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Evolution – Warum existieren Männer?

Manfred Sax

Sind Sie eine Person mit Vagina? Dann klicken Sie bitte weiter. Diese Kolumne wendet sich an Personen mit Y-Chromosom.

Text: Manfred Sax / Foto: Getty Images, Illustration: Verlag

Previously, in einem Altersheim um die Ecke: Es ist Mittag, und im Speisesaal ist ein ziemliches Hin und Her, also relativ gesehen, man muss sich das in Zeitlupe vorstellen. Eine rüstige Mittachtzigerin ist Richtung Tisch unterwegs und hat ihn fast erreicht, als sich jemand aus einem Rollstuhl lehnt und sie mit „Hau di auffi auf mein Beidl“ begrüßt. Vermutlich ein Kompliment. Hier ist wohl eine Entwarnung fällig: Ja, Madam, das ist eine Frechheit. Und dass der Mann im Rollstuhl 92 Jahre alt ist, entschuldigt ihn nicht. Nur hat er ein Syndrom, erklärt eine Pflegerin, so was wie Tourette, de facto harmlos. Bisweilen habe der Oldie auch gute Tage, dann wird er poetisch („Trari, trara, da Pfoarra vöglt aa.“) Und überhaupt, die mit „Hau di auffi“ Angesprochene habe ihn souverän im Griff („der oide Off“). Also bitte: nicht gleich am Netzwerk ausstellen, auch wenn er ein Mann ist.

Es ist dieser Tage heikel, eine Kulisse zur Story zu skizzieren. Das Magazin ist erst in zehn Tagen am Markt, da kann alles Mögliche passiert sein, der nächste Missbrauch, ein anderes Ibiza und so weiter – kurz: die nächste digitale Bassena, live am Netzwerk. Keine Ahnung, welcher Shitstorm vor zwei Wochen lief. Sicher ist nur, dass im Shit ein Mann steckte.

Zum Zeitpunkt des Schreibens, also jetzt, wird ein heimischer „Verleger“ herumgereicht, so die mediale Sprachregelung; es ist im Journalismus nicht Sitte, über einen Berufskollegen herzuziehen, der am längeren Ast sitzt. Aber am Netzwerk steht er da wie eine Statue, über der die Tauben kreisen, und alle haben Durchfall. Mieser Lesestoff. Qualitativ löchrig. Was wohl am Werkzeug liegt. Jeder Netzwerker weiß, dass es letztlich egal ist, ob man richtig liegt; was zählt, ist, der Erste zu sein. Den Rest besorgt die Blase. Die lässt Dampf ab. Mir persönlich sind die aufgestauten Emotionen ein Rätsel – wozu gibt es Marihuana? ­Außerdem unterfordert das Niveau: Zumeist liegt der Kern eines Problems nicht im geschlechtlichen, sondern im gesellschaftlichen Bereich. Aber wer braucht Lösungen, wenn der Schuldige gefunden ist? Das Y-Chromosom. Ich hege für den Verleger null Sympathie. Aber hey, ich hab auch das ­Y-Chromosom. Wenn aus dieser Gemeinsamkeit am Netzwerk ein Zusammenhang gebastelt wird, wird es ärgerlich. Da hilft nur positiver Spin: Ich kenne einen seiner Adjutanten aus gemeinsamer Studentenzeit. Und ich denke, wenn sich ein gerechtigkeitsfanatischer Rebell in einen befangenen Jasager verwandeln kann, dann müsste auch der umgekehrte Fall möglich sein.

