KULTUR

Hip-Hop – Der Sound der Millennials

Ein paar Tage der Erleuchtung am Frequency Festival, wo sich jeden Sommer das österreichische Festival­publikum mit der höchsten Trichterbierdichte und gleichzeitig der größten FM4-Affinität trifft, lassen uns mit fast wissenschaftlicher Überzeugung konstatieren: Mainstream-Rock ist tot, es lebe der Hip-Hop als musikalischer Schutzheiliger der Generation Y.

Text: Markus Höller

Freilich, „echte“ Rockfestivals wie Wacken oder auch das heimische Nova Rock setzen immer noch vorwiegend auf laute Gitarren, aber auch hier setzen sich immer mehr Bands durch, die nach der Crossover-Bewegung der 90er ­bewusst Hip-Hop-Elemente einfließen lassen. Hip-Hop, das ist der musikalische Sammelbegriff für im Wesentlichen alles, was auf knochentrockene Beats und wummernde Bassläufe – aus dem Funk und Soul entlehnt – und Rap setzt. Während Hip-Hop in den 80ern noch fast ausschließlich in der ­afroamerikanischen Szene anzutreffen war, übernahm er nach den letzten großen noch vom Rock ’n’ Roll abstammenden Strömungen Grunge, Britpop, Post Punk oder Nu Metal end­gültig das Ruder. Ein Ende ist nicht in Sicht. Hip-Hop nebst all seiner Derivate und Subgenres be­ansprucht für sich nicht nur die Innovations-, sondern auch die Marktführerschaft.

Einer der Headliner des Frequency 2018: Fünfhaus-Rapstar RAF Camora. Foto: (c) Markus Höller

Festivalstimmung abseits des Festzelts des Frequency: ab ins kalte Nass. Foto: (c) Heimo Spindler

Das wissen auch Medienmenschen, und so wird beispielsweise in Österreich mit FM4 die amtliche Radio-Instanz für angesagte ­Musik entsprechend bespielt. Und das Frequency wird vier Tage lang zur Pommes- und Bier-Version des Senders, heuer bereits zum zehnten Mal in den Badlands der Autobahnabfahrt St. Pölten Süd. Ich hatte zumindest das angenehme Glück, mich dort in der Glamping-Hütte einer Freundin einnisten zu dürfen, und konnte dabei gleich noch was über die Festivalkultur der Millennials lernen. Wo vor um wirklich teures Geld angemieteten Holzhütten inkl. Strom, Licht und Bett zwar warmer Zitronenradler und Diskontschnaps in der Sonne schmurgeln, aber aus kleinen Bluetooth-Boxen eine Mischung aus belangloser EDM, Deutschrap und Volksmusik plätschert und über allem eine junge Frauenstimme ruft: „Heast, ich kann meinen Wimpernkleber nicht finden!“ – da geht es schon lange nicht mehr um Musik. Sondern um ein ­Gesamtphänomen.

Im Idealfall kommt ein Hip-Hop- Song so schnell auf den Punkt wie früher die ­Ramones, ist aber von echten In­s­trumenten befreit und mit pulsierenden ­Beats ­unterlegt.

Was hat man früher mit musikalischen Leitfiguren, Popstars und Musikbusiness verbunden? Meisterliches Songwriting, he­rausragende Gesangs/Instrumentaltechnik, Charisma, ausschweifenden Lebensstil und nicht zuletzt einen Haufen Drogen. Nun haben sich dank zunächst günstiger Hardware, Internet und in letzter Konsequenz Social Media aber Möglichkeiten eröffnet, ohne den mühsamen Weg des Probens mit einer Band oder Gesangskünsten ausgestattet Musik zu machen. Mit anderen zu teilen. Sie vor Publikum zu präsentieren. Und Hip-Hop bietet aufgrund seiner Struktur den idealen Rahmen dafür: Beats, Loops, Samples und mehr oder weniger gesprochenes Wort, mit leistbaren Computern ­produziert. Eh alles nix Neues, aber jetzt eben selbst ohne formelles Üben reproduzierbar. Und auch gänzlich ohne Tonträger oder Label.

Als vorläufiger Höhepunkt unter den hausgemachten Low-Budget-Produktionen ist seit einiger Zeit Cloudrap richtig angesagt, zu Hause produzierter Hip-Hop mit ­tragenden Synths und unter heftigem Einsatz von Auto-­Tune gemurmelten Texten. Gleich einer der ersten Acts nach meiner Ankunft am ­Frequency ist einer der populärsten Vertreter des Genres aus Österreich, der Wiener Yung Hurn. Und obwohl er auf einer riesigen Bühne dann doch verlorener wirkt als auf YouTube oder der namens­gebenden Internet-Plattform Soundcloud, ist die Begeisterung im Publikum spürbar.

