AKUT

Manfred Klimeks Gummizelle – Schuld und Sühne

Franz J. Sauer

Es gibt verschiedene Wahrheiten. Das weiß jeder, dem eine Ehe zerbricht. Auch in der Flüchtlingsdebatte gibt es verschiedenen Wahrheiten; nein, noch schlimmer: es gibt verschieden Wirklichkeiten. Und diese Wirklichkeiten kollidieren gerade wie zwei Hochgeschwindigkeitszüge, die auf das falsche Gleis geleitet wurden.

Doch weder die eine noch die andere Wirklichkeit spiegelt die wirkliche Wirklichkeit der Flüchtlinge, Zuwandernden und mit der Zuwanderung konfrontierten Einheimischen wieder. Man muss aber sagen: die FPÖ’ler sind mit ihrem Bild der Wirklichkeit näher an der Wirklichkeit, als das parkettbodenverwöhtne, grünwählende Innergürtel-Pack, das in Wien eine Wirklichkeit verwirklicht, die der wirklichen Wirklichkeit spottet. Der bekannte Gourmet-Journalist, die bekannte Kolumnistin, der erfolgreiche Politologe, der als abwägend und vernünftig eingestufte Innenpolitikredakteur und der kritische Dokumentarfilmer, allesamt Teil einer meinungsbildenden Elite, sagen ohne zu Zögern und mit dem Brustton der Überzeugung: Es gibt gar keine Probleme. Also keine Probleme mit der Masseneinwanderung von patriarchalisch und religiös geprägten Muslimen. Keine Probleme mit jenen, die zwar kommen und bleiben wollen, den Staat aber als Hegemon nicht anerkennen. Gott vor Gesetz und Gesellschaft? Das wird sich bei uns (und anderswo in Europa) nicht ausgehen. Das kann man mit Gewissheit sagen.

„Wir waren vor gar nicht allzulanger Zeit genauso barbarisch und brutal. Schon deswegen kann man diese Menschen nicht für ihre Religion und ihr Sozialverhalten verantwortlich machen. Diese Menschen holen sich nur zurück, was wir ihnen gestohlen haben.“

Die Schicht der Wiener Wirklichkeitsverdreher aber, die Strache und diesen teilgenormten FPÖ-Mandataren die Wählerstimmen in die (Wahl)Urnen schaufelt, leugnet die Folgen der Zuwanderung mit einer Beharrlichkeit, die auf eine kollektive Geisteskrankheit schließen lässt. Denn anders ist es nicht zu erklären, dass mir ein politischer Redakteur einer Tageszeitung neulich erklärte, dass man die Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffe, die von den hinzugekommen Asylwerbern bislang begangen wurden, mit den gleichen Taten, die Österreicher im gleichen Zeitraum begangen haben vergleichen muss. Meinen Einwand, dass die autochthone Bevölkerung Österreichs um ein Vielfaches größer wäre, als die der Anzahl der neuen Asylwerber und wir seiner Rechnung nach dann ja von hunderten Vergewaltigungen im Monat sprechen müssen, quittierte er mit der Antwort: „Genauso ist es! Die werden eben nur nicht angezeigt!“ Na klar! Da geht einem ein Licht auf! Das hat dann ungefähr das Idiotie-Niveau dieser deutschen Pegida-Kretins, die ebenfalls jede Tatsache verneinen, die ihr Weltbild ins Wanken bringen könnte.

Doch das, was ich für die Ursache dieser enthemmten Verzerrung halte, kam gleich danach wie ausgekotzt: „Wir waren vor gar nicht allzulanger Zeit genauso barbarisch und brutal. Schon deswegen kann man diese Menschen nicht für ihre Religion und ihr Sozialverhalten verantwortlich machen.“ Und: „Diese Menschen holen sich nur zurück, was wir ihnen gestohlen haben.“

Zweifellos ist es richtig, dass die Globalisierung gerade bei uns anklopft. Und zweifellos wurden die Bevölkerungen vieler dieser Länder über Jahrzehnte, manchmal auch Jahrhunderte geknechtet und auch heute existieren Reste dieser Unkultur – etwa die gestützten Lebensmittelexporten der Europäischen Union. Doch die Rückständigkeit jener Länder, aus welchen nun die Flüchtlinge kommen, hat ein Fundament mit einem einfachen Namen: Islam. Wer aber den Islam kritisiert, wird des Rassismus bezichtigt. Das ist besonders perfide, weil der Islam keine Rasse ist. Ein Islamkritiker ist also kein Rassist, sondern ein Religionskritiker. Religionskritiker aber klingt richtig richtig, ein Religionskritiker hat meistens recht. Deswegen muss der Islamkritiker ein Rassist sein. So läuft das mit dem Verdrehen der Tatsachen.

Doch es geht noch tiefer. Und zwar tiefer hinein in das kollektive Bewusstsein, tief auf den Grund, wo der Grund dämmert: die Schuld. Die Schuld an der Unmoral des Westens, die Schuld an den Gräueltaten der katholischen Kirche – und damit sind nicht nur Gräueltaten an den Muslimen gemeint – , die Schuld, die Schuldige und Opfer sucht. Hinter dem Wegsehen und Verdrängen eines großen Teils der politischen, journalistischen und kreativen Elite Österreichs steckt der nahezu pathologischer Drang, Schuld zu tragen. Nicht Verantwortung, sondern Schuld. Denn es geht um Religion. Die eigene Religion, in der man aufgewachsen ist, die man hasst und verachtet, der man meist nicht mehr angehören will und deswegen aus der Kirche ausgetreten ist, steht als verbrecherisches Monster gegen die andere Religion, die die Zuwandernden prägte, der man zwar Rückständigkeit attestiert, diese aber in völliger Verklärung geschichtlicher Wahrheiten dem Christentum zuschreibt, das in der Legende der oben genannten Eliten die Progression des Islam mit den Kreuzzügen beendet hat. Denn vorher war der Islam, so das verbreitete Meinungsbild weiter, ja die Religion der Bildung und Toleranz – und in Spanien der edelste Hegemon überhaupt. Diesen Stuss verbreitet zum Beispiel eine Politikerin der Grünen, denn ihre Zuhörer hören gerne davon, dass sie die Schlechten sind. Und die anderen, neuen, die Muslime, die eigentlich Guten, auf jeden Fall aber schuldlose Opfer, denen man Tribut zu zollen habe. Folglich sei jede Kritik an den Muslimen, ihrem Lebensverhalten und ihrer Religion einfach undifferenziert, rassistisch und die soziologischen Gründe außer Acht lassend. Mit diesen Phrasen endet die Diskussion, man kann sich zurücklehnen und seine moralische Position genießen. Denn man steht immer auf der richtigen Seite: der Seite der Anständigen.

Und so ist es ein Schuld-und-Sühne-Spiel, das die Wirklichkeit hierzulande nicht wirklich werden lässt. Ganz gegensätzlich zu anderen Ländern, wo man gleichfalls politische Korrektheit und den begleitenden Wahn kennt, aber die Defizite von Stamm-Clan-Sippe und Religion nicht unter den Teppich kehrt und die Kamarilla der Realitätsleugner nicht Oberhand gewinnen lässt. Im Land der gelebten Verdrängung jedoch setzt sie sich durch.