AKUT
Fleischkunst. Oder wie das Peckerl die Welt eroberte
Die Tätowierung hat sich längst vom Stigma des Außenseiters zum Liebling der Massen gewandelt. Julia Kosoric, Tattoo-Liebhaberin mit Leidenschaft, macht sich für den WIENER auf Spurensuche in der langen Geschichte des verzierten Fleisches.
Text und auf den Bildern: Julia Kosoric / Fotos: Johann Kopf
Ich kann mich noch ganz genau daran erinnern, wann mir klar wurde, dass ich mich tätowieren lassen werde. Ich war in etwa 16. Meine beste Freundin und ich waren mal wieder in den Bars der Wiener U-Bahn-Bögen unterwegs. Viel zu jung. Viel zu betrunken. An diesem Abend trug ich eine knallenge Jeans und dazu ein T-Shirt mit der Aufschrift „Duck You“. Nicht gerade subtil. Aber sehr effektiv, wie sich herausstellen sollte. Besagtes T-Shirt zog nämlich die Aufmerksamkeit des einzig wahren Bad Boys in jenem Club auf sich. Ich, Privatschule, „born and raised“ in 1190 – mit jungfräulicher Haut. Er, ebenfalls 1190. Jedoch aus der Ecke Gemeindebau. Vom Hals bis zu den Knöcheln tätowiert. Ich war sofort verliebt. Noch nie zuvor hatte ich – zumindest nicht bewusst – jemanden mit einer derartigen Körperbemalung gesehen. Von diesem Moment an war ich angefixt.
Aus Liebe auf den ersten Blick wurden einige Jahre Beziehung. Und diese wurde, wie es sich für wahre Rebellen gehört, mit Partner-Tattoos besiegelt. „Jimmy“ ziert noch heute die Innenseite meines linken Handgelenks.
Warum ich dieses Tattoo mit 31 Jahren noch immer nicht habe entfernen lassen? Nun, zuallererst, es hätte schlimmer kommen können. Man stelle sich nur mal vor, Bad Boys Name wäre Kevin-Pascal gewesen. Der wichtigste Grund jedoch ist die Geschichte hinter diesen fünf Buchstaben. Die Erinnerungen und Gefühle, die dieser heute bedeutungslose Name in mir auslöst. Warum aber ist uns das Nach-außen-Tragen dieser Geschichten so wichtig? Und vor allem, wie konnte die Tätowierung vom Stigma eines jeden Outsiders zum Liebling der Massen werden?
Kaiserin Elisabeth, Mitglieder des Motorradklubs Hell’s Angels, Hollywoodschauspielerin Angelina Jolie, japanische Mafiosi, Gletschermumie Ötzi, Marko
Arnautovic und sogar der letzte Kaiser Russlands, Zar Nikolaus II., sie alle haben etwas gemein: Sie waren oder sind tätowiert.
Unsere Sisi zum Beispiel ließ sich, so unkaiserlich dies auch klingen mag, im Jahr 1888 in einer Hafenkneipe einen Anker auf die Schulter stechen. Wer nun aber denkt, sie tat dies aus jugendlichem Leichtsinn, der irrt. Die Gute war damals 51 Jahre alt. Der russische Zar trug auf seinem rechtem Unterarm einen Drachen. Er ließ ihn sich angeblich während eines Aufenthalts in Nagasaki stechen. Er sollte ihm Glück bringen. Und die Haut des guten alten Ötzi, diese zierten nicht nur eines, sondern rund 50 Tattoos. Sie hatten wahrscheinlich gesundheitliche Gründe. Die 5300 Jahre alte Mumie litt zu Lebzeiten nämlich an Arthrose. Und die Zeichen unter seiner Haut dienten dazu, Akupunktur-Punkte zu markieren und damit Schmerzen zu lindern.
Anfang der 60er-Jahre war die Tätowierung ausschließlich am Rande der Gesellschaft zu finden. Von Outlaw-Bikern, Seemännern, Knastbrüdern und Hippies wurde sie als Zeichen von Rebellion und Brüderschaft getragen. Erst Anfang der 90er-Jahre etablierte sich das Tattoo langsam in der Mitte unserer Gesellschaft. Fußballer, Musiker und andere Prominente schafften hierfür die perfekte Bühne. Seine plötzliche mediale Präsenz machte die bislang verachtete Körperbemalung rasch zu einer Art Statussymbol der Oberklasse.
