MYSTERY

VON ALLEN GUTEN GEISTERN VERLASSEN (1993)

Christian Jandrisits

Über 40 Jahre WIENER Mystery, Teil 2: Mordversuch an einem Baby. Die Tageszeitungen berichteten von „Mysteriösem Kult“ und „Menschenopfer“. Grassiert wirklich in Österreich der „religiöse Wahn“? Einer der’s wissen muss, ist der keltische Druide Raborne. Peter Seipel (Text) und Gerhard Aba (Fotos) trafen ihn. Exklusiv. (WIENER Nr. 152/Jänner 1993/ÖS 40,-/VON ALLEN GUTEN GEISTERN VERLASSEN)

DIE WAHNSINNSTAT

Anton Raborne Urszovics, Oberhaupt der europäischen Druiden-Gemeinschaft, ist den Tränen nahe. ,,Das ist schlimmer als der plötzliche Tod eines Freundes.“ Raborne kann die Wahnsinnstat seines Hofnarren bis heute nicht begreifen.

Stefan Degiorgio, Spitzname „Sigi“, versuchte im Eifersuchtswahn, seinen Sohn zu ermorden. Kurz danach bringt er religiöse Motive vor. Bei einem Fototermin mit dem Wiener, vor Monate vor der Wahnsinnstat, spielte der „Hofnarr“ einen jüdischen Kabbalisten.


Am 8. November 1991 sticht der 26jähige Stefan Degiorgio mit einem Butterflymesser zweimal auf seinen acht Monate alten Sohn ein. Wenig später stellt er sich der Polizei. Der Bub überlebt wie durch ein Wunder. Die Tagespresse schlachtet die Geschichte als „Mordversuch mit Sektenhintergrund“ aus und deutet die Tatsache, daß der Täter das Baby auf einem Steinhaufen aufgebahrt hatte, als „mysteriösen Druiden-Kult“.


„In Wahrheit war’s eine Eifersuchtstragödie, wie sie in Österreich schon beinahe täglich vorkommt“ versucht Raborne die Sache ins rechte Licht zu rücken. Das keltische Kulturprojekt, dem er selbst als Nachfahre eines Gotenkönigs vorstehe, habe damit überhaupt nichts zu tun.
Die Aufregung des Chef-Druiden ist verständlich. Besitzt die Gemeinschaft doch in der Nähe der Schallaburg bei Melk zwei alte Bauernhäuser, die von Künstlern aus aller Welt im gotischen Stil restauriert wurden. Raborne befürchtet nun, daß Degiorgios unfaßbare Tat sein von Subventionen abhängiges Zukunftsprojekt gefährdet: die Errichtung eines originalgetreuen mittelalterlichen Dorfes.
„Der Stefan hat uns jahrelang mit seinen Darstellungen als Hofnarr köstlich unterhalten.

Wenn er überhaupt einen religiösen Wahn gehabt hat, dann war’s ein katholischer“, sagt der Druide. Stefan sei tiefreligiös erzogen worden. Dann seien ihm die Bücher des Kirchenkritikers Karlheinz Deschner in die Hände gefallen.


Zweifel an der katholischen Lehre kamen auf, gemischt mit Angst vor Dämonen, die ein offenbar dem „Engelwerk“ nahestehender Pfarrer mit seiner Predigt in Stefan auslöste. Halb verdaute und mißverstandene Fragmente aus der Druiden-Lehre hätten Stefan dann den Rest gegeben. ,,Er muß wohl bei Cäsar oder Tacitus gelesen haben, daß keltische Druiden Kinderopfer darbringen. Das ist ein völliger Blödsinn!“ ist Raborne fassungslos. Stefan sei häufig aggressiv und unberechenbar gewesen, einmal habe er den Sohn des Druiden mit einer Hacke bedroht. Im September des Vorjahres warf Raborne seinen Hofnarren schließlich hinaus. ,,Er hat die Leut‘ schon zu narrisch gemacht.“
Ein paar Tage vor der Wahnsinnstat zeigte der Druide seinen ehemaligen ,,Spaßmacher“ bei der Gendarmerie an. Stefan hatte in einer rasenden Eifersuchtsszene seine Frau Ingrun und Sohn Arno be-droht: ,,Ich bring‘ euch alle um!“ Ingrun suchte beim Druiden Hilfe. Er erzählt: ,,Die Beamten haben zwar mit der Ingrun gesprochen, aber nach dem Motto, ,Da muß erst was passieren, vorher können wir nichts tun‘, die Sache wieder vergessen.“ Ein paar Tage später lag der kleine Arno mit zwei tiefen Stichwunden im Rücken auf einem Steinhaufen.

Anton Raborne Urszovics, Chef-Druide des keltischen Kulturprojekts in Niederösterreich, ist über die Wahnslnnstat seines Spaßmachers entsetzt. ,,Degiorgio hatte einen katholischen Religionswahn“, sagt der Nachfahre eines Gotenkönigs.