Eine Frage: Schon mal deine Männlichkeit in Frage gestellt? Die Chancen, dass dem derzeit so ist, stehen laut Wissenschaft großartig. Gefühle kommen und gehen, Gedanken ändern sich mit dem Zeitgeist des Moments, aber es gibt Nebenwirkungen, die brauchen lange Frist. In den vergangenen vierzig Jahren, meldet die Biologie, hat sich die durchschnittliche Spermienzahl des Mannes halbiert. Alle möglichen Ursachen werden dafür aufgeführt, von Umweltschmutz bis hin zu Lifestylefaktoren, verbunden mit dem Rat, doch auf alles zu verzichten, was das Leben erträglich macht (Rauchen, Trinken, Schnitzel etc.), aber es ist legitim, auch die männliche Identität in Frage zu stellen. Warum existieren Männer? Hat Masku­linität überhaupt (noch) Sinn? Das Y-Chromosom steht doch nur im Dauerregen! Etwas Nachhilfe bei den Evolutionisten ist informativ, wenn auch nicht tröstlich. Dank Darwin ist manifest, dass der Mensch Triebsklave von Selbsterhaltung und Fortpflanzung ist. ­Allerdings gibt die Existenz der Männer der Wissenschaft Rätsel auf. Sexuelle Reproduktion ist ineffizient und kostspielig. Aber die große Mehrheit der Mehrzeller befleißigt sich genau dieser Methode, um die Gene in der nächsten Generation zu verankern. Für den großen Evolutionisten John Maynard Smith war Sex unerklärlich, er sprach von „zweifachen Kosten der Männer“. Erstens sei es unverständlich, dass Femina die Hälfte ihrer Gene wegwerfe, um sich die Gene eines Fremden aufzubürden, sie könnte sich theoretisch ja klonen. Zweitens seien die Männer vieler Spezies für nichts zu gebrauchen, sie sitzen nur rum und werden auf Kosten des Weibes fett und prügeln sich mit anderen Männern. Aber genau im Letzteren stecke eine Antwort, meinen Forscher der Uni East Anglia, UK.(1) Sexuelle Selektion spiele eine Schlüsselrolle bei der Weiterentwicklung von Organismen. Einzellige Mikroben können tausend Jahre alt werden, aber mit der ersten Zellteilung begann ein Prozess, dynamisiert durch den Wettbewerb unter Männern, der weibliche Organismen immer komplexer machte, also perfekter. Die Lebenszeit hat sich verkürzt, die Lebensqualität ist dramatisch gestiegen. Evolutionär gesehen ist es offenbar die Funktion des Mannes, die Frau zu ermächtigen. Das ist logisch. Wenn du zurückblickst und eine absolute Unvergesslichkeit zwischen deine Ohren gerät, ist immer eine Frau Protagonist. Selbst der Umstand, dass sie jetzt gefühlt wie eine Gottesanbeterin daherkommt, macht dich nicht stutzig. Na gut, sie beißt dir nach dem Sex den Kopf ab, so what? Bekanntlich legt ihr geköpfter Mann in posthumer Ekstase noch einen Tanz hin, ehe er kollabiert. Er hatte den Fuck of the Century. Wozu weiterleben?

Mann ist da, um Frau anzubeten, nur ist da eben auch Sex. Die Frau muss nur sein, um sexuell zu sein(2), der Mann hat horizontale Probleme. Es ist ironischerweise nicht auszuschließen, dass patriarchalische Strukturen des Mannes Wege sind, im Bewusstsein seiner Minderwertigkeit seine Bedürfnisse abzusichern.(3) Er hat verdrängt, dass es auch im Sex nicht um ihn geht, sondern um sie. Denn so funktioniert Heterosex. Der Mann leidet unter Empathieverlust, hat kommunikative Defizite.

Natürlich gibt es sie, Madam, es gibt empathische Y-Chromosom-Träger, nur sind die Missverständnisse erheblich. Unlängst wurde der englische Schauspieler Idris Elba, unter anderem ein Sexsymbol, in einer Talkshow gefragt, warum er kaum je Sexszenen hat. Na ja, meinte er, er hatte sehr wohl mal Filmsex. Mit Kate Winslet. Sie lag bereits nackt im Bett, als er sie bat, doch Socken anzuziehen, er hätte ein „Foot Thing“. Das habe sie aufgebracht, hält er ihre Füße für hässlich? Selbstverständlich nicht, ganz im Gegenteil, sagte er, er sei nur leider ein Fußfetischist und hatte Angst, sie mit einer Erektion zu belästigen. Mister Elba wollte nur ein Gentleman sein. Wie ­Männer eben auch sind.

(1) IFLscience: https://www.iflscience.com/environment/why-do-men-exist/
(2) Camille Paglia: Sexual Personae, Yale Uni Press 1990.
(3) https://lithub.com/do-we-even-need-men/