Auch Dr. Oliver Bidlo, studierter Kommunikationswissenschaftler und Soziologe, ist der Meinung, dass diese plötzliche, unübersehbare Allgegenwärtigkeit dem Tattoo dazu verhalf, mainstreamtauglich zu werden. Der gebürtige Deutsche widmet sich seit einigen Jahren dem Thema der sozialen und ästhetischen Bedeutung von Tattoos. Für ihn jedoch ist sich tätowieren zu lassen vielmehr eine konservative Handlung, also ein Akt der Auflehnung.
„In einer Zeit, wo Beziehungen erodieren und von Lebensabschnittspartnern gesprochen wird, wo Arbeits-, Lebens- und Liebesverhältnisse, politische Systeme wie Ansichten und gesellschaftliche Krisen die Planbarkeit des eigenen Lebens schwieriger machen, wirkt ein Tattoo wie ein Anker, ein unveränderbarer Bezugspunkt, an dem man sich festhalten kann. Und das macht auch deutlich, warum das Tattoo in unserer Mitte angekommen ist; weil jene Mitte diesen Veränderungen am stärksten ausgesetzt ist. Mögen Begriffe wie Postmoderne und Globalisierung über die Köpfe der Menschen hinwegfegen und deren Leben durcheinanderwirbeln; ein Tattoo hält diesen Stürmen stand.“
An diesem Punkt stellt sich die Frage: Erfüllt die Tätowierung dann noch ihren eigentlichen Sinn, wenn sie angeblich nicht mehr als der Wunsch nach Sicherheit ist?
„Der Zweck der Tätowierung ist heute wesentlich durchwachsener als in früherer Zeit. Heute will man sich mit einem Tattoo in der Regel nicht mehr außerhalb der Gesellschaft platzieren und tut dies auch kaum noch. Das Tattoo wechselt zwischen Abweichung von der Norm bei gleichzeitiger gesellschaftlicher Akzeptanz. Vor allem aber kann man mit einem Tattoo Teile der eigenen Biografie, eigene Überzeugungen oder Werte in Szene setzen und diese für sich und für andere ausdrücken“, erklärt Bidlo weiter.
So kann man zusammenfassen: Die Tätowierung ist heute eine „gesellschaftlich akzeptierte Form der Andersartigkeit“ – der Liberalisierung unserer Gesellschaft sei Dank.
Es ist Dienstag. Kurz vor 20 Uhr. Ich bin auf dem Weg zum Tätowierer meines Vertrauens. Siri ist einer der Letzten vom alten Schlag. Seine Geschichte als Tattoo-Handwerker und Künstler beginnt bereits im Jahr 1983, als die Szene noch völlig Underground war. Japanische, buddhistische und orientalische Motive sowie Totenköpfe, starke Kontraste und massive Linien prägen seine Arbeiten. Beim Öffnen der Eingangstüre erinnert mich Siri jedes Mal an einen großen, bunt bemalten Bären. Der Arbeitsraum des Bären ist eine Mischung aus Opiumhöhle der 70er-Jahre und Thailandurlaub. Es dringt kein Tageslicht durch die Fenster. Sie sind mit unzähligen Stencils (also Tattoo-Vorlagen) zugeklebt. Überall stehen Gemälde, Pinsel und unzählige Erinnerungsstücke. Eine handbemalte Schaufensterpuppe ziert eine Ecke des Zimmers. Wie bei jedem meiner Besuche hängt der Duft von Räucherstäbchen in der Luft.
Ich frage mich, warum es eigentlich immer nur Randgruppen waren, welche sich mit Tätowierungen beschäftigt haben, zumindest bis heute. Man findet unter Tätowierern ja ebenso Grafiker und Kunsthochschulabsolventen. Alles andere als Randgruppen also. Laut Siri kämpften Tätowierungen mit denselben Vorurteilen wie auch die damaligen Jugendbewegungen. Punks, Rocker, Skinheads – sie alle wurden von der Gesellschaft ausgegrenzt und genossen einer eher schlechten Ruf. Tätowierungen waren also das perfekte Ventil, um das wiederzugeben, was diese Szenen
repräsentierten und lebten. Die perfekte Symbiose also. „Tätowierungen sind das perfekte Tool, um sein Innerstes nach außen zu kehren. Seine Liebe, seine Hoffnungen seinen Glauben und auch seinen Hass. Ebenso lassen sich mit ihnen Konflikte und Knoten im Inneren auflösen. Für mich sind sie viel mehr als nur die Verschönerung der Haut. Es ist eine Art Therapie. Sie stärken die Psyche und regen das Immunsystem aufgrund der Wundheilung an“, erklärt Siri.