Ob Stefan Degiorgio tatsächlich an einer Geisteskrankheit leidet, müssen die Gerichtspsychiater feststellen. Daß er – wie die Tageszeitungen andeuteten – unter dem Einfluß des Druiden auf blutrünstige Gedanken gekommen sei, will sogar Raimund Breiteneder, der Pfarrer der Nachbarge-meinde Loosdorf, nicht glauben: ,,Die sind im Grunde harmlos. Sie machen nur ein bißl Theater, gehen auf Stelzen herum und verkleiden sich gerne. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sich davon jemand psy-chisch einengen läßt.“


Daß jemand aus religiösen Motiven „durchdrehen“ kann, mußte er allerdings in seiner eigenen Gemeinde schon einmal miterleben. Ein 17jähriges, katholisch tiefreligiöses Mädchen war vor ein paar Jahren ihrem Freund in den Selbstmord gefolgt. „Am Samstag ist sie noch zu mir in die Kirche gekommen. Am Sonntag war sie tot. Sie war überzeugt davon, ihren Geliebten im Jenseits wiederzutreffen“, ist der Pfarrer fassungslos.


DER RELIGIÖSE WAHN

In der Praxis der Wiener Psychiaterin Sigrun Roßmanith sind Fälle von religiösem Wahn oder „ekklesiogener Neurose“ keine Seltenheit. ,,Offenbar sind wir wieder auf dem Weg ins Mittelalter“, stellt sie schmunzelnd fest, um gleich darauf ernst fortzufahren: ,,Wir erleben eine Zeit des totalen Wertewandels. Viele Menschen sind frustriert und auf der Suche nach einer neuen Ordnung. Die Sekten haben derzeit mehr Zulauf als je zuvor.“ Eine Beobachtung, die von der Wiener Psychologie-professorin Brigitte Rollett mit aktuellen harten Fakten untermauert wird. Ihre in ganz Österreich repräsentative Umfrage ergab, daß in Wien 11,2 Prozent, in Niederösterreich sogar 16,1 Prozent aller Jugendlichen akut gefährdet sind, einer der meist streng hierarchisch organisierten Sekten auf den Leim zu gehen. ,,Die Leute sind viel weniger von der Steinzeit weg, als sie glauben“, sagt Rollett. Unser Bedürfnis, an höhere Mächte zu glauben, könne unser streng rationales Weltbild heute nicht befriedigen. ,,Wir kehren die Natur bei der Vordertür hinaus, nur kommt sie dann bei der Hintertür wieder rein!“


Nicht selten führt die totale Hingabe an die raffiniert konstruierte Pseudospiritualität mancher Sekten zu Schuldgefühlen, zur Selbstaufgabe und zu religiösem Wahn. Unverdaute religiöse Inhalte können wie im Extremfall Stefan Degiorgios labile Menschen aggressiv machen. Oder, was häufiger vorkommt, in den Selbstmord treiben. Sigrun Roßmanith erzählt von einer jungen Patientin, die aus dem Fenster gesprungen war, um „das Böse“ in sich zu vernichten. Als sie danach im Spital wieder aufwachte, glaubte sie, im Himmel zu sein. Sie hielt den Arzt für ihren Schutzengel und hatte das Gefühl, ganz mit Gott verbunden zu sein.

Österreichs schärfster Anti-Sekten-Kämpfer heißt Friedrich Griess. Seine Tochter Wiltrud fiel den ̒Norwegern“ In die Hände. ,,Seither leidet sie unter einem religiösen Wahn“, Ist Vater Griess entsetzt. Mit Briefen und Vorträgen nimmt er die „Rattenfänger“ Ins Kreuzfeuer.


Friedrich Griess, Systemberater einer Computerfirma, mußte die Auswirkungen religiösen Wahns am eigenen Leib erfahren. Als seine 19jährige Tochter Wiltrud der „Norweger“-Sekte beigetreten war, brach sie zu Hause immer wieder religiöse Diskussionen vom Zaun. Widersprach ihr Vater Wiltruds eigenwilligen Bibelauslegungen, mußte er dafür Schläge und Fußtritte einstecken. ,,Die Sekte hat sie krank gemacht“,· ist Friedrich Griess überzeugt. ,,Ich hatte immer schon eine endogene Depression“, meint dagegen Wiltrud, die heute 30 Jahre alt und immer noch Mitglied der „Norweger“ ist. ,,Die Gemeinschaft hat mich erst auf meine Krankheit aufmerksam gemacht und mir geholfen, ein normales Leben zu führen.“ Der Vater lacht bitter: „Wiltrud war nie krank. Jetzt führt sie ein Leben, in dem Zeitschriften, Fernsehen und Musikhören verboten sind, in dem der Mensch kein anderes Ziel hat, als seine sündige Natur zu bekämpfen. Ein Leben in unbedingtem Gehorsam gegenüber den ,Wegleitern‘ in der Sekte und in ständiger Angst vor der ewigen Verdammnis.“

