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Tschernobyl und der Atomkrieg

Sarah Wetzlmayr

Relativ unbeachtet blieb bei der Berichterstattung über die Katastrophe von Tschernobyl die militärische Tragweite des SuperGAU. Die ob eines skurrilen Zufalls möglicherweise Schlimmeres verhinderte. So könnte man eigentlich sagen: Der Anfang vom Ende des Kalten Krieges geschah in Tschernobyl.
Text: Sarah Wetzlmayr

Es sei das größte Radar der Welt gewesen, schreibt die ZEIT online über das Raketenspähsystem Duga 1. Und unermesslich wichtig für das sowjetische Militär, vor allem in Hinblick auf den jahrzehntelang befürchteten, atomaren Erstschlag seitens der USA. Wie es der Zufall will, lag die westliche Ausgabe des sowjetischen „Woodpeckers“ (eine weitere Anlage für die Erspähung der Bedrohung von der Ost-Seite befindet sich nahe Komsomolsk) innerhalb der nach dem GAU verseuchten Sperrzone rund um Tschernobyl, ein schwerer Schlag für die Truppen der UdSSR. So könnte es also sein, dass eine atomare Katastrophe undenkbaren Ausmaßes, die vielen tausend Menschen Leid und Tod brachte, der Welt weitaus schlimmeres, den atomaren Overkill nämlich als Folge eines nuklearen Schlagabtausches der Großmächte, ersparte. Wie lässt sich das nur zusammendenken?

Das größte Radar der Welt stand in Tschernobyl

Kommt man an diesen Ort und steht vor diesem gewaltigem Stahlmonster Duga 1 – dem angeblich größten Radar der Welt – und ist erstmal an dem Schild „Halt, hier wird scharf geschossen!“ vorbeigegangen – vermutet man zunächst nicht, dass die Katastrophe von 1986 auch den Anfang vom Ende des Kalten Krieges bedeutet hat oder haben könnte. Denn im Herzen der sowjetischen Atomkriegspolitik hatte dieses Stahlungetüm seine zahlreichen Äste ausgebreitet. In einem Gespräch mit der ZEIT online erklärt Matthias Uhl, Wissenschaftler am Deutschen Historischen Institut in Moskau die Rolle der Duga 1 während des Kalten Krieges so: „Das System war in der Lage, Ziele in einer Entfernung von bis zu 9.000 Kilometern aufzuspüren“. Nur zum Vergleich: Von Tschernobyl nach New York sind es ungefähr 7.500 Kilometer. Somit ist eines ziemlich klar: Der amerikanische Luftraum sollte mit diesem Monster aus Stahl unter Kontrolle gebracht werden.

Duga 1 lauschte weiter als bis nach New York

Duga 1 war also in der Lage, Atomsprengköpfe oder Atomraketen aufzuspüren, um für einen zeitnahen Vergeltungsschlag gerüstet zu sein. Frei nach dem Motto: Bevor eure Rakete bei uns einschlägt, haben wir unsere schon längst abgefeuert. Auf dieser Systematik beruhte schließlich das gesamte System der atomaren Abschreckung, die für ein eisiges Gleichgewicht zwischen Ost und West sorgte und letztlich verhinderte, dass einer der beiden losschlug.

Specht aus Tschernobyl

So war auch das Kurzwellensignal, das Duga 1 erzeugte, für viele sehr lange ein großes Mysterium. „Woodpecker“ nannte es die NATO, weil es sich wie das Klopfen eines Spechts anhörte. Wilde Klischees rankten sich um das Signal – von Wetterbeeinflussung über Bewusstseinskontrolle bis zur Störung des westlichen Rundfunks war alles dabei. „Bei Duga 1 handelt es sich um ein Überhorizontradar, das im Kurzwellenbereich arbeitet und zur Reichweitenerhöhung Reflexionen der Ionosphäre nutzte und so eine Ortung über die Erdkrümmung hinaus ermöglichte“, so der Militärexperte Uhl im Artikel der ZEIT. Nach dem 26. April 1986 war jedenfalls auch die Duga fest unter dem Strahlenmantel eingeschlossen und konnte damit ihre Funktion nicht mehr erfüllen.

Seltsames Detail am Rande der Katastrophe: Man wollte Duga 1 als Jugendferienheim zu tarnen. Klingt nicht nur seltsam, ist auch so, betrachtet man dieses Ungetüm.

Foto: Олег Михайлович