Um vielleicht ein bisschen besser verstehen zu können, warum die Menschheit schon seit Jahrhunderten ihre Seele auf der Haut trägt, schickt Siri mich auf eine gedankliche Reise nach Neuseeland. Die Maori, die Indigenen Neuseelands, und deren Gesichtstätowierungen, Tã Moko genannt, sind das perfekte Beispiel dafür, welche Rolle Körperkunst in der Gesellschaft spielen kann. Im 17. Jahrhundert trugen männliche Maori ihre Tã Mokos meist im Gesicht, aber auch am Rücken, dem Hintern und den Waden. Bei Frauen waren sie meist auf Lippen, Kinn, Stirn, Rücken und Schenkel zu finden. Ursprünglich wurden Tã Mokos nicht mit Nadeln gestochen. Die verwendeten Werkzeuge wurden aus Knochen, Steinen oder Haifisch-Zähnen gefertigt. Eingearbeitet wurden die Symbole mit einer Art Kratztechnik, welche narbige Unebenheiten auf der Haut hinterließ. Die Farben wurden aus natürlichen Materialien wie verbranntem Holz gewonnen.
Das Wichtigste war jedoch: Jede Tätowierung sagte etwas über ihren Träger aus. Sozialer Status, Familienstand, Abstammung und persönliche Leistungen. Wer eine Tätowierung trug, der war jemand. Jemand mit Rang und Namen. Jemand voller Kraft und Energie. Ein Vorbild.
Die Uraspekte des Tattoos haben sich bis heute also nicht unbedingt verändert. Lediglich seine Träger. Im 21. Jahrhundert zeigen die Körperbilder eben Erinnerungen, Vorlieben, Ansichten oder wichtige Momente im Leben. Meistens jedenfalls.
Ich bin keine Weinkennerin. In Folge werde ich wohl auch nie einen edlen Tropfen zu schätzen wissen. Wein ist für mich nicht mehr als ein Mittel zum Zweck. Der Geschmack ist dabei eher nebensächlich. So verhält es sich vielleicht auch bei Tätowierungen. Für einige sind sie Kunst, ein Ausdruck von Freiheit und Anderssein. Für andere wiederum sind sie nicht mehr als ein weiterer Trend, dem es zu folgen gilt. Etwas, um sich dazugehörig zu fühlen – in etwa so wie Buffalo-Schuhe oder Bauchtaschen.
Die Entwicklung des Peckerls hin zu einem Trend empfindet Siri als normal, wenn er sie auch nicht unbedingt befürwortet oder gutheißt. Die Grundphilosophie ging durch den Mainstream nämlich verloren. Tattoo-Maschinen, die früher wie alte Diesel-Motoren surrten, werden heute immer leiser. Der Schmerz, welcher beim Tätowieren schon immer eine große Rolle spielte – in Borneo zum Beispiel sind Tätowierungen Teil eines Übergangsritus vom Kind zum Erwachsenen, der Schmerz soll ihn auf einen neuen Lebensabschnitt vorbereiten –, wird heute gerne mittels diverser Cremchen unterdrückt.
Dr. Bidlo sieht dies ähnlich: „Über den Schmerz erhält das Tattoo auch ein gewisses Maß an Ernsthaftigkeit. Schmerz lässt man sich in der Regel nur dann zufügen, wenn es wichtig oder unumgänglich ist. Damit wird der Schmerz auch ein Teil des zurückzulegenden Weges, den man für ein Tattoo gehen muss. Dahinter steckt genau das: Das Tattoo stellt über den Schmerz und dann über das Wissen der Dauerhaftigkeit einen Übergang in ein neues Körper- und Selbstbild dar.“
Nach so viel Tiefgründigkeit und einer Runde Geschichtsunterricht ist es an der Zeit, auf den Boden der Tatsachen zurückzukommen. Eine im Jahr 2016 vom Linzer Marktforschungsinstitut IMAS durchgeführte Studie zeigte auf, dass fast ein Viertel aller Österreicher/innen tätowiert sind. In Deutschland werden pro Jahr rund zwei Millionen Tätowierungen gestochen. Die knapp 7000 Tattoo-Studios erwirtschaften dort einen Umsatz von rund 50 Millionen Euro pro Jahr. Womit auch der wirtschaftliche Aspekt des Trends zur Tätowierung einen beachtlichen Stellenwert erreicht.
