Der Name war Feigenbaum. Er siebzig und nett, sie fünfzig und mit mir nicht so gut. Ich hatte lange blonde Zöpfe, sah arisch aus. Nach zwei Tagen in Swansea entschied die Frau des Hauses, dass sie die Zöpfe nicht mochte. Brachte mich zum Friseur, der schnitt meine Zöpfe ab. Sie konnte auch meinen Namen Kary nicht leiden und beschloss, dass ich Ellen hieß. Als ich in den Spiegel sah, war das eine fremde Person. Jetzt wurde ich also in eidie Fremde verpflanzt, und diese Frau nahm mir die Identität. Meine Wurzeln fassten nie wirklich Erde. Aber Außenseitertum war nach den Erfahrungen in Hoof ohnehin was Natürliches.

Mein Vater war früh im KZ, die Mutter kam in ein Camp für Mittellose. Der Vater ist ein schwieriges Thema. Er schaffte es immer wieder raus. Rein und raus, rein und raus. Es hieß, dass sie Dachau vergrößerten, und der Kommandant von Dachau war ein Spieler. Der wettete auf alles. Ließ zwei Männer mit Ziegeln auf eine Leiter klettern, um zu sehen, wer mehr Ziegel tragen kann, und mein Vater hat angeblich immer gewonnen. Dann bekam er ein Wochenende Urlaub vom KZ. Und jedes Mal, wenn er rauskam, war meine Mutter wieder schwanger.

In Swansea durfte ich nur mit jüdischen Jungens ausgehen. Wenn meine Pflegemutter nicht aufpasste, ging ich auch mit nichtjüdischen Boys aus. Als ich 18 war, hatte ich genug. Ich musste weg von dieser Frau. Daher heiratete ich leider, wirklich leider, ihren Neffen. Da hätte ich genau so gut sie heiraten können. Das war mir seit der Hochzeitsnacht klar. Da saß ich am Fenster des Hotels, blickte über die Bucht von Swansea und dachte: Du hast den größten Fehler deines Lebens gemacht. Rückblickend muss ich sagen, ich hab ihn geheiratet, weil ich Kinder brauchte. Ich musste meine Brüder und Schwestern ersetzen.

Ich hab schnell die deutsche Sprache verloren. Die mentale Ablehnung. Als ich das erste Mal auf ein Konzert ging, waren das die Berliner Philharmoniker. Und sie spielten Deutschland Über Alles. Mir kamen die Tränen, und ich lief hinaus. Bei einer Kindertransport-Reunion hab ich vor 900 Menschen über Identität gesprochen. Viele Leute dort meinten, sie seien „natürlich“ noch immer Deutsche. Das machte mich zornig. Ich stand auf und legte los. Deutschland schuldet mir eine Mutter, vier Brüder und zwei Schwestern, sagte ich. Und ich schulde Deutschland nichts. Nicht im Traum empfinde ich deutsch.

Hermann Hirschberger (1926 – 2019)

Geboren in Karlsruhe. Wohnte immer in London, spielte Fußball für den Verein Maccabi London. Machte in der Abendschule die Ausbildung zum Ingenieur, arbeitete für Kodak. Gattin Eva, zwei Kinder, zwei Enkel.

Ich lebte bis Kriegsende im Hostel, in einem Zimmer mit acht Leuten. Ich verdiente ein Pfund die Woche, das musste ich abgeben, bekam ein Taschengeld von neun Pence. Das Essen war schrecklich, die Leute nett. Es gab Luftangriffe, es schien keine Gerechtigkeit zu geben.

Am VE-day war ich in der Whitehall, als Churchill auf den Balkon trat. Tausende Leute, ein großer Moment. Aber ich war immer noch so einsam wie stets, kriegsgehärtete 19, gleichzeitig aber unreife 19 Jahre alt. Bei Kriegsende fühlte ich mich einsamer als während des Kriegs, erwog aber nie eine Rückkehr nach Deutschland. Dieses Land war vorbei für mich.

Das Schlimmste war der psychische Schaden. Ich war unglücklich, hatte lange keine Zuversicht. Ich hab auch erst mit 37 Jahren geheiratet. Die Dunkelheit in meiner Seele hat mich nie verlassen.

Ab 1968 musste ich öfter nach Deutschland, wegen Kodak. Aber das erste Mal war 1951. Ich urlaubte irgendwo in Salzburg und kam am Rückweg auch in Karlsruhe vorbei, besuchte die Wohnung meiner Eltern. Die Bewohner dort hießen mich willkommen. Und auf ihre geschmacklose Art, ist halt was Deutsches, baten sie auch Nachbarn herein. Einer erinnerte sich an mich, „ja, das Hermännchen!“ Waren recht heuchlerische Gespräche.

Die deutsche Reunion war ein schlimmer Fehler. Das ärgert mich gewaltig. Früher oder später wird die natürliche Wichtigmacherei sie wieder ekelhaft machen.

Ich liebe Fußball, hab beim jüdischen Verein Maccabi London gespielt. Als 1990 in Italien Deutschland gegen England im Semifinale der WM spielte, hab ich leidenschaftlich für England die Daumen gedrückt. Ich hasse die deutsche Fußballmannschaft. Leider haben sie viel gewonnen.

Und von wegen made in germany. Unsere englische Fabrik war lange Konkurrent der deutschen Kodak-Fabrik. Aber letztlich wurde die in England geschlossen, weil Kodak nicht mehr zwei Fabriken brauchte. Teilweise kam das wegen lügnerischer Kommentare seitens der deutschen Fabrik. Typisch deutsch halt.