AKUT
MemoryLane. Wir sterben weil wir es treiben
Die Evolution hat es so gewollt: Seit wir unseren Genpool per Sex auf die nächste Generation transferieren, wohnt der Tod gleich nebenan. Das Leben geht weiter, auch ohne unsere körperliche Hülle.
Text: Manfred Sax
Als der Philosoph Voltaire am Totenbett lag, beschwor ihn der Priester, vor dem Ableben den Teufel zu verdammen. Der Denker lehnte ab: „Dies ist nicht die richtige Zeit, um neue Feinde zu machen.“ Du kannst noch gut bei Sinnen sein, ehe du von dannen gehst.
Niemand kommt hier lebend raus
Es ist sinnlos, sich vor dem Tod anzumachen, wir waren vor Geburt mehrere Milliarden Jahre tot, und es hat uns nicht wehgetan. (1) Und klar ist: Keiner von uns kommt hier lebend raus. Der Tod, dieser Zustand des Organismus nach Beendigung des Lebens, wird unser Zustand sein. Aber warum? Warum sterben wir? Simple Antwort: Weil wir Sex haben. Wir sterben, weil wir Kinder machen, soll heißen, weil wir Mehrzeller sind, und diese Zellen die Angewohnheit haben, sich die Arbeit zwecks Erfüllung des primären Lebenszwecks – nur nicht sterben – zu teilen. Die einen, Keimzellen genannten Dinger sorgen für den Transfer unseres Genpools auf die nächste Generation, womit das Überleben zunächst gesichert ist. Der Rest – das Soma – ist für unseren individuellen Organismus zuständig. Und stempelt uns zu lebenslangen Todgeweihten. Okay. Aber warum sind wir dann nicht Einzeller geblieben? Tja, sagt der Biologe, das hat mit Evolution zu tun. Die erste Zellteilung war ein immenses Ereignis in der Geschichte des Lebens, sie ermöglichte auch Arbeitsteilung. Das machte Energie für das frei, was wir als höhere Entwicklung verstehen. Und knapp einskommafünf Millarden Jahre nach der ersten Zellteilung steht das Bakterium von einst als Homo sapiens im Raum. Natürlich existieren Einzeller noch immer, Bakterien und Amöben sind verdammt zäh und kaum umzubringen, vielleicht gibt es sie auf anderen Planeten, irgendwo unter einer Schicht aus Eis. Aber wer möchte mit so einem Ding tauschen, wo bleibt da der Spaß? Jener Spaß vor allem, den uns dieses faszinierende Prinzip der Evolution quasi als Trostpflaster hinterlassen hat, erstaunlicher Weise so raffiniert, dass wir heute imstande sind, zum Mars zu fliegen, aber immer noch so vögeln wie der erste Mensch. Warum? Weil wir es nicht anders wollen.
Obige Erkenntnis vom Zusammenhang zwischen Sex und Tod, die vom deutschen Biologen August Weismann erarbeitet wurde, ist erst 130+ Jahre alt. Aber ein entsprechender Verdacht wurde bereits 300+ vor Christus geäußert, wenngleich anders ausgelegt. Auch Aristoteles glaubte, dass wir sterben, weil wir es treiben, nur zog er daraus den an sich geraden logischen Schluss, dass jeder sexuelle Akt das Leben verkürze. Und klar, wäre aus dir im Lauf der Evolution kraft einer Abzweigung vor zig Millionen Jahren nicht ein strammer Homo sapiens, sondern eine Gottesanbeterin geworden, nämlich das Männchen zu dieser Fangschrecke, die ihren Lover nach dem Sex auch noch verspeist, dann wärst du ganz auf Seite des alten Griechen. „Stimmt“, würdest du sagen, „Sex ist ein Scheiß-Deal.“
Mädchen des Moments
Die sexuellen Ansichten des Aristoteles behielten lange ihre Gravitas. Noch im barocken 17. Jahrhundert grübelten metaphysische Denker an dem verflixten Dilemma herum, dass ausgerechnet die netteste Sache der Welt den Tod näher bringt – und zogen im Zweifel zumindest verbal ihren Penis aus dem Verkehr, um den Orgasmus als „kleinen Tod“ zu verewigen. „Da solch ein Akt, wie es heißt, das Leben um einen Tag verkürze, werde ich nie wieder lieben und Dinge verfolgen, die mir nur Schaden bringen“, schrieb der Dichter John Donne. (2)
Allerdings war diese Erinnerung an Aristoteles wenig mehr als eine Reaktion auf die Rückkehr der Lebenslust, die da mit der Renaissance im 15. Jahrhundert angebrochen war. Nach 1.000 Jahren des mittelalterlichen Schreckens und der religiös entfachten Finsternis, in der wahr nur sein durfte, was in der Bibel stand, und das Diesseits als schnöder, vorzugsweise harter Prüfstein für das ewige Leben im Jenseits abgehakt wurde, durfte das irdische Dasein wieder Spaß machen. Schwer zu sagen, warum die Tristesse so lange dominieren konnte und warum wüste antike Spekulationen wie die Möglichkeit, dass die Erde sich um die Sonne drehen könnte, 1.000 Jahre lang zum Schweigen gebracht werden konnten. Aber nun besannen sich italienische Künstler und Denker auf die Antike zurück und verpassten dem Dasein einen formidablen Blowjob. Logisch, dass in dieser Zeit der Wiedergeburt sofort die Göttin der Liebe Sache war. Sandro Botticelli malte „Die Geburt der Venus“, die endlich nackt sein und eine rein diesseitige Sinnenfreude ausstrahlen durfte. Venus, das Mädchen des Moments; die Elite der Kunst – von Tizian bis Manet – war vernarrt in sie, die da den Tod vergessen ließ. Der Umstand, dass der Prototyp zu dieser Göttin Aphrodite hieß, Tochter des Obergottes Uranos, dem Sohn Kronos die Geschlechtsteile abgeschnitten und ins Meer geworfen hatte, wo sie dann aus samenschwangerem Meerschaum (aphros) geboren wurde, gibt heute noch tolle Nahrung für aktuelle Gedanken.