Ein Handwerk, welches früher nur einige wenige beherrschten, hat sich zu einer boomenden Industrie entwickelt. An weltweiten Tattoo Conventions nehmen um die 200 bis 800 Künstler teil. Die Besucherzahlen gehen hier meist in den fünfstelligen Bereich. Abgesehen von der Nachfrage nach Tätowierungen an sich besteht hier natürlich auch ein enormer Bedarf an Tattoo-Zubehör. Maschinen, Nadeln, Farben und Hygieneartikel, um nur einige Posten auflisten.
Moritz Sageder ist General Sales Manager bei einem der größten Tattoo-Farben-Hersteller der Welt. Im Jahr besucht er rund 25 Tattoo-Messen weltweit, von Vietnam bis Hawaii, von Los Angeles über Paris bis Peking. Er kennt die Szene und die Zahlen: „Was einst das Handwerk von Randgruppen war, hat heute Rockstar-Status erreicht. Man schaue sich nur mal die Preise mancher Artists für ihre Arbeiten an. Diese sind übrigens durchaus gerechtfertigt. Die hochentwickelten Maschinen von heute kosten schon mal zwischen 300 und 1000 Euro. Die Verbrauchsartikel miteinberechnet ergibt dies ziemlich hohe Ausgaben. Diese wirken sich natürlich auf das Endprodukt und in Folge auch auf den Kunden aus“, erzählt der gebürtige Gmundner.
Aber auch an jenen außerhalb der Szene ist das lukrative Geschäft mit dem süßen Schmerz nicht vorübergezogen. Die Zulieferbranche für Tattoo-Zubehör ist ein Millionengeschäft. So groß, dass bereits ganze Investorengruppen in diesen Bereich einzahlen. Erst kürzlich, erzählt Sageder, habe eine Bostoner Investorengruppe über 100 Millionen Dollar in die Branche investiert, verteilt auf die verschiedenen Geschäftszweige.
Warum so viele Künstler den Weg des Tätowierers einschlagen, ist für den Sales Manager eine logische Schlussfolgerung: „Ein Maler zum Beispiel investiert Tage oder Monate in ein Gemälde. Damit die investierte Zeit sich auch bezahlt macht, muss der Preis seiner Kunst dementsprechend hoch sein. Die Zielgruppe minimiert sich hierdurch automatisch. Nur wenige geben schon mal mehrere 1000 Euro für Kunst aus. Beim Tätowieren ist das anders. Hier findet der Entstehungsprozess am lebenden Objekt statt. Die Dienstleistung kann also sofort und pro Stunde abgegolten werden. Und das mit weitaus weniger Zeitaufwand. Zumindest dann, wenn es sich nur um ein kleines Tattoo handelt.“
Autsch. Das nimmt dem ganzen Thema irgendwie seinen spirituellen und rebellischen Touch. Aber gut, alles entwickelt sich irgendwie weiter. Da ist auch die Tätowierung nicht ausgeschlossen. Klar – Die Vorstellung, Tattoos und das Drumherum als florierenden Wirtschaftszweig zu betrachten, ist bei Weitem nicht so romantisch wie der Impetus, mit der Körperkunst ein Zeichen setzen zu wollen. Für mich ist der eigentliche Akt des Tätowierens immer eine kleine Zeitreise. In eine Zeit, wo neben Selfies und Likes noch andere Dinge wichtig waren. Wo die Menschheit noch die Eier hatte, ihren Standpunkt zu vertreten. Sei es mit Molotow-Cocktails oder mit Blumen im Haar. Ich würde sogar behaupten, dass ich dabei entspannen und abschalten kann, wenn ich tätowiert werde. Der damit verbundene Schmerz – JA, es tut weh – ist mitunter das Wichtigste an der ganzen Sache. Nicht, weil ich masochistisch veranlagt bin, wie mancher Psychologe unter den Lesern vielleicht vermuten würde, sondern weil dieser Schmerz mich wissen lässt, das ich am Leben bin. Ich habe zwar noch nie meditiert, aber so stelle ich mir Mediation vor. Sich auf eine Stelle in seinem Innersten konzentrieren – in diesem Fall die Schmerzen – und einfach mal loslassen und annehmen.
An diesem Punkt angelangt, tut’s dann auch gar nicht mehr so sehr weh.