Selfies: Die Ästhetik der Armlänge

Alles Selfie: Herrlicher Spaß oder doch eher schreckliche Sucht? Philosoph Konrad Paul Liessmann denkt für den WIENER über ein faszinierendes Phänomen nach. Plus: 13 Beweise für die schaurig-schöne Ästhetik von Selfies in unserer DIASHOW.

Vor wenigen Monaten, im November 2013, erhob das Oxford English Dictionary „Selfie“ zum Wort des Jahres. Damit wurde einem Phänomen Rechnung getragen, das seit einiger Zeit das Internet und die sozialen Netzwerke in Atem hält: Immer mehr Menschen fotografieren sich mit ihren Smartphones immer öfter selbst und „teilen“ diese Bilder mit ihren Freunden oder dem Rest der Welt. Und: Sie lassen sich gerne dabei fotografieren, wie sie sich fotografieren. Natürlich: Immer schon versuchten Menschen, sich selbst abzubilden, wir kennen in der Malerei die Gattung des Selbstporträts, wir kennen die tollpatschigen Versuche, seinen klobigen Fotoapparat auf ein Stativ zu stellen, einen Selbstauslöser zu betätigen und vor die Linse zu springen. Aber erst seit die digitalen Kameras handlich wurden und jedes Handy fotografieren kann, wurde daraus eine veritable Massenbewegung.

Dennoch: Es überrascht, wie sehr der moderne Mensch nur noch ein Motiv für seine Kamera zu kennen scheint: sich selbst. Was verbirgt sich hinter diesem Trend?

Wir leben, so lautete die Diagnose des amerikanischen Historikers Christopher Lasch, in einem „Zeitalter des Narzissmus“. Lasch hatte das Buch mit dieser These 1979 publiziert, und vieles von dem vorweggenommen, was uns heute beschäftigt. Überall, so Lasch, sehen und spüren wir ich-bezogene Menschen, ohne Interesse an langfristigen Bindungen und der Zukunft, ohne Bedürfnis, sich in einem größeren Zusammenhang zu sehen, ohne historisches Gefühl, immer auf der Suche nach seinem eigenen Selbst und nur dem Augenblick gehorchend.

Dieser Augenblick ist aber durch die technischen Medien vermittelt. Es ist keine natürliche Unmittelbarkeit mehr, sondern der festgehaltene, fixierte Augenblick. „Das moderne Leben“, schrieb Christopher Lasch schon vor Jahrzehnten, „wird in einem so umfassenden Sinne durch elektronische Bilder vermittelt, dass wir gar nicht umhin können, auf Mitmenschen so zu reagieren, als ob ihre Handlungen – wie die unsrigen auch -aufgezeichnet und gleichzeitig einem unsichtbaren Publikum übermittelt oder zur späteren genauen Überprüfung archiviert würden.“ Erstaunlich, wie die heute virulent gewordene Kontrollgesellschaft in diesen Sätzen präformiert war, erstaunlich auch, wie man in der ersten Euphorie über die Perfektionierung und Individualisierung der digitalen Bildproduktion und ihrer Kommunikation solche Sätze vergessen hatte. Denn Christopher Lasch machte schon damals darauf aufmerksam, dass zu den vielen „narzisstischen Verwendungsmöglichkeiten“ der immer handlicher werdenden Fotoapparate vor allem die „Selbstüberwachung“ gehört, durch die nicht nur eine „unaufhörliche Selbstprüfung“ möglich wird, sondern auch das eigene Selbstgefühl vom „Konsum von Bildern dieses Selbst“ abhängig wird.

Warum aber und woher diese Lust, sich selbst fast in jedem Augenblick zu fotografieren und diese Bilder anderen -im Idealfall: allen – zu zeigen. In seinem Mitte des vorigen Jahrhunderts geschriebenen Buch „Die Antiquiertheit des Menschen“ hat der Philosoph Günther Anders – einer der scharfsinnigsten Kritiker der technischen Zivilisation -hellsichtig darauf aufmerksam gemacht, dass das „Bild“ und seine Reproduktion nicht nur ein zentrales Phänomen der modernen Gesellschaft darstellt, sondern er hat auch eine Erklärung dafür versucht, warum wir alles, vor allem aber uns selbst, im Bild festhalten wollen.

Im Bild, so Anders mit einer originellen These, versuchen wir, der „Malaise unserer Einzigartigkeit“ zu entgehen. Anders als die technischen Dinge, mit denen wir unser Leben teilen und deren Kennzeichen darin besteht, dass sie seriell hergestellt werden, erlebt sich der Mensch als zufällig und einmalig -und empfindet dies als Makel. Der vielgescholtene Egoismus, der sich in der Inflation der „Selfies“ ausdrücken könnte, erweist sich bei genauem Hinsehen als das Gegenteil eines gelebten Individualismus: Selbst sein, ja! Aber nur nicht einmal, nur nicht in einem Hier und Jetzt, sondern als Abbild, wieder und immer wieder. Jedes Foto bestätigt mich in der Möglichkeit meiner Wiederholbarkeit. Deshalb stört es an den „Selfies“ auch nicht, dass sie alle nicht nur aus technischen Gründen einander ähneln -die Armlänge als die für alle geltende Distanz zwischen Objekt und Kamera fundiert ihre Ästhetik -, sondern ähnliche alltägliche und banale Situationen festhalten.

Im Gegensatz zu den digital bearbeiteten und geschönten Fotos, die der Werbung und Repräsentation dienen, lebt das Selfie auch von der Unzulänglichkeit des Augenblicks: verrenkte Posen, die gespitzten Lippen, der Arm, der die Kamera hält, schräge Blicke und hängende Zungen: alles ist möglich. Der gelebte Augenblick muss festgehalten werden, mein gelebter Augenblick muss festgehalten werden, ich muss mich festhalten. Dass dieses festgehaltene Ich anderen gezeigt wird, von diesen akklamiert werden soll, bestätigt die Existenz in der Reproduktion. Nicht ich, wohl aber mein Bild soll von allen wahrgenommen und bewertet werden. Das Soziale erschöpft sich in der reduzierten Kommunikation über die Flut der Bilder. Günther Anders nannte dieses Phänomen „Ikonomanie“ – eine manische Bildsucht, die Wirklichkeit in ihrem Abbild aufzuheben, von allem und vor allem von sich selbst unzählige Kopien herzustellen. Wir leben, weil wir selbst Bilder von uns machen können. Und je mehr Bilder, desto mehr leben wir. Bis wir nur noch in den Bildern und nicht mehr im Leben leben.