WIENER-Autor Markus Höller: „Wenn du in Rom bist, mach es wie die Römer. Ich bin für Selfies generell untalentiert, daher machte eine Freundin das Foto von mir am Frequency.“ Foto: (c) Nina Krenn

Beste Festivalstimmung as usual beim Frequency. Foto: (c) Markus Höller

Hip-Hop kommt schnell zur Sache. Bei nachweislich sinkenden ­Aufmerksamkeitsspannen in der ­Bevölkerung sind Ouvertüren und Songstruktur nicht mehr wichtig. Im Idealfall kommt ein Song so schnell auf den Punkt wie früher die Ramones, ist aber eben von echten Instrumenten befreit und mit pulsierenden Beats unterlegt. Die Hookline oder Melodie wird aus ökonomischen Gründen meist aus vorhandenen Gassenhauern gesampelt. Grund: In den Playlists von Handys und Streaming­diensten wird von ungeduldigen ­Jugendlichen ganz schnell zum nächsten Titel gesprungen, wenn sich nix Spannendes tut. Darüber hinaus hat Hip-Hop weiters die angenehme Eigenschaft, mit praktisch jeder Sprache kompatibel zu sein. So wird im Gegensatz zur englischsprachigen Dominanz in jedem Populärmusik-Genre seit dem Rock ’n’ Roll hier viel mehr muttersprachliche Musik gemacht. Die Sprachbarriere fällt, auch der lingual untalentierte Karli aus St. Pölten versteht jedes Wort, das er in Sidos „Arsch­fickersong“ hört. Aber auch in kritischen Stücken. Das macht den Kontext aus Musik und Text begreifbar, das ist „relatable“, wie ein Millennial sagen würde. Jeder kann Textzeilen auswendig lernen und mit ein wenig Übung so rappen wie der Künstler, dazu muss man weder singen noch ein In­stru­ment spielen können. Die Grenzen zu anderen Genres sind fließend, Hip-Hop wirkt überall ein. Sogar Weißer-als-weiß-Pop wie der von Taylor Swift versucht sich an ein paar Sprechgesang-Versen, und eine Diva wie Adele zeigt im ­beliebten TV-Format Carpool ­Karaoke beachtliche Rap-Skills. Kein Musiker kommt heute mehr an Hip-Hop vorbei. Okay, Bob Dylan schon.

Die herausragendsten Eigen­schaften des ­Hip-Hop sind jene, die dem Rock ’n’ Roll schon vor einiger Zeit abhanden kamen: Grenzüberschreitung und Provokation.

Man kann nun endlos darüber diskutieren, ob unterschiedliche Stilrichtungen wie beispielsweise EDM oder Hardstyle überhaupt noch dem Hip-Hop zuzurechnen sind, aber das ist irrelevant. Denn die herausragendste Eigenschaft ist die, die dem Rock ’n’ Roll schon lange abhanden gekommen ist: Grenzüberschreitung und ­Provokation. Mit abgebissenen Fledermausköpfen oder Antichristgehabe kann man junge Menschen nicht mehr beeindrucken. Mit höchst kontroversen und derben Verszeilen, Gesichts­tattoos oder dem öffentlichkeitswirksamen Konsum von Rauschmitteln auf Hustensaftbasis aber schon. Noch zumindest. Jugendliche und junge Erwachsene wollen zwei Dinge: Es muss ordentlich knallen, und zwar sofort. Und Hip-Hop darf das alles, weil er sich schon in ­seiner Erschaffung komplett aller starren Formal­zwänge entledigt hat. Einziges Kriterium: die ­Credibility, also Glaubwürdigkeit. Wer im Villenviertel aufgewachsen ist, braucht niemandem den Gangster-Rapper weismachen. Und da hakt der Hip-Hop bei der Generation Y ein: In Zeiten von Fake-News, Photo­shop und Instagramfiltern wollen sie Künstler, die authentisch sind. Und sie ­bekommen sie.

Festivalgelände Frequency 2018. Foto: (c) Heimo Spindler

Veranstalter wissen das, und dementsprechend fallen mittlerweile auch die Bookings bei den beliebten Festivals aus. Hauptsache viele Namen im Line-up, denn Festivals sind im Wesentlichen heute nur noch groß angelegte Kirtage mit Camping, Hintergrundmusik und WLAN. In Zeiten, in denen bei Rockfestivals als Abend-Headliner noch ein Gigant wie Metallica abräumt, nur damit dann mitten in der Nacht Klamauk von Otto Waalkes oder David Hasselhoff als Late Night Special nachfolgt, ist nichts mehr heilig. Hip-Hop ist da wesentlich gnädiger. Auch sehr entfernte Subgenres lassen sich noch immer irgendwie in eine Klammer setzen, daher darf in den Augen der Zuhörer auch ein EDM-Star wie Hardwell auf derselben Bühne gleich nach Macklemore spielen. Kann man machen, denn am Ende zählt für das Publikum das Paket aus Gesamtentertainment, Bier und Selfies.

Auf die Frage also, warum gerade Hip-Hop unter den zwischen den frühen 80ern und späten 90ern Geborenen heute so angesagt ist, gibt es kaum eine rationale ­Antwort. Mitentscheidend ist auf jeden Fall die enge Verknüpfung von Musik, Persönlichkeit, Statussymbolen – ausführlich auf Social Media dokumentiert. Erfolg wird im Hip-Hop seit jeher mit Bargeld, Gold, dicken Autos und Marken­kleidung gemessen, hier gab es nie Berührungsängste. Und genau ­dieses System wurde von vielen Hip-Hop-Künstlern 1:1 in die bunte, strahlende Welt von Insta­gram übernommen – dem elektronischen Schwanzvergleich via ­Fotoalbum. Millennials definieren sich und alles, was sie sich geschaffen haben, über ihre Profile wie mit einem Lebenslauf.

Wie Rapper eben auch. Medien­phänomene wie Beyoncé oder die Kardashian/Jenner-Gelddruck­maschine entkoppeln dieses System sogar noch von der Musik und ­haben so das postmoderne Idol ­erschaffen: den Popstar, der gar ­keinen Pop macht. Ich warte noch auf den ersten stummen Rapper.