Botticellis neugeborene Venus war ein Babe, sie schwebte ausgestattet mit all den weiblichen Attributen, die so zeitlos die männlichen Gedanken benebeln, übers Meer, wenngleich mit ausreichend langem Kopfhaar versehen, um die Pose als „keusch“ durchgehen zu lassen. Immerhin machte ihre Darstellung klar, dass der lustfeindliche Vorbehalt gegenüber Eros und Sex, der seit anno Neues Testament das Sagen hatte, eine Sache von gestern war. Manifest war fortan, dass „die Freude am Körper und das Spiel der Sinne ihren Wert in sich selbst haben können.“ (3) Obwohl eine Referenz an das Leben nach dem Tod noch immer nicht fehlen durfte, der Papst war weiterhin mächtig. Aber das Leben, der bisherige lustfeindliche Prüfstein, durfte nun auch „ein beglückendes Vorspiel für die Seligkeit in der kommenden Welt“ sein. (3)
Seuche Tod, Impfstoff Sex
Mit der Rückkehr der Lebenslust in der Renaissance erwachte auch der Wissensdurst, und in den paar hundert Jahren danach zeigte der Mensch, was in ihm steckt. Er kann das Universum erforschen, er kann seinen Planeten ruinieren. Alles ist möglich, und Sex spielt immer eine Rolle. Zumal, wenn Terror den Tod beschwört. Der erste „Wo warst du?“-Moment dieses Jahrhunderts ist heute als 9/11 Geschichte. Und das, was dann in privaten Gemächern folgte, als „Terrorsex“. Neun Monate später verzeichneten die USA einen Baby-Boom. Geht es nach der Wissenschaft, lässt sich so was kaum verhindern. Derlei heftige Ereignisse, meinen sie, provozieren einen radikalen Wandel der Prioritäten. Arbeit und Besitz zählen nicht mehr, nur Beziehungen werden als „echt“ erachtet. Aber warum muss da Sex her, warum reicht nicht Kuscheln? Weil der Mensch „eine Hommage an die Lebenskraft braucht“, meinte eine Soziologin namens Pepper Schwartz, die sich mit Terrorsex beschäftigte. Er will sich vergewissern, dass „ich lebe, ich funktioniere, ich real (bin). Im sexuellen Akt stecken Euphorie und Triumph, es ist die tiefste körperliche Verbundenheit, es geht um Fleisch und Haut und Herz.“ (4) Und je näher Trauma und Tragödie, umso größer das Bedürfnis nach entsprechender Verschmelzung. Wird der Tod zur Seuche, ist Sex der eine wirksame Impfstoff.
Niemand kommt hier lebend raus, wir sollten „aufhören, uns wie einen Nachgedanken zu behandeln“, sinnierte der zeitgenössische Denker Christopher Walken irgendwo online, dafür ist unsere Zeit zu knapp bemessen. Es ist gerade so viel da, um du selbst zu sein, alles andere ist primär.
Wie wärs mit etwas Sex? Prioritäten, du verstehst. Wie schon der weise Charles Bukowski mal (sinngemäß) meinte: „Finde eine Geliebte und lass sie dich töten. Lass sie dich töten und deine Überreste verschlingen. Denn letztlich bringt dich alles im Leben um, da ist es viel besser, von einer Geliebten umgebracht zu werden.“
(1) „I do not fear death. I had been dead for billions and billions of years before I was born, and had not suffered the slightest inconvenience from it.“ (Mark Twain)
(2) „Since each such act, they say, diminisheth the length of life a day … I’ll no more dote and run to pursue things which hath endamaged me.“
(3) Eva Eisenhofer: Als die Freude am Sex den dumpfen Tod überwand, welt.de
(4) Pepper Schwartz, University of Washington, in Salon.com
Foto: Getty Images, Istock.