AKUT
Bitches Brew für alle!
Warum wir es den Kindern schwer machen müssen.
In der legendären TV-Serie „Mad Men“ gibt es die Szene, in der der Hauptdarsteller mit der Geburtstagstorte für seine Tochter im Auto vor das Haus rollt…langsam vorbeifährt und dann Vollgas gibt. Um erst am Abend, als das Fest vorbei ist, wiederzukommen. Der Traum. Man muss selber gar keine Kinder haben, es genügt schon, welche zu kennen: Die Kinderparty ist Essenz und Sinnbild von allem, dem man sich entwachsen fühlt, abgesehen davon, dass man die Nerven für den Lärmpegel noch nie hatte. Man topfklopft und die Lieder sind Spongebob-Raps, weil vermeintlich kindgerecht. Aber da muss man durch, es ist ja für Kinder. Oder? Umso erstaunlicher war mein Erlebnis vor einiger Zeit auf dem Fest eines Dreijährigen. Er ist das vierte Kind der Familie und wir tanzten zu allem Möglichen. Von R.E.M. und Seiler und Speer bis System Of A Down oder Prince. Die Kinder sangen teilweise begeistert die Texte mit. Alle hatten eine Mordsgaudi. Ich amüsierte ich ernsthaft. Die Mutter des Kleinen sagte, spätestens nach Kind 3 habe sie beschlossen: Alles, was hier konsumiert wird an Kultur, muss einfach auch zumutbar sein.
Das war eine bahnbrechende Erkenntnis. Erstens: Ich konnte selber die ganzen Schlumpf-CDs verschwinden lassen. Zweitens: Ich erkannte den Sinn dahinter, nämlich den großen, wirklich wichtigen. Kindern, denen „Bitches Brew“ von Miles Davis zugemutet wird, kreischen wohl vor lauter Ohrenweh, aber sie haben einfach das Privileg, es kennengelernt zu haben. Sie merken, dass es ein Leben abseits der Parallelwelt einer Helene Fischer, dafür mit Mozart und eben Miles Davis gibt. Und all das sein darf. Kinder, die sich einen Picasso anschauen dürfen, können feststellen, dass der Herr es verstand, auf einer Skizze von ein paar Pferden und ihren Reitern und ein paar Hügeln mit Bleistift auf Papier eine Nachmittagsstimmung zu vermitteln, die den Betrachter das goldenen Licht förmlich spüren lässt. Auch wenn sie sich im Museum angesichts all der blöden Schinken an der Wand vor Langeweile am Boden wälzen, sie haben sie sehen dürfen, sie bekommen die Chance, die Transzendenz dieser Werke vermittelt zu bekommen. Und sie später selber auch zu suchen, wenn ihnen danach ist. Denn irgendwas sickert immer, wenn es sich um Kunst handelt. So sind wir Menschen gestrickt, Gott sei Dank.
Träumen wir also einmal von einer kollektiven Gewohnheit, die wir als Kleinkinder schon anerzogen bekommen: von der Neugier als Tugend. Von der Fähigkeit, auf alles, was uns fremd ist, zuzugehen und es kennenzulernen oder zu untersuchen. Aus erlebnisreichen Kindern wer den kaum erlebnisunwillige Erwachsene. Erlebniswillige Erwachsene entwickeln automatisch eine Neugier auf das hinter dem nächsten Tellerrand. Und im besten Fall kommen sie schwerer in Gefahr, in der Beurteilung in veralteten Denkmustern zu erstarren. Vielfalt aushalten können bewahrt ziemlich sicher vor der Angst vor Fremdem. Womit wir einerseits beim Thema Flüchtlinge oder Rassismus sind, andererseits beim Fußball. Erlebniswillig wie ich bin, werde ich also der EM folgen, mich mit reißen lassen von dem Sog der Ereignisse, dem Finale entgegenfiebern, Wetten verlieren und den Sieger feiern oder betrauern. Um nach zwei Wochen von den Geschehnissen keine Ahnung mehr zu haben, denn inhaltlich sperrt sich da was in mir in Bezug aufs Langzeitgedächtnis. Aber die Stimmung, die hab ich gespürt. Und: „Bitches Brew“ habe ich jetzt schon öfter gehört. Es ist quasi das Abseits der Musikwelt. Entweder man versteht’s oder nicht. Ich versteh’s nicht. Aber ich bleibe neugierig.
Wenn sie nicht liest oder Musik hört, arbeitet die zweifache Mutter selbstständig als Kommunikationsmanagerin und freie Autorin.