Faksimile WIENER Nr. 152/Jänner 1993/ÖS 40,-

Sigrun Roßmanith beschreibt die immer gleichen Symptome eines religiösen Wahns: ,,Die Menschen erleben plötzliche Bedrohungsgefühle, gegen die sie nichts machen können. Sie fühlen sich schuldig und projizieren ihre eigenen Aggressionen nach außen – auf etwas allmächtig Böses, das auf sie zukommt. Das können Dämonen oder der Teufel sein.“


Psychopharmaka können die bösen inneren Stimmen, die von den Patienten als Befehle von außen erlebt werden, vertreiben. Ohne begleitende Psychotherapie ist ihr Einsatz aber unverantwortlich. ,,Es dauert oft Jahre, um das nötige Vertrauens eines Psychosekranken zu gewinnen. Erst dann kann man ihm helfen, einen neuen Lebensinhalt zu finden“, sagt Roßmanith.


WEICHE, SATAN!

Während Psychiater die Angst vor Dämonen gerne mit mangelndem Urvertrauen des Kleinkindes zu seinen Eltern erklären, verstehen die Vertreter der katholischen Kirche das Phänomen der „Besessenheit“ durchaus wörtlich. ,,An der Existenz des Teufels ist nicht zu zweifeln. Der Einfluß des Bösen begegnet einem ja schon, wenn man nur ein bißl spazierengeht“, sagt Rudolf Trpin, Generalvikar der Erzdiözese Wien. ,,Der Exorzismus ist grundsätzlich nicht abgeschafft“, gibt er zu, das „Rituale Romanum“, ein Ritenverzeichnis zur Teufelsaustreibung, sei noch heute in Gebrauch.

„An der Existenz des Teufels Ist nicht zu zweifeln“, sagt Rudolf Trpin, Generalvikar der Erzdiözese Wien. Noch heute verwenden katholische Priester ein Ritenverzeichnis des Exorzismus, um Besessene vom Satan zu befreien. In dem schmalen Brevier Apage Satana“, das im Genfer Ariston-Verlag erschienen ist, heißt es: ,,Höre also und fürchte, Satan, du Feind des Glaubens, du Feind des Menschengeschlechtes, du Wurzel der Übel, du Zündstoff aller Laster. Weiche also, Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.“

Zitat aus dem schmalen Brevier, in dem genaue Handlungsanweisungen für den Exorzisten stehen:
Alsdann beschütze man sich selbst und den Besessenen mit dem Kreuzzeichen, lege den äußeren Teil der Stola um dessen Hals und, nachdem man die rechte Hand auf dessen Haupt gelegt hat, spreche man fest und mit großem Vertrauen das Folgende:


Seht das Kreuz des Herrn, flieht, ihr feindlichen Mächte … Ich beschwöre dich, du überaus unreiner Geist; jeder Angriff feindlicher Heerscharen.. jede Gaukelei möge im Namen unseres Herrn Jesu Christus von diesem Geschöpf Gottes entfliehen …


,,Früher wurde für alle Geisteskrankheiten der Teufel verantwortlich gemacht. Heute ist’s umgekehrt. Aber es könnte durchaus auch heute noch unter den Kranken Besessene geben“, sagt Trpin und warnt: ,,Ein Priester muß sich da aber ganz genau vergewissern.“ Sichere Anzeichen für Besessenheit seien: ,,Menschen sprechen in einer Sprache, die sie nie gelernt haben, sprechen mit fremder Stimme und wissen Dinge, die sie einfach nicht wissen können. Da merkt man, daß eine höhere Intelligenz im Spiel sein muß.··
Der Teufel könne nach Ansicht des Generalvikars in jeden einfahren. Auch durchaus anständige Menschen seien davor nicht gefeit.


Für Sadhu, den Tempelpräsidenten der Wiener Hare-Krishna-Vereinigung, ist dämonische Besessenheit ebenfalls ein durchaus ernst zu nehmendes Thema. ,, Viele Menschen sind von Geistern begleitet. Es sind feinstoffliche Wesen von Verstorbenen, die ihr Karma, also ihre vom Schicksal bestimmte Lebensspanne, nicht erfüllt haben.“

Sadhu vertreibt Geister mit Hilfe indischer Veden-Gesänge. Der Tempelpräsident der Wiener Hare-Krishna-Vereinigung ist davon überzeugt, daß viel mehr Menschen, als wir glauben, von Geistern begleitet sind.


Zum Beispiel Selbstmörder. Die restliche Zeit bis zu ihrem vorbestimmten natürlichen Tod müßten sie als Geister verbringen, die aber die gleichen sinnlichen Bedürfnisse hätten wie die Lebenden. ,,Diese Geister sind unglücklich über den Verlust ihres Körpers und können in einen Menschen fahren, sobald dieser eine Schwäche zeigt.“
Sadhu verrät uns auch einen Tip, wie man vermeiden kann Geister auf sich aufmerksam zu machen: ,,In der Dämmerung und um Mitternacht sollte man weder Haare noch Fingernägel schneiden. Diese menschlichen ,Abfälle‘ können Geister anziehen